Gdańsk II

03.09.10

Wenn die Solidarnosc-Feuerwerke vorbei
und Langfuhr besichtigt
und für grau und trüb befunden,
und selbst auf Oskars Bench
ein Betrunkener schläft,
sein Frühstück in Form einer Schnapsflasche
neben die Bank gestellt
und die Alufolie seines Trinkpausenbrotes
auf der Denkmaltrommel platziert:

 

Ist doch diese Stadt,
mit dieser Werft,
mit diesen Arbeitern,
und diese Stadt,
mit diesen Frauen,
mit diesen Absätzen,
und dieses Danzig,
mit dieser Geschichte,
mit diesen Mauern,
mir soviel näher
als jedes bayrische Kaff.

 

Da kann kein Grass oder Kaczinski
Mir die Laune nicht verderben.

 

Ein Zeichen

Jetzt ist es klar, da ist kein Platz mehr für Missverständnisse. Sicher, es gab Indizien, ich berichtete ja auch darüber: Wie sich die Gentrifizierung um die Strassenecke schlängelt; nach und nach neue Läden und Geschäfte in der unmittelbaren Umgebung aufmachen; dass die Fassade des Nachbarhauses gerade schluderig, aber energetisch saniert wurde. Zur Fussball-WM gab es sogar direkt gegenüber vom Getränkemarkt ein temporäreres Hipster-Public-Viewing-Venue (sagt man das so?), inklusive Skaterbahn auf dem Dach. Und nicht zuletzt die durchs Haus geisternden Pläne der neuen Eigentümer, nicht ausgesprochen, höchstens unter vier Augen und dem Siegel der Verschwiegenheit, garniert mit einer minimalen Auszugsprämie – doch schriftlich war bisher nichts Greifbares vorhanden.

Aber jetzt ist es klar: Hier steppt demnächst der gentrifizierte Hipsterbär, aber sowas von! Woher ich das weiss? Ich hatte gestern, das erste Mal in den 15 Jahren, die ich (mit kurzer Unterbrechung) in diesem Haus wohne, einen Manufactum-Katalog im Briefkasten. So hat das damals im Prenzlauer Berg auch angefangen. Ho-Ho-Holzspielzeug!

PS. Eine wirklich feine Ironie fand ich ja schon immer, dass Manufactum – wenn man klischeehafte Typisierungen mag – als das IKEA der überdurchschnittlich gut verdienenden Grünen Mittelschicht galt: Die Oberstudienrätin, die mit dem seit Jahren auf eine Professur wartenden Dr.phil.habil. in wilder Ehe samt Linus und Marie im eigenen Eigentum zusammen wohnt und auf gute, möglichst fleischlose und nachhaltig produzierte Ernährung achtet. Da passt Manufactum-Kram gut rein, in so eine Wohnung. Wo jetzt die Ironie ist?

Die liegt darin, dass der Gründer von Manufactum (er hat den Laden inzwischen an Otto verkauft….) nicht nur  nordrheinwestfälischer Grünen-Geschäftsführer war, sondern dass er einer der Propagandisten wider dem Grünen Gutmenschentum ist. (wie gesagt, wenn man Typisierungen mag; ich habe bis heute nicht verstanden, was daran schlecht sein soll, ein guter Mensch zu sein).

Und zwar nicht erst, seit das modern ist. Obwohl er da natürlich gern mitmischt und mitverdient, ist halt ein cleverer Geschäftsmann, der Herr Hoof: Der aktuelle Bestseller von Manuscriptum, seinem Spartenverlag, erschien in der Edition Sonderwege, die betreut wird von einem der Protagonisten des neurechten Ideologielimbos (Lichtschlag heisst der Kerl, und Typisierung klappt auch hier nur bedingt: Die grosse Klammer ist die Junge Freiheit, für die auch Lichtschlag gerne schreibt, aber eigentlich ist er so eine Art Nationallibertärer – eigentümlich frei heisst deshalb auch sein durchaus populäres Medienprodukt):  Also, der Bestseller ist Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“.

