Fragmentarische Korrespondenz, weich und divers (III)

Über Inspiration, das Schreiben, das (Vor)Lesen, Bücher, Filme, Musik und den ganzen Rest: Von Kriegen und Frieden, und auch vom niemals zufrieden oder je ganz fertig genug sein. Kann Spuren von Drogen enthalten.

Ein einseitiger Briefroman in Fortsetzungen

(2002-2004)

(Zur Vorrede und Teil I hier entlang.)
 

Datum: [2002]

 

Betreff:

 

Hallo M.,

das Buch liegt wohl irgendwo auf dem Dachboden meiner Mutter. Es war (und da kommen wir auch gleich ein wenig auf die Sozialisations-Frage) Teil dieser „Zauberer der Smaragdenstadt“-Reihe. Die waren ja bei uns total angesagt und sehr schwer zu bekommen, zum Glück arbeitete eine Tante von mir damals im Buchladen. Jedenfalls ging es darum, dass eine Hexe nach vieltausendjährigem Schlaf wieder aufwacht, und sie war böse, hatte aber wegen dem langen Schlaf viele ihrer Tricks verlernt und legte dann einen Gelben Nebel auf das Land, um es sich untertan zu machen. Ich hab es wie gesagt lange nicht mehr gesehen, geschweige denn gelesen, und ich weiss nicht, ob ich es tun sollte. Bisher war es immer so, dass sich die Sachen, die diesen mystischen Schleier der Kindheit hatten, sich dann ganz schnell entzaubert haben, wenn man sie noch mal liest.

Deine Schreib-Methode (Schnipselschnipsel) finde ich sehr interessant. Allerdings (Achtung – böse Kritik – wenn du willst, überspring den Absatz) bist du die einzige, die weiss, wie der Herstellungsprozess war. Für jemanden der es nicht weiss, sind es halt nur Worte, die (wahllos?) aneinandergereiht sind. Schon vom Ansatz her so wie du es dir dachtest, auch ich dachte, dass dies sehr nahe an einem Traum ist. Und wie gesagt, die Methode finde ich interessant, doch man kommt nicht unbedingt drauf, dass das mal ein zusammenhängender Text war, was schade um den Text ist. Aber jetzt weiss ich es ja, und wenn ich mal viel Zeit habe, kann ich ja versuchen, ihn wieder zusammen zu setzen. : -)

Ich kann dir leider nicht sagen, was dir an dem Text nicht passen könnte. Aber vielleicht erfüllt er ja deine Ansprüche nicht: So viel arbeit, da muss doch was tolles bei raus kommen. so geht es mir jedenfalls öfter. Ich finde den Text ja wie gesagt auch nicht schlecht, eher im Gegenteil, und jetzt, wo ich weiss, wie er entstanden ist, gefällt er mir noch besser.

Das Problem des „Wie schreibe ich über das, was mal meine Heimat war“ habe ich ja auch. Wie ich vorher schon mal sagte, das ist zu nahe dran an mir, als dass ich unbefangen schreiben könnte, und daher versuche ich es eher selten. Deine Umsetzung gefällt mir ganz gut, das märchenhafte. Aber es passt glaube ich nicht ganz zu meinem Stil : -)

Würdest du noch mal zurückgehen wollen nach Workuta, um zu schauen, wie es ist? Ich glaube, ich würde es nicht machen wollen. Es ist besser, eine persönliche Erinnerung zu haben, die so aussieht, wie es eben ausgesehen hat, als du mit acht da weg bist. Oder?

