Überbleibsel

Es ist ja so: Fängt ein Text mit „Es ist ja so“ an, dann erwartet man erst mal eine Ansage, etwas Konkretes. Tja.

Und ganz ähnlich ist das mit dem neuen Jahr und den ganzen Vorhaben, die man vor hat: Erst mal den Kater auskurieren, ausschlafen, halbwegs wieder in den Alltag zurückfinden, der genau der ist, den man dachte, mit dem vergangenen Jahr hinter sich gelassen zu haben. Tja.

Eigentlich schleppt man Jahr um Jahr mehr Ballast mit sich rum, und deshalb wird es Zeit, einiges davon loszuwerden. Neuer Ansatz, zwei Fliegen/eine Klappe: Eine Linkliste, willkürlich kombiniert mit den Analogfoto-Überbleibseln des letzten Jahres. Der Film war schon so lange im Apparat, dass sogar noch ein Gruß von der Hamburger Dachterasse drauf ist. Dabei ist diese Reise schon länger her, als noch Zeit vergeht bis zur nächsten, wenn alles klappt. Egal, Katzencontent:

Katzenstatue sitzend, ihr wurde ein Hut aufgesetzt

Beginnen wir mal ausnahmsweise am Anfang: Dort standen bei vielen westdeutsch sozialisierten Menschen oft drei Fragezeichen. Also: Die drei Fragezeichen. Sowas gab es bei uns im Osten natürlich nicht, da gab es nur Ausrufezeichen. Und im Satz, den sie beendeten, stand meist irgendwas von Sozialismus und Sieg und Solidarität. Trotzdem würde ich, hätte ich Kinder, wohl die gleiche Wahl treffen, die bei Perspektiefe mit all ihren Fährnissen anschaulich geschildert wird (& was für ein schöner Titel!). Vor allem, wenn ich so höre, was die Kinder in meinem Umfeld so hören. Meist geht es um reiche Mädchen und Pferde. Immerhin kann einer der Kleinen noch den halben Tag (wortwörtlich) total begeistert mit dem Mobiltelefon rumlaufen und die Egon-Olsen-Titelmelodie kreischend mitbrüllen.

Auf Die drei Fragezeichen stiess ich viel später und aus zweiter Hand, sozusagen: Diejenigen, die damit gross wurden, frönten ihrer Begeisterung für die Kinderhörspielkassetten ja grade auch als Studenten ausgiebig. Das machte sich eine Theatertruppe aus Wuppertal zunutze und füllte die Hallen quer durch die Republik. Selbst mit fehlendem Hintergrundwissen und der falschen Sozialisation war das stellenweise ganz unterhaltsam. Doch auch – wo wir schon mal beim Thema sind – aus ganz anderen, noch seltsameren Jugenderinnerungen mit zweifelhaftem kulturellen Background lässt sich ein krudes Theaterprojekt machen: Katholische Sexualaufklärung aus den Siebzigern? Warum nicht, ab auf die Bühne! Dorthin gehört auch Gregor Keuschnigs Schmierenkomödie Zapfenstreich, die es bisher nur in Textform gibt.

Weisse Wände, in einer Ecke hängt unter der Decke eine Maske, im Vordergrund ist ein Rehgeweihzack zu erkennen, darunter ein Aufkleber "Old Europe"

Ein harter Schnitt, da müssen wir jetzt durch: Bei den Nachdenkseiten wurde heute eine Leserin mit der Anmerkung zitiert: Der Wahlkampf 2017 wird eine Braune Schlacht. Mir graut es jetzt schon! Stimmt wohl, aber wer braucht eigentlich die AfD und Pegida, wenn Seehofer schon vor 3 Jahren „bis zur letzten Patrone“ gegen „Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme“ kämpfen wollte? Zauberlehrling usw.

Zur tagesaktuellen Situation enthalte ich mich, alles viel zu unklar, auch und vor allem in meinem Kopf, nur eins noch: Das Zusammentreffen unschöner Ereignisse kann zu einem unerwarteten Ausgang führen, sprich: Die Gunst der Stunde, oder der böse Zwilling von Kairos sprechen gerade vielleicht für die Islamhasser. Vielleicht aber auch im Gegenteil – ich bin nur etwas skeptisch, weil ich kürzlich die arte-Doku über Ishiwara Kanji gesehen habe: Eine von der Mehrheit nicht gewollte Militäroperation nationalistisch-konservativer Offiziere glückt dummerweise und macht aus der liberalen, modernen Demokratie der 20er Jahre einen von Nationalismus besoffenen Hitlerverbündeten. Platt ausgedrückt, aber so schnell kann es gehen.