Doch Herr Hoof schreibt auch gerne selber, zum Beispiel zur „Lage 2012“ in der konkret der Neuen Rechten, die dort Sezession heisst und die vermeintlichen Vordenker und klugen Köpfe dieser Strömung im Institut für Staatspolitik versammelt. Ihre Säulenheiligen sind die Vertreter der Konservativen Revolution, die sich ein anderer ihrer Säulenheiligen, der Jünger-Sekretär Armin Mohler, für seine Dissertation bei Jaspers ausgedacht hat.

Soviel dazu, wer will, der kann sich mit den paar Informationshäppchen hier jetzt bequem eine Recherche aufbauen, die Jahre in Anspruch nehmen wird und zu dem Schluss kommt, dass die Neue Rechte genauso albern, zersplittert, bedeutungslos und undefinierbar ist wie die Linke. Aber immerhin haben sie Manufactum und damit jahrelang ihre spiegelbildnerischen Counterparts von links gemolken.

[Erste Rechercheansätze finden sich beim Spiegel, der Zeit und beim VVN – doch ich wiederhole meine Warnung und spreche aus Erfahrung: Die Beschäftigung mit dem Thema kann zu starkem ungläubigen Kopfschütteln führen. Sich den Wahnvorstellungen anderer zu widmen kann einen verrückt machen.]

Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!

Aus aktuellem Anlass ein ziemlich alter Text aus den frühen Tagen Wowereits. Nach all den Jahren kann ich den Westentaschensonnenkönig natürlich nicht mehr leiden, aber es gab Zeiten, als Wowereit die wählbare Alternative zum Westberliner CDU-Filz um Diepgen und Landowsky war, mag man kaum glauben, heutzutage. Und bevor er in seiner Selbstherrlichkeit den Kultursenatorenposten mit sich selbst besetzte, hatte er mit Goehler und Flierl zwei Menschen in diesem Amt, mit denen man wenigstens vernünftig reden konnte, im Gegensatz zum Vorgänger Radunski. Wenn mich die Erinnerung aus dem Nähkästchen nicht täuscht. Hier also ein Bericht aus einer anderen, längst vergangenen Zeit[Kontext]:

(25.03.2002)

Ich war gerade im Urlaub in Dänemark. Fast klischeegerecht, mit Volvo, Hund und Frau. Die dänischen Ferienhäuser haben als Vorzug nicht nur die obligatorische Sauna, sondern meist auch Fernsehempfang via Satellitenschüssel. Und da das Wetter scheiße und der Hund müde war, dachte ich mir, ich tue mal was für mein Politikwissenschaftsstudium. Also schaute ich mir die vollen fünf Stunden Phoenix-Live-Übertragung der Abstimmung im Bundesrat über das Zuwanderungsgesetz an.

Schon im Vorhinein war klar: das wird spannend. Es gab ein paar geplänkelte Reden vorne weg, sowohl der Kandidat* als auch Schröders Beerber, der dicke Sigmar Gabriel, menschelten und taten so, als ob mal endlich Klartext geredet wird. Und dann kam die Abstimmung, die „Geschichte schreiben wird“. Der knuddelige Wowi, der immer aussieht wie ein zufriedener Plüschteddy, dem gerade der Bauch gekrault wird, hat die Verfassung gebrochen. Na so was! Während alle anderen nur die Interessen ihrer Länder vertraten und von allen Parteizwängen frei ihr Abstimmungsverhalten gestalteten, setzt sich der Kommunistenfreund Wowereit über die CDU-Rechtsauffassung hinweg. Und schon bellt Standartenführer Koch: „Verfassungsbruch!“. Und anstatt: „Schnauze Koch, das ist brutalstmögliche Abstimmung!“ sagt Wowereit: „Mäßigen sie sich.“

Drollig! Da wollten sie alle die Debatte um ein Gesetz, welches von der Regierungspartei B90/Die Grünen noch vor fünf Jahren als rassistisch abgestempelt worden wäre, vom Wahlkampf fern halten, und schon war man mitten drin. Aber weg von den Inhalten – zurück zur Form, um es mit den Wahlkämpfern zu halten.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal Mitleid mit General a.D. Schönbohm haben würde. Ich ging immer lächelnd und mit klammheimlicher Freude an Graffitis vorbei, die dem Ex-Innensenator von Berlin die Pest und schlimmeres an den Hals wünschten. Gäbe es eine Erhebung über die Häufigkeit personenbezogener Sprühereien in der Bundeshauptstadt, Schönbohm würde ganz oben stehen.