Für mich ist in erster Linie gar nicht so wichtig, dass ich im Sozialismus aufgewachsen bin, obwohl es auch eine grosse Rolle spielt. Wenn ich heute erwachsene Menschen sehe, die sagen wir mal laut Definition 18 Jahre alt sind, und damit zum Fall der Mauer fünf Jahre alt waren, finde ich das schon irgendwie beängstigend. Das sind wirklich komplett andere Menschen als ich, und dann komme ich mir irgendwie alt vor, so wie sich wahrscheinlich mein Opa immer vorgekommen ist, als er Geschichten aus dem Krieg erzählte… Gerade hier in Berlin gibt ja kaum einer was darauf, wo du herkommst, hier kann man sich sowohl als Ossi als auch als Wessi ganz gut tarnen, aber es gibt eben Situationen, die dann der Ossi nicht versteht (Konversation auf einer Party spät abends über Herrn Rossi, der das Glück sucht – Wer bitteschön ist das? Bei uns brauchte man das Glück ja nicht zu suchen….) oder eben auch der Wessi nicht versteht (Pittiplatsch – obwohl die meisten meiner aus linken Lehrer- und Sozialarbeiterfamilien stammenden West-Bekannten versichern, dass sie den Ost-Sandmann viel lieber mochten…)

Naja, und der Sozialismus – ich habe ihm auf alle Fälle viel zu verdanken. Ich habe gerne für die Freiheit Mandelas und Chiles Altpapier gesammelt, und ich bin ehrlich gesagt sehr froh darüber, atheistisch erzogen worden zu sein. Und wo wir schon dabei sind, ich finde auch viele Werte, die man mir beigebracht hat, immer noch gut. Aber: Das was ich am meisten schätze ist, dass ich gemerkt habe, wie manipulierbar der Mensch ist, gerade als Kind. Am eigenen Leib erfahren, schließlich war ich ja überzeugter Gruppenratsvorsitzender. Ich denke, ich hatte genau das richtige Alter, als die Mauer fiel, um noch bewusst mitzubekommen, was da alles lief. Und das haben wir den Westdeutschen doch voraus: Wir haben zwei politische Systeme am eigenen Leib erfahren, ganz zu schweigen von den Wirtschaftlichen Systemen (Zwei Währungsreformen innerhalb von 12 Jahren – nichts leichter als das..).
Dazu gibt es noch viel zu sagen, aber ein wenig muss ich ja noch für den Roman übriglassen : -)

Zum Schreiben: Ich bin da auch nicht wirklich festgelegt, das Ritual ergibt sich eher von selbst. Und nachts konnte ich auch schon früher meine Jugendgedichte viel besser schreiben. Allerdings mache ich mir inzwischen viel mehr Notizen, so wie du meintest, in Seminaren oder so, weil ich zu viel interessante Sachen vergesse. Ob die allerdings dann auch alle in die Texte einfliessen, so wie ich mir das denke, wenn ich sie beobachte, ist eine andere Sache. Wie gesagt, die Stimmung!

Ich glaube, du solltest deine Selbstanalyse in einen dunklen Keller sperren und nur ab und zu mal rausholen… Ich kenne das, wenn man sich selbst runterredet, und es ist ja in gewissem Maße auch vonnöten, aber es kann auch blockieren. Apropros – auf Eis liegen ist genau die richtige Umschreibung, sowohl zu meinen Vorlese-Plänen als auch zu neuen Texten von mir. Denn dummerweise hat mein „chef“ sich zwei Wochen Urlaub für Flitterwochen genommen, und bei einem zwei-Mann-Betrieb fällt es mir schwer, Zeit zu finden. Aber das dürfte hoffentlich bald vorbei sein. Derweil freue ich mich, wenn ich nach Hause komme, es mir mit einer Tüte gemütlich machen kann, und vielleicht eine nette Mail im Posteingangsfach habe. Ans Schreiben und Lesen denke ich zwar schon oft, aber das endet dann damit, dass ich um 4 oder fünf zum schlafen komme, was doof ist, wenn man um 9 wieder fit sein muss. Auch ein Nachteil am „nachts schreiben“.

Zu der [Literatur-Website]-Diskussion nur ganz kurz:
Ich habe irgendwie das Gefühl, das ist so, wie in einer Familie. Und jetzt ist eben die Pubertät dran, wo man die Eltern scheisse finden muss. Ich lass mir das noch mal durch den Kopf gehen…
A. und S. haben übrigens recht, was Kerouac betrifft. Sein größter Hit war wohl „On the Road“ dt: Unterwegs. Zum Einstieg würde ich „Engel Kif und neue Länder“ empfehlen.

bis bald
S.
 

