Gefunden / Anfang, Mitte November

Inzwischen ist die Zeitumstellung längst Geschichte; vorbei auch die Zeiten, in denen ich morgens nach der Schicht im gleissenden Sonnenlicht mit dem Rad nach Hause fuhr und dabei ungläubig feststellte, dass der Sandstein des Reichstags im richtigen Licht beinahe so schön aussieht wie der in Jerusalem, ein unpassender, unangebrachter Vergleich natürlich. Doch zuerst das Wichtige, Drängende – ich hatte ja bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen & kann dies jetzt mit Bild und Ton wiederholen:

Zeit, mal wieder Häuser zu besetzen, na klar. Viele Projekte in dieser Stadt feierten gerade ihr 25jähriges Bestehen, oder tun das demnächst. Was als Utopie in einer unfertigen Möchtgernmetropole begann, muss nun nach einem Vierteljahrhundert Realität oft den Verwertungsinteressen weichen. Dann bleibt vielleicht nicht viel mehr, als Filme darüber zu drehen.

Jetzt sitze ich hier und beobachte das erste Schneetreiben des Winters durch die Fensterscheiben. Das Wetter war es auch, in seiner windig-nasskalten Variante, was dazu führte, dass der Heimweg in letzter Zeit meist mit dem N6er angetreten wurde. Diese Runde wird auch immer größer; ich bin nicht der letzte, der in den Wedding ziehen musste.

Nach dem Verschwinden des Rucksacks begann ich, den König David Bericht zu lesen, das nächste Buch auf dem Noch-zu-lesen-Stapel. Versuchte hie und da, Bruchstücke und Textfragmente des Notizbuchs aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, worin ich noch nie gut war. Vor allem schmerzte der Verlust der seitenlangen Notizen & Ideen für den einen und den anderen langen Text.

Der Rucksack samt aller darin enthaltener Schätze wurde mir dann eine halbe Woche später ausgehändigt: Er lag einfach in einer dunklen Ecke eines dunklen Zimmers unter einem Haufen schwarzer Klamotten – kein Wunder also, dass ich ihn beim oberflächlichen Suchen nicht fand.

Verzwickt wie die Mühle, anders kann ich es nicht erklären. Mein Rhythmus ist komplett im Arsch, auf den Nachtschichtmodus eingestellt für die halbe Woche. Allerdings habe ich es mir ja selbst so ausgesucht: Mir die Nächte um die Ohren zu schlagen, Ideen & Eindrücke sammeln, für deren Niederschrift kaum Zeit bleibt. Zu dem Teil gehören, der nicht aus Spass auf Konzerten ist – oder nicht nur – sondern zum Arbeiten. Auch wenn man es selten so nennt & empfindet, sondern einfach als anstrengendes Vergnügen. Ich bin im Feld, immerhin.

Vieles gelingt, vieles auch nicht. Zu viele Menschen, zu viel Menschliches. Erkenntnisse reifen, Entscheidungen fallen. Manches geht nach hinten los, manchmal geht das Kairos an einem vorbei, lässt man es ungenutzt vorbeiziehen. Perfekte Tage sind Hirngespinste, perfekte Momente aber durchaus möglich. Vieles, was ich in diesem Jahr erledigen wollte, liegt in weiter Ferne. Trotzdem wurde Einiges geschafft, auch Unerwartetes. Loslassen und Neues wagen.

[Meta]

Im Gegensatz zu vor einem Jahr habe ich aber auch viel weniger Möglichkeiten, einfach rumzusitzen & auf dumme Gedanken zu kommen – dafür treibe ich mich viel zu sehr rum und habe viel zu viel zu tun, vergleichsweise. Das kann natürlich auch zu Zweifeln und Missmut führen; ich habe es weder nach Hamburg noch an die Ostsee geschafft, beispielsweise.

Dass Abstriche gemacht werden müssen, sieht man hier ziemlich deutlich, wenn man sich die Mühe macht, und die Blogseiten des letzten Herbstes anschaut. Da gab es vielfältigere Texte, und viel mehr sowieso. Gerne hätte ich mal wieder eine Linkliste rausgehauen, doch dafür hätte ich viel mehr Blogs lesen müssen – zwei Vorhaben, die ich wohl in diesem Jahr nicht mehr umsetzen werde.

Ebenso steht es um die nächste Ladung Bilder – dass hier noch gewartet werden muss, kann ich wenigstens auf das schlechte Wetter in der letzten Zeit schieben. Doch dafür kommt demnächst wohl eine neue Kategorie hinzu (ganz zu schweigen von der nötigen Feinabstimmung, die hinter den Kulissen dringend nötig ist): Der Noch-zu-lesen-Bücherstapel hat immerhin ordentlich abgenommen, dementsprechend sind die Stapel gewachsen, aus denen die angestrichenen Zeilen und am Rand hingekritzelten Notizen abgeschrieben werden müssen. So könnte es also sein, dass ich ab und zu, wenn ich denn dazu komme, das eine oder andere Zitat veröffentlichen werde, denn schliesslich dient mir das Blog auch als eine Art Notizbuch.