Und wie sah er da im Bundesrat aus! Nix mehr General, nur noch ein Häufchen Elend, Parteisoldat in Diensten des Befehlshabers aus Bayern. Seine sonst so mutig in die Höhe ragenden Augenbrauen schienen schlaff herunter zu hängen, und er schaute an diesem Tag wirklich niemandem in die Augen – außer seinem eigenen politischen Untergang vielleicht.

Keine motivierenden Reden a lá „Wo Ratten sind, da ist der Unrat nicht weit“ oder ähnliche Hetztiraden, sondern Gejammere. „Wollen sie auf den Trümmern der Brandenburger Koalition…“ Schnief! Und als der clevere Klaus dann alle schockte, ließ Stoiber seine Wadenbeisser los: Gegen das Grundgesetz, Verfassungskrise und so weiter. Wenn der Bundespräsident dieses Gesetz so unterschreiben würde, dann aber! Karlsruhe, mindestens!

Das fand ich recht lustig. Ich schlage übrigens vor, dass dieser Fall nicht in Karlsruhe, sondern in Köln-Hürth verhandelt wird. Bei Barbara Salesch oder Alexander Hold. Denn diese Richter spiegeln den Idealfall von Justitia ebenso wider, wie Koch, Stoiber & Co den aufrichtigen und nur auf das Wohl des Volkes bedachten Politiker verkörpern.

 

*Stoiber

 

Sommersplitter – Balkonien und der Rest vom Haus

Es ist ein Wettlauf: Werden die Früchte noch reif, bevor die Tomatenpflanzen verrecken? Sie sehen schon länger nicht mehr wirklich gut aus: Schwarzfleckige Blätter, immer mehr verwelkte Triebe. Ich schiebe es auf den Dreck vom Nachbarhaus: Die Fassadensanierung. Erst der feine Staub vom abgeklopften Putz, dann die Styroporkügelchen von der Dämmung. Die werden sich unweigerlich in der Blumenerde angesammelt und aufgelöst haben, jetzt verrecken erst die Pflanzen, und dann wahrscheinlich ich, wenn ich die kümmerliche Ernte verzehrt habe.

Eine Sache allerdings hat mich dann doch positiv überrascht: Auch wenn ich es mit dem Gras auf dem Balkon dieses Jahr gelassen habe (Gerüst vorm Nachbarhaus, zu viele neue Leute über und unter mir), auch die Tomaten, die eine Sorte jedenfalls, wucherte auf über zwei Meter. Irgendwann wusste ich dann auch, was ausgeizen ist und wie man das macht. Einer der Triebe, die weichen mussten, war schon ziemlich gross, sogar ein paar Blütenansätze waren zu erkennen. Ich steckte ihn in ein altes Gurkenglas voller Wasser. Einige Tage später trieben tatsächlich Wurzeln aus; ich wollte noch etwas warten und die Pflanze dann in einen Topf umsetzen. Daraus ist nur nichts geworden: Der Trieb steht jetzt seit Wochen in dem Gurkenglas, immerhin giesse ich ihn regelmässig, das weisse Wurzelgeflecht hat inzwischen seinen eigenen Dschungel gebildet. Und das Erstaunlichste: Aus den kleinen Blütenansätzen haben sich tatsächlich Früchte entwickelt – nur im Wasserglas stehend. Diese famose Natur, selbst hier auf dem Balkon mitten in der Stadt. Von Weizenfeldern, die gerade abgeerntet werden, bekommt man hier ja leider nichts mit. Was schon etwas schmerzt.

ein sonniger Balkon mit lauter grünen Pflanzen drauf :-)
(Der letzte Sommer auf dem Balkon: Schön grün)

***

Aber eigentlich geht es im Haus gerade um wichtigere Sachen. Zahlen spuken durch die Köpfe und Flure. „Was ist dein Preis?“ heisst es überall, mal ausgesprochen, mal nur gedacht.