Natürlich reicht es zur Erklärung aktuellen Geschehens nicht aus, nur in alte Bücher zu schauen. Aber es gibt da durchaus interessante, hochaktuelle Stellen, bei Foucault zum Beispiel, wie auf haftgrund zu lesen ist. Gemischt mit einigen der unzähligen Alltagsberichte – Keiner kommt hier lebend raus, ohne Zweifel – führt das unweigerlich zu gezielter Ignoranz. Manchmal reicht es aber auch schon, sich nur eine Statistik mal ganz genau durch den Kopf gehen zu lassen. Oder ein Taufregister zu lesen, das inzwischen wahrscheinlich schon jeder kennt, aber es passt so gut zu den nächsten beiden Bildern:

Graffiti-Schriftzug an einer Hauswand: Ein Kiez wehrt sich

Brandmauer eines Wohnhauses, mit großen Schriftzügen plakatiert zu Mieterhöhungen und Modernisierung

Berlin also, und die alten, leidigen Berlin-Probleme. Da es hier überraschend ruhig ist (die für spätestens zum 31.12. erwartete Modernisierungsankündigung lässt erstaunlicherweise noch auf sich warten. Wir reiben uns die Hände, nicht nur, weil die Kohlen langsam knapp werden…), ein paar nützliche Hinweise zum Berliner Winter von katjaberlin. Eine der blödesten Sachen am Winter in Berlin ist der November. Grübeln, Gedanken nachhängen, noch mehr Gedanken nachhängen und fotografieren. So ähnlich ging es mir auch, nur schaffte ich es selten bis an die Tastatur. Dann kam der Dezember und mit ihm, wenn man weihnachtsbedingt in die Heimat der Kindheit und Jugend fährt wie Thorge, auch die Erinnerungen. Auf melancholie modeste sind es die an den sonntäglichen Esstisch der Großeltern – und was dieser (nicht) mit Neukölln zu tun hat. Apropos Essen:

Street Art paste up eines kleinen Mädchens, das kniend eine Meise füttert, an einer Hauswand direkt neben einem Restauranteingang

Gleich nebenan – aufgenommen wurde dieses Bild im Herzen von SO36 – befindet sich ein Imbiss namens Curry 61. Während das aus Funk&Fernsehen bekannte Curry 36 im tiefsten Kreuzberg 61 liegt. Muss man nicht verstehen, dieses Berlin (es hat wohl mit der Hausnummer zu tun, aber psst!). Genausowenig wie die immer noch existierende Schlange vor dem Gemüsekebap. Doch ich schweife ab, eigentlich sollte es jetzt um schöne & gute Texte gehen.

Erstmal die Theorie: In der NZZ schreibt Matthias Politycki darüber, was ihn zum Schreiben brachte. Aléa Torik setzt sich mit der zweifelhaften Notwendigkeit von Handlung auseinander und Jutta Reichelt mit der Leserperspektive. Ganz ähnlich, nur etwas weiter gesteigert (Lesen vor Publikum), in der angenehmen Reihe „Vielleicht später“ vom Suhrkamp-Blog: Bad Segeberg von Detlef Kuhlbrodt. Zum Schluss, aber immerhin, sei noch auf die Lyrik-Betrachtungen bei kleinedrei hingewiesen. Kommt ja sowieso meist zu kurz, die Lyrik.

Als Finale einige Praxisbeispiele, sozusagen. Tikerscherk lässt ungeschaffenes Licht strahlen, in Lencois, wie es der Kiezschreiber beschreibt, strahlt die Sonne etwas trostlos auf einen Säufer, Monsieur Manie beschreibt in mehreren Teilen Die Probe und Thibaud sagt etwas über eine Musikerin. Auch in diesem (einen von vielen, wie bei allen anderen Erwähnten und vielen Nichterwähnten ebenso) schönen Text von asal spielt Musik eine wichtige Rolle. Asallime, soviel Resumee muss sein, war neben Mikis Wesensbitters Mauerfall-Tagebuch meine Blog-Entdeckung des letzten Jahres.