Wobei das mit der Wiedergabe fremder Inhalte, umschreiben wir es mal so, ja nie leicht ist, man sich irgendwie immer auf unsicherem Terrain bewegt. Ich glaubte eigentlich, mich halbwegs auszukennen: Man darf strenggenommen nicht mal jemanden ohne sein vorheriges Einverständnis fotografieren, wenn er wiedererkennbar ist. So habe ich es gelernt, das letzte mal erst vor einem halben Jahr, ganz offiziell von einem Anwalt. Es sei denn, so eine der wenigen Ausnahmen, die fotografierte Person ist Teil einer öffentlichen Veranstaltung (sobald diese allerdings kommerziell ist, können die Bildrechte mit dem Ticket am Eingang abgegeben werden). Dass aber selbst das Filmen politischer Veranstaltungen zu Komplikationen (und zu einer überraschend interessanten Geschichte über das Netz) führen kann, zeigt The Story of Technoviking – ja, damals galt die Fuckparade noch als politische Veranstaltung; und ja, damals gab es noch verdammt viele verfallene Häuser in Mitte. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte und hier ist erst mal Schluss.

The Story Of Technoviking – Kurzfassung – Deutsche UT from Matthias Fritsch on Vimeo.

 

Verloren / Mitte, Ende Oktober

Die verrückte Log-Lady ist tot! sagte sie.

Das ist aber ein komischer Spitzname für Karasek, dachte ich, aber nicht ganz unpassend.

Es ist schon eine Weile her – das lässt der Titel ja erahnen – doch ich weiss noch, dass dies ungefähr die letzten Zeilen waren, die ich in mein Notizbuch schrieb. Ungefähr deshalb, weil ich es nicht genau sagen kann, weil es nämlich weg ist, das Notizbuch. Zusammen mit den Erinnerungen Walter Jankas, fast ausgelesen, einer Filmdose und den Sanddornbonbons. Mehr war zum Glück nicht drin im Rucksack, doch das reicht vollkommen aus für die nächste Sinnkrise.

Modellflieger im Garten

Der letzte Film ist entwickelt & hat nichts mit dem Text zu tun

Es hätte ja auch die Kamera, Geld und wasweissichnochalles verloren sein können, Scherereien ohne Ende. Dass es „nur“ das Notizbuch war – und Janka – schon wieder ein Zeichen?! Vor allem, wo ich doch gar nicht an sowas glaube?

Schliesslich beschäftigte ich mich mit Janka indirekt schon vor Jahren, seit Jahren, über einem Dutzend an der Zahl, erschreckenderweise. Indirekt deshalb, weil es über Bande geht, weil es hauptsächlich, immer mal wieder, Harich ist, der mir im Kopf rumspukt. Harich ohne Janka geht nun mal aber nicht, und dessen Autobiographie fand ich im Frühjahr auf dem Flohmarkt.

Graffiti, Text um einen Anker: Fuck Austerity, Refugees welcome

Die Parolen im neuen Kiez, kein großer Unterschied zum alten

Als der Rucksack sich verabschiedete, war ich kurz vor dem Schluss angelangt, kurz vor der vermuteten Generalabrechnung mit seinem einstigen „Mitverschwörer“ – dank häufigerer Bahnfahrten wegen des beschissenen Wetters in der letzten Zeit las sich das recht schnell und interessant.

Graffiti an einer Brandmauer: Fuck Frontex

…nur manchmal etwas grösser…

Ärgerlich, doch noch weitaus ärgerlicher ist natürlich die Sache mit dem Notizbuch. Da sollte man auf alle Fälle vermeiden, ein Zeichen zu erkennen; das könnte nur ein Menetekel werden: So viele Fragmente, angefangene Texte, fertige Verse. Und kaum etwas davon übertragen, irgendwo anders gesichert. Das, was mir bisher, vor allem in der letzten Zeit, als viel zu wenig vorkam, viel mehr hätte sein müssen, erschien auf einmal als ein unglaublich wertvoller Schatz, der nun verloren gegangen ist.

Stencil an einer Hauswand unter der Klingelleiste: Mach deine Hausaufgaben, Wolgang

…oder unverständlicher, oder witziger…

Zugegeben, diese ausufernde Thematisierung von Notizbüchern in der Literatur – vor allem natürlich derjenigen, die nach Maulwurfspelz klingen und nur beim Markennamen genannt werden – stört mich oft, selbst bei Herrndorf ein klitzekleines bisschen. Allerdings: Ich bin auch nicht so der haptische Typ, sondern eher der Praktische. Und kann jetzt nur verzweifelt lächelnd & unter Pein zustimmen, wenn ich (bei der mäandernden Recherche zu „Moleskine“) in Arbeit und Struktur lese:

Ich trage als erstes meinen Namen und 50 Euro Finderlohn vorne ein, wenig später mache ich eine 1 davor: 150 Euro. Irgendwas in meinem Innern sagt mir: Ich darf das auf keinen Fall mehr verlieren.

Das Gegenteil eines Wermutstropfens – ein Tröpfchen Manna in dem Zuber Wermut sozusagen, angesichts des befürchteten Verlusts – war der ganz und gar großartige Abend. Mehr als gelungen, überall zufriedene und meist zutiefst berauschte Gesichter; nur sehr lang, sehr früh erst vorbei. Mit dem Sonnenaufgang im Rücken, der überraschend spät einsetzt – es ist noch etwas Zeit bis zur Zeitumstellung – und einer sich diesig verabschiedenden Nacht voraus dann endlich das Durchatmen und Durchtreten der Pedalen, versuchen den Rucksack und alle anderen Probleme aus dem Kopf zu bekommen.

...vielleicht sollte ich mal mit anderen Objektiven experimentieren, doch dazu komme ich eh nicht.

…vielleicht sollte ich mal mit anderen Objektiven experimentieren, doch dazu komme ich eh nicht.