Nach circa einem halben Jahr Ruhe setzte die Hausverwaltung eine zweiwöchige Frist, um Keller, Hof und Dachboden leerzuräumen. Dreizehn Tage vor Ablauf der Frist begannen Johnny & Co damit, lautstark den Sperrmüll vom Dachbodenfenster in den Hof zu schmeissen: „Hi, ich bin Johnny, your new Hausmeister. Do you smoke weed man?“ So stellte er sich vor, der Johnny aus Nigeria, der jetzt unser neuer Hausmeister ist. Was die Hausverwaltung uns bis heute nicht mitgeteilt hat, aber die wissen ja eh nichts von dem, was die neuen Eigentümer so alles machen.

Also mal wieder eine Hausgemeinschaftsversammlung: Über kurz oder lang, das ist klar, werden sie was tun. Das einzige, was wir tun können, ist auf ein paar Regeln bestehen: Fristen einhalten, Formalitäten beachten. Einer der neuen Eigentümer geht durchs Haus und verteilt Angebote, spricht aber auch von locker 300 Euro mehr Miete, wenn alles fertig ist. Gepriesen sei die energetische Sanierung, wenn die kommt, sind wir sowieso alle gefickt.

Zu Modernisieren gibt es natürlich auch eine Menge – da hat sich einiges angesammelt in den letzten 120 Jahren, klar. Doch so wie sie bisher mit den inzwischen zwei, ab nächstem Monat drei freien Wohnungen umgegangen sind, geht es ihnen nicht um die Hege und Pflege der Bausubstanz. Hauptsache schnell fertig werden und Teppichboden über die Dielen tackern, damit das nächste Dutzend Tellerwäschersklaven aus dem Gastro-Imperium einziehen kann.

Wir üben uns jetzt also in Politik – etwas, was wir alle eigentlich seit Ende der Neunziger hinter uns geglaubt hatten, nur die eine WG ist ja noch wirklich aktiv, was meist belächelt wird und manchmal unangenehm aufstösst. Nun aber müssen alle wieder ran: Standpunkt benennen (Gehen oder Bleiben), Strategie finden (Füsse stillhalten oder auf Konfrontation gehen), Informationen sammeln (Kompromat zu den Eigentümern, Anwalt vom Mieterverein zum Hausbesuch bitten zur Erläuterung der gesetzlichen Vorgaben), Vernetzungsarbeit („Die haben da und da und da noch andere Häuser, wo es grad genauso aussieht, lass doch mal mit denen zusammensetzen.“).

Erst mal wird ein E-Mail-Verteiler eingerichtet, eine Chronologie erstellt und Fotos gesammelt. „Zur Not“ meinte die Gastgeberin mit der Fabriketage vom dritten Hinterhof, „müssen wir dann halt an die Öffentlichkeit, ein Blog machen oder so. Kennt sich jemand damit aus?“ Glücklicherweise antwortete der Abgesandte der Antifa-WG schneller, als ich überhaupt überlegen konnte, ob ich mir das jetzt an den Hals kette oder nicht: „Erst mal der E-Mail-Verteiler, dann sehen wir weiter. Dieses ganze überstürzte ‚Wir machen jetzt gleich mal ein Wiki oder ein Blog oder was auch immer’ bringt zum Anfang gar nichts ausser verplemperte Zeit.“ Ein Lob den Aktivisten, die wissen Bescheid.

In der Nacht nach dem Treffen dann die erste Mail mit dem Hinweis auf die ARD-Doku. Am Morgen trudelten die ersten Antworten ein, deren Tenor überall der Gleiche war: Doku gesehen. Ach du Scheisse!

Ein Hausflur mit vielen Graffitis und einem Plakat: Ordnungsamt Fuck off(Inzwischen sieht es schon etwas schmucker aus, und bald wohl noch mehr)

Hamburg, schon eine Perle

12.04.14

In Hamburg gewesen,
endlich mal wieder.
Freitag abends auf der Dachterrasse
bei der Schilleroper gesessen,
auf der mal die Rote Fahne wehte,
als das noch was bedeutete.
Viel zu viele Flaschen Wein leergetrunken,
und auch den Port.

 

Gegessen und geredet und geraucht.
Am Ende wurde A.’s Fuß
vom Bärenfangeisen gefressen,
das sich als rostiger
Stammtischaschenbecher getarnt hatte.

 

Am nächsten Morgen los, zu Fuß:
Runter zu den Landungsbrücken,
Speicherstadt und Hafencity
links liegengelassen, wie es sich gehört,
sind eh nur hässlicher geworden.