Falls jetzt jemand angesichts des Jahresbeginns einen Ausblick erwartet hat: Da verweise ich auf Ahne, oder auf dieses Bild:

Blick über die Bahntrassen Richtung Potsdamer Platz, im Hintergrund der Fernsehturm

5 Replies to “Überbleibsel”

  1. Danke dir, ganz aufrichtig, ich freue mich. Wie schön, dass wir uns gegenseitig entdeckt haben, tikerscherk sei Dank. Ein breites Spektrum, Geschichte und Theorie, Gedanken und Gefühle, mal schauen, was ich entdecke. Über meinen eigenen Text bin ich schon hinweg, außer Googoosh würde ich die anderen am liebsten wieder löschen. So geht das mit dem Schreiben, du kennst es. Dennoch hoffe ich, dass du nicht aufhörst. Denn es ist ja so, auch einen Satz oder einen Kommentar kann man so beenden, irgendwie.

  2. Danke für die Links- wie immer eine schöne Rundschau!
    Und über das Verlinken freue ich mich auch sehr. Merci bien!

    Gegen den Ballast, den ich Jahr für Jahr ansammele hilft mir nur eins: aussortieren. Das gilt für alles, was mich bedrückt oder was zu schwer wird.
    „Auf die Rutsche setzen“ nannte es mal ein Therapeut. Ein guter Rat, finde ich.

  3. Überbleibsel?
    Ja: Überbleibsel aus dem Kalten Krieg!
    Frei nach Schirrmacher zum kalten Krieg, der weiter in uns wohnt und uns noch immer verdirbt, von innen heraus, siehe:
    „Ego: Das Spiel des Lebens“ / http://de.wikipedia.org/wiki/Ego:_Das_Spiel_des_Lebens
    mit:
    „Die Logik des Kalten Krieges ist zur Logik der Zivilgesellschaft geworden und korrumpiert sie. Die Egoismus-Maschinen spielen das große Spiel längst ohne den Menschen. Der Verlierer steht von vornherein fest: wir alle.“
    Und:
    „Was erlauben wir, […] welches Spiel wollen wir spielen? Wollen wir ein uneigentliches Spiel von verdeckten Schachzügen, von heimlichem, indirekten Reden in unseren Gesellschaften, in unseren Demokratien, oder wollen wir etwas anderes? Honorieren wir offenes Spiel mit dem Anderen?“

    Honorierst du offenes Spiel mit „dem Anderen“? Oder spielst du selber weiter „kalter Krieg“ gegen Spaziergänger, die eventuell ähnliches wollen, wie du – nur du wirst es nie erfahren, weil du dich auf fastfood der „Leid-Medien“ verläßt, die alle aus dem gleichen Topf der Mutter-Agentur mit der gleichen Kelle auf ähnliche Teller schöpfen, unbesehen davon, ob geprüft, verdeutet oder bereits an der erstenQuelle manipuliert – und alle so, wie Schirrmacher das beschreibt …
    Du machst das hier nun mit, hätte ich nicht angenommen.
    Da stellt sich Grönemeyer & Friends hin und singen gegen das Bild der Medien an, das diese ihnen untergeschoben haben, nicht jedoch gegen Pegida, und merken es nicht einmal, finden nicht einen einzigen Punkt, der konkret aus den Dresdener Pegida-Forderungen nicht auch der ihre sein könnte, wie peinlich – und wie werbewirksam, eben mediengerecht im Stile des Kalten Krieges, statt lustig aufeinander zu zu gehen, einzuladen und zu schauen, was passiert.
    Nein, mit der Verbohrtheit von vorgestern, den Rabatten des Kalten Krieges, wie Girlanden und Adelszeichen der „kalten Kriecherei“ vor die Stirn des Denkapparates gehängt, damit werden und können wir nicht das erreichen, was not tut, was eint und umsorgt, Zweifel beräumt, die ertforderliche Offenheit in Permanenz produziert.
    Ausschließeritis ist die Krankheit der denkfaulen politisch ungeeigneten weil betonierten Sozial-Analphabeten, die sich ernmsthaft in diesem Zustand als „progressiv“ empfinden und den Schirm ihres bascap zu tief ins Gesicht gezogen haben, so daß sie daran knabbern können ohne zu sehen, wohin sie stolpern.
    Überbleibsel eben, wieder oder endlich mal auszusortieren, Offenheit provozieren statt übrig bleiben.
    Ob ein neues „Mauertagebuch“ anzulegen ist?
    Welches Spiel wollen wir spielen, honorieren wir offenes Spiel mit dem Licht des Anderen?

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