Datum: [2002]

 

Betreff:

 

Hallo M.,

klar verzeihe ich dir :-)! Mein Stress ist zum Glück gerade vorbei, und wie es immer ist, die Erkältung, die von den Stresshormonen in Schach gehalten wurde, ist ausgebrochen. Tja, man kann nicht alles haben. Aber immerhin habe ich es geschafft, was neues zu schreiben, wenn es auch nicht genau das ist, was ich wollte.

Deinen Genua-Text hätte ich fast übersehen, da ganz schnell viele andere Leute auch was neues zu der [Literatur-Website] gestellt hatten. Ich fand ihn sehr gut. Realismus – mal was ganz anderes von dir. Aber er hat mir echt gefallen, obwohl ich ihn wohl noch ein zwei mal lesen muss. Was ich gut fand, war dass er nicht irgendwie pathetisch war oder so, sondern wirklich wahr. Dass du genau das beschrieben hast, was passierte, wie du dich fühltest, wie du auch über alles dachtest, auch nicht versteckt hast, dass die Gefühle dich überrannt haben, dass es schon toll ist, zu einer verschworenen Gemeinde zu gehören, die eigene Gesetze hat… Echt gut, ich glaub ich muss ihn gleich noch mal genau lesen :-). So ähnlich ging es mir auch bei meiner ersten 1. Mai-Demo in Berlin vor fünf Jahren oder so.

Inzwischen bin ich von solchen Veranstaltungen, also nicht Genua, sondern dem Berliner 1. Mai, eher abgetörnt, weil es wirklich nur noch ein Spielplatz für agressive Kiddies und eine optimale Manöver-Übung für die Bullen ist. Genua – das kannst du auf alle Fälle später deinen Kindern erzählen. Oder vorlesen.

Sorry auch für meine kurze mail, aber wie du meintest, es ist Wochenende, und ich muss mir wie gesagt noch mal deinen Genua-Text durchlesen und habe zweitens eine brennende Idee für einen Text. Und muss meinen neuen Text noch auf meine homepage stellen. Ich kann dir nur zurufen: Weiter so! Das war sozusagen odschen choroscho. hihi.
bis bald
s.

ps. bestell a. mal ein paar herzliche verspätete geburtstagsgrüsse und sag ihr, ich beneide sie um die zwanzig stripperinnen.

pps. villeicht lüftest du in der nächsten mail mal das Geheimnis deiner verschiedenen namen?
 

Datum: [2002]

 

Betreff:

 

Hallo M.,

also erst einmal vielen Dank für deine gute Laune, die dich zu Übersprungshandlungen in Form von total-nette-Kommentare schreiben gebracht hat. Und dann natürlich herzlichen Glückwunsch zu der guten Befindlichkeit, ich hoffe da ist jetzt am Wochenanfang noch was von über.

Und um dein Ego noch ein wenig zu erfreuen, ich hab wie gesagt den Text noch mal gelesen, in ruhe, und er ist echt gut, du solltest die Projekte „abgebrochener Fingernagel“ und „Scheisse ich find kein Paper mehr“ weiter verfolgen. Sind ja beides auch echt harte Schicksalsschläge, besonders das letztere. Es wurden schon Bücher über Belangloseres geschrieben.
Mein neuer Text ist hier:
Er ist entstanden aus vielen zusammengetragenen Notizzetteln, die sich schon gehäuft haben, ich bin aber nicht absolut zufrieden, weil ich noch einiges über hatte, aber nicht genug Geduld, es mit in den Text zu bringen. Vielleicht kommt ja noch ein zweiter Teil. Mal schauen. Vielen Dank übrigens dafür, dass du dir gerade die beiden Texte zum kommentieren ausgesucht hast, die waren für mich schon „alt“, hab sie lange nicht gelesen und daraufhin dann wieder, und fand sie trotzdem wieder einigermaßen gelungen. Liest du oft alte Sachen von dir?