 

Stattdessen durch den Tunnel
rüber nach Steinwerder
und stundenlang durch Containerlager gelaufen.
Ein Fischbrötchen und ein Astra
mussten dann aber doch sein,
Klischeezugeständnis.

 

Später alleine, noch ein Bier beim Pudel,
die entspannten Menschen vor der Kirche beobachtet,
und überlegt, warum die das in Berlin
nicht auch so gut hinbekommen,
(und wissen: die Antifas haben es verkackt;
und eingestehen: St.Pauli samt Kirche kann’s besser)
dann über die Davidstrasse zurück.
Beim Kreuzen der Reeperbahn
unweigerlich Lindenberg im Ohr.

 

Da die Zeit noch nicht gekommen war,
die wir vereinbart hatten,
blieb noch genügend von ihr,
um mit Horst beim Grünen Jäger
ein Feierabendbier zu trinken,
und zu diskutieren, ob Pauli
es in die Relegation schafft,
womöglich gegen den HSV.

 

Abends merkten wir Schreibtischmenschen
dann unsere wunden Füße
und schleppten uns nur
um der alten Zeiten willen
zur Flora.

 

Was Hamburg betrifft,
hat Berlin allen Grund,
eifersüchtig zu sein:
Da ist meine Liebe durchaus
wankelmütig.

 

 

 

 

 

 

*

Sommersplitter – Expertenrunde

Nachts um halb drei standen wir angetrunken vor der Moschee, neben dem fancy koreanischen Restaurant. Der Wirt wollte schon vor Stunden Schluss machen, irgendwann sahen auch wir ein, dass es besser wäre, zu gehen. Zu dritt diskutierten wir im leichten Nieselregen die aktuelle Weltlage, wobei einer von uns noch betrunkener war als die anderen beiden und eigentlich nicht mehr mitreden konnte, aber trotzdem wollte. Was gekonnt ignoriert wurde.

Natürlich ging es um Israel und Palästina. Um antisemitischen Müll auf facebook und auf der Strasse. Einer von uns konnte mit dem Hass seines tunesischen Migrationshintergrundsumfelds nichts anfangen. Der andere fand es komisch, dass er sich kaum um seine Mischpoche sorgte, auf Luftschutzkeller, Abwehrschirm und die Stochastik vertrauend. Der Dritte suchte eine Wohnung in Hamburg.

Ich war empört, dass der nicht ganz so Betrunkene eine so hohe Meinung von Mascolo hatte. Hörte mich Geheimdienstkontakte anklagen und brachte im Zuge dessen sogar Leyendecker in Verbindung mit der BND-Payroll. Musst du nur mal im Internet nachgucken, sagte ich. Ach komm, das ist doch jetzt schon ne arge Verschwörungstheorie, sagte er. Leyendecker, die machen sssuper Fenssster oder ssso, sagte der Betrunkene. Dann gingen wir zum Glück nach Hause.

Die Herrschaft der Roten Königin*

(oder: Deine Mudda is‘ Kapitalismus, du Subjekt!**)

26.02.14

Weil du schneller rennen musst
als du überhaupt kannst,
nur um auf deiner Sprosse der Leiter
stehenzubleiben,

 

bist du so flexibel geworden,
dass du inzwischen
deinem unternehmerischen Selbst
selbst in den Arsch kriechen kannst.

 

Hauptsache, du bist bald nicht mehr
auf diese miesen Jobs angewiesen,
weil du endlich
eine Stelle ergattern konntest.

 

Aber egal, denn:
Je mehr Weltuntergangsszenarien versagen,
desto höher die Wahrscheinlichkeit,
dass das nächste stimmt.

 

*
**

Sommersplitter – Irrenhaus

Immer im Sommer kommen die Irren raus, Bonnys Ranch* entlässt sie zur Ferienfreizeit in die große Stadt. Das war schon damals im selbstverwalteten Ausschankbetrieb aka Unicafe nicht anders: So sicher wie zum Semesterende der Sommeranfang nahte, tauchten um dieselbe Zeit der Exhibitionist, der Tabakschnorrer und der Brüller auf der Bildfläche auf.**

Jetzt war es eben einer, der zwei Seiten des Gästebuchs vollschrieb, psychiatrieerfahren auch er, wie er freimütig einräumte, in einem Nebenstrang des handlungslosen Werkes. Er erzählte etwas davon, dass Mühsam hier ermordet worden wäre, was Quatsch ist. Konnte er natürlich nicht wissen, er hat sich ja nichts angesehen. Kam rein, setzte sich hin, schrieb seinen Stiefel runter und ging wieder. Zwischendurch wischte er sich kurz mit dem T-Shirt den Schweiß aus dem Gesicht, wobei sein überaus fleischiger Körper zum Vorschein kam. Die Hitze! Eigentlich ging es ihm aber darum, dass Wasser ja ein Gedächtnis hat und deswegen auch alle Kleidungsstücke oder Brillen, die wir tragen, letztlich Holocaustopfern gehörten, womit wir schwingungstechnisch mit ihnen verbunden wären, sie aber eben auch weiter schändeten und ausbeuten würden. Sieht man ja auch an der Beutekunst. So etwa in der Art.

Später auf dem S-Bahnsteig versuchte einer, die Aufmerksamkeit zweier auf dem Boden sitzender junger Frauen zu erlangen. Indem er sich auch auf den Boden setzte, den beiden mit der Zwei-Finger-Richtung-eigene-Augen-Geste aber vorher unmissverständlich bedeutete, ihn genau zu beobachten. Als er dann saß, klemmte er sich den rechten Fuß hinter den Kopf und begann, seine Asianudeln zu essen. Eher abgestossen als interessiert standen die Mädels auf und gingen. Enttäuscht tat er es ihnen gleich, erhob sich mit dem Bein hinterm Kopf und hüpfte ein paar unbeholfene Sätze, bis er neue Opfer fand.

Da es Sonntag war, lag der sonst sehr belebte S-Bahnhofsvorplatz ganz ruhig und friedlich in der Gegend rum, die Einkaufszentren hatten geschlossen, selbst von den vietnamesischen Zigarettenhändlern keine Spur. Bevor ich unverhofft und mit sehr mulmigem Gefühl durch ein imposantes Spalier aus Rockernazis vor ihrer Parteizentrale laufen durfte, las ich mir noch die signalrote Kundeninformation im Woolworth-Schaufenster durch. Wegen der hohen Qualitätsansprüche, mit denen giftige Farbstoffe nun mal nicht zu vereinbaren sind, werden WM-Schminkstifte zurückgerufen. Drei Wochen nach dem Finale. Nicht nur mit Dummheit geschlagen, sondern jetzt auch noch von Krebs bedroht, könnten einem fast leid tun.

Der letzte Verrückte des Tages begegnete mir auf der abendlichen Hunderunde. Gerade, als ich mir einen wirren Zettel durchlas, der behauptete, am oder im Kanal gäbe es einen MORD, und die Polizei würde natürlich nichts tun, sah ich ein paar Meter weiter einen Typen auf dem Gehweg knien und etwas auf den Boden kritzeln. Dann stand er auf, ging ein paar Meter weiter und wiederholte das Ganze. Hä? Stand auf den Kanaldeckeln, mehrfach. Als ich ihn ansprach, sah ich in seiner Tasche neben mehreren Eddings auch noch ein paar der MORD-Zettel in Klarsichthüllen. Wie, Häh? Fragte ich ihn, das interessierte mich schon. Ob ich mich noch nie gefragt hätte, was das hier sei? Antwortete er und deutete auf die Deckel. Na so Einstiege, Kanalisation und so weiter, meinte ich. Aber es waren ihm zu viele auf einen Haufen, und überhaupt. Er stelle ja nur Fragen, aber das sei doch schon alles sehr verdächtig. Sprach’s und kritzelte weiter auf die nächsten Deckel, in jede der vier Ecken ein grünes Häh?. Ich versuchte es noch mit dem Argument, dass schliesslich direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite ein Pumpwerk sei und deshalb so viele Kanäle und Deckel dazu gar nicht so ungewöhnlich in dessen Nachbarschaft, aber er liess sich nicht beirren. Ich überlegte noch kurz, ob ich ihn auf das Thema Chemtrails und was er so davon hält ansprechen sollte, ging dann aber lieber meiner Wege.