Meine Lektüre beschränkt sich auch fast nur auf die Uni, obwohl ich das nie ganz durch halte, dazu lese ich zu gerne. Zur Zeit lese ich „Geschichten ohne Heimat“. Ich weiss aber nicht, ob ich es dir empfehlen sollte. Nicht weil es nicht gut ist, sondern vielleicht nicht dein Stil – das ist zwar blöd formuliert, aber ich weiss nicht, wie ich es dir besser beschreiben soll. Es hat was mit Nostalgie zu tun. Der Autor, Erwin Strittmatter, war ein relativer bekannter Schriftsteller in der DDR. Nicht so wie jetzt Grass, eher drei Nummern kleiner. Aber er schrieb eine Trilogie (Der Laden) über seine Kindheit und Jugend auf einem Dorf in der Lausitz vor so 80 Jahren. Und in dem Nachbardorf habe ich einen grossen Teil meiner Kindheit verbracht. Das fand ich sehr spannend, und ich habe die Bücher schon mit so elf, zwölf Jahren verschlungen, sind halt auch ganz gut geschrieben, wenn man die Art mag. Und jetzt wurde eben aus seinem Nachlass „Geschichten ohne Heimat“ veröffentlicht. Eher so eine Insider-Sache, man erkennt sehr viel wieder aus den anderen Büchern, sollte sie glaube ich auch vorher gelesen haben. Soviel dazu.

Dann lese ich noch, da muss ich mich fast als bürgerlich outen, den neuen Spiegel sehr interessiert. Ich hab den zum Studi-Preis abonniert, weil wie du vielleicht ja weißt, ich keine Tageszeitung habe, und schon ein bisschen informiert sein will. Und leider reissen die Stürme zur Zeit ständig unsere Antenne vom Dach, so dass ich die RTLII-Nachrichten verpasse :-). Und der Spiegel trauert auf 170 Seiten. Erst dachte ich, ja, is ja traurig dass der Augstein tot ist, aber 170 Seiten, das is doch n bisschen viel, oder?! Aber dann fand ich es noch fast zu wenig, da sind schon ziemlich viele spannende Geschichten und Interviews drin. Da ich als privilegierter Student der Hauptstadt den Spiegel schon am Sonntag bekomme, bin ich auch schon durch. Etwas peinlich, diese bürgerliche Ader in mir :-).

Wegen diesen Demo-Geschichten, und des bürgerlichen Schleiers, der auf mir liegt:
Ich find Gorleben und Genua echt wichtig und würde auch heute noch überlegen, wie ich es damals vor Genua tat, hinzufahren. Ich hab auch zwei Jahre lang im Asta gearbeitet, das ist so zwei Jahre her, und fand es gut, habe viel gelernt über Politik auch im grossen Stil, und dabei eben auch schon viele Enttäuschungen erlebt, doch das gehört dazu. Ich würde das meiste heute wieder tun. Zum Glück gab es bei uns im Asta die Regel, dass man sich nur einmal wiederwählen lassen kann, weil ich auch finde, dass man in solchen Strukturen nicht hängen bleiben darf. Das sehe ich an der FU, da sind seit fünf Jahren die gleichen Leute am Werk, dass ist auch blöd.

Naja, du hast jedenfalls meine aufrichtige Hochachtung wegen Genua. Und es gibt auch in Berlin noch gute Demos, wo ich gerne hingehe, die „Reclaim the streets“ sind immer voll lustig im Sommer. Aber der erste Mai nervt halt, weil sich da im Vorfeld schon mindestens fünf Splittergruppen streiten, wessen Demo denn zuerst verboten wird. Und ob es cooler ist, im Prenzlauer Berg oder in Kreuzberg sich von Bullen verprügeln zu lassen. Da gibt es auch hinter den ganzen vorgeschobenen Argumenten kaum noch wirklich politische Motive für die Demos.

Ich sende dir und deinem Garten viele Grüsse und viel Sonne, von der es hier leider nicht so viel gibt.
Bis dann
S.
PS. Hast du eigentlich Formatierungs-Probleme beim Einstellen der Texte bei der [Literatur-Website]? Bei mir erscheinen da immer so blöde Fragezeichen statt Bindestriche oder Anführungszeichen.