Der Wahnsinn, der mir aber viel mehr Angst macht (neben dem eigenen, natürlich), ist, dass es im nächstgelegenen Einkaufszentrum (nur wegen des Optikers, alle Jubeljahre mal), also in der Shopping Mall, jetzt eine Brow Bar gibt. Man fällt von der Rolltreppe fast drauf, könnte auch gut eine Saftbar sein, auf den ersten Blick. Aber da verdienen Menschen ihr Geld, das ihrer Chefs, der Sekretärin und die Miete für den Stand damit, vor aller Augen anderen Leuten die Brauen zu zupfen. Die einzige Kundin, die ich ausmachen konnte, trug eine dieser Porno-Jeans-Hotpants. Mit den deutlich sichtbaren Hosentaschen. Was ja eben Mode sein mag, aber auch eine Aussage in sich birgt. Vor allem, wenn dieses Hosentaschenfutter neongrün ist.

‚cause inside out is wiggida wiggida wiggida wack

 

* Aus einem ca. 10-15 Jahre alten Briefwechsel, als ich mit den Gepflogenheiten in Berlin noch nicht so vertraut war:

 

übrigens, mal kurz vom thema abschweifend: als ich noch ziemlich neu in Berlin war, fragte mich jemand in der U-Bahn, ob „Bonnys Ranch“ schon vorbei war. Ich kombinierte ziemlich schnell, dass dieser Mensch eine Station meinte, und schaute auf den Plan, der in der Bahn hing. Ich fand aber beim besten Willen kein Station mit dem Namen „Bonnys Ranch“ und zuckte mit den Schultern. Dann blickte mich der Typ an und sagte „Na du bist wohl nicht von hier, wa?!“. Als ich dann die Karte näher betrachtete, wusste ich, was er meinte: die Dietrich-Bonhoeffer-Nervenklinik. Bonnys Ranch!

** Aus einem ungefähr genauso altem Text, das Thema beschäftigt mich also schon länger:

Normalerweise wacht man dann in der Friedrichstrasse auf, zum Beispiel, weil da so viel Leute ein- und aussteigen. Und in der ganzen in den Waggon quellenden Masse sind auch immer ein paar Verrückte. Letztens war eine Frau dabei, die vor jeder Station laut und voller Überzeugung sachlich richtig die nächstfolgende Station ansagte. Man konnte das genau auf dem Display und anhand der Tonbandstimme, die Zehntelsekunden nach dem die verwirrte Frau ihr Statement beendet hatte, anfing zu scheppern, überprüfen. Komisch nur, dass die Tonbandstimme und das Display von Niemanden für verrückt gehalten wurden, schließlich hätte die verwirrte Frau ja auch das neue Kundenerfreungskonzept der BVG sein können.

Nachdem ich dann am Alex ausgestiegen bin, der wohl auch nicht mehr lange so bleibt wie er ist, nämlich ziemlich hässlich, sondern noch hässlicher werden soll, begegnen mir noch mehr Verrückte.

Ein Mann steht im Novemberwinterwetter mitten auf dem kahlen Platz, entsprechend gekleidet, also auch kahl, splitterfasernackt, und ruft abwechselnd zwei Sätze in die Rostbratwurstluft: „Ich bin Jesus“ womit er sich einig ist mit vielen anderen Berlinern, und „Kein schwuler Bürgermeister für Berlin“ – dort dürfte die Einigkeit nicht ganz so ausgeprägt sein wie bei seinem ersten Satz. Ich frage mich, ob das in anderen Großstädten Deutschlands auch so ist. Vielleicht liegt es aber auch an den Streckmaterialien Berliner zwischeninstanzlicher Drogenverschneider. Schließlich gibt es hier kaum kriminelle, also bedrohliche Verrückte, sie sind eher alle lustig, als ob sie Klone von Dieter Kunzelmann wären. Wenn man die wöchentlichen Spiegel-TV Berichte über den Drogenstandort Hamburg im Hinterkopf hat, dann ist Berlin doch ein harmloses Variete der Minderbemittelten – es wird einem ja nichts gestohlen hier, sondern eher etwas geboten.

 

(Die Pause geht übrigens weiter, das war nur eine kleine Unterbrechung.)