Freier Markt

29.06.15

Bei den Millionen, die hier wohnen,

wird sich’s wohl lohnen, keinen schonen,

lassen sich doch alle klonen, sind wie Drohnen,

kippt einer um rückt der Nächste nach.

 

Keine Bange, die stehen lange

in der Schlange, Stunden, Nächte, dank dem Zwange

durchzuhalten, andre Wange, Ankunft Ende Fahnenstange,

haben keine Wahl.

 

 

Zwei Fragmente, oder: Eine Art Antwort

I. Früher, vor über zwei Monaten
Der Krieg hängt schief, nur noch durch eine Reißzwecke mit der Wand verbunden, und flattert im Wind. Ich hatte ihn aus Hamburg mitgebracht, das Plakat zur Dix-Aussstellung, von allen für gruselig befunden, auch von der Garderobenfrau der Kunsthalle, die mir half, es graulegal einfach von der Wand zu nehmen; sie mochte es sowieso nicht.

Und jetzt, von den allabendlichen Stürmen, die vor den Gewittern kommen, wurde der Krieg zerzaust, hängt nur noch an einem Knopf an der Wand, als ob er wüsste, dass es hier zuende geht, er sowieso bald in der Umzugskiste verschwinden würde. Und ausserdem: Krieg ist ja eh gerade genug, gar so viel, dass er nurmehr zur Kenntnis genommen wird.

II. Derzeit
Irgendwie komplett aus der Bahn, passend zur Gesamtsituation. Schreiben versteckt sich noch, wartet in einer verstaubten Spinnenwebenecke darauf, abgeholt zu werden. Mit dem Lesen ist es auch nicht viel besser.

Obwohl: Die alten Titanic-Jahrgänge, geerbt & mitgenommen, nach und nach: Perfekte Klolektüre. Mit viel infantilem Müll, aber auch Perlen. Sogar etwas gelernt: Ich musste es ungläubig nachschlagen, aber es stimmt: Das Innenministerium in Ungarn heisst in der Landessprache Belügyminisztérium. Passend, irgendwie. Das ist alles so absurd.

Nicht mal geschafft, bei den zwei, drei Lieblingsblogs nach und nach wieder auf den neuesten Stand zu kommen. Spiegel online, mal kurz nachgeschaut, das war das Maximum in den letzten Wochen. Und die bringen gefühlt jeden Tag einen Artikel über Keith Richards – da läuft doch garantiert irgendein Deal mit dem Management dachte ich mir, wen zur Hölle interessiert denn noch Keith Richards? Täglich?

Ansonsten hatten sie noch eine Knallermeldung zur Drogenszene in Ulm: Es wurden acht Dealer mit insgesamt 250 Gramm Gras hops genommen. Woanders würde das unter Eigenbedarf verbucht werden, Einunddreissigeinviertelgramm pro Nase.

Am selben Tag, abends, oder am nächsten morgens, in der Realität, die mir viel zu viel Zeit stiehlt gerade (aber ich habe es mir ja selbst ausgesucht), eine Erinnerung aufgefrischt, die schon bald Jahrzehnte im Archiv lag: Menschen, die so betrunken sind, dass sie sich unbedingt prügeln wollen. Die sich dann auch nach langem Hin und Her ein paar einfangen. Und es hat mich nicht mal aufgeregt, Adrenalin hatte schon Feierabend, halb Fünf war’s.

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Lagebericht

Samstagnachmittag, die Stadt dampft noch; oder wieder – jedenfalls ein letztes Aufbäumen des Sommers, wenn man dem Wetterbericht vertraut. Politik war hier lange absent, beabsichtigt. Sprachlosigkeit allerorten angesichts der erschreckenden, überspitzten Parallelen, die sich zum Anfang der 90er Jahre auftun wie Abgründe. Statt alle paar Wochen brennt jetzt jeden Tag irgendwo eine Unterkunft von Asylsuchenden. Andererseits: Beständig, mindestens seit Anfang der 90er Jahre. Und schon viel länger, fürchterlich fruchtbarer Schoß, könnte man fast eine anthropologische Konstante dahinter vermuten.

Auf dem Weg zum 20jährigen Geburtstag des Schöneberger Jugendmuseums, dreissig Prozent Lust, siebzig Prozent Pflicht, sich langsam umkehrend im Laufe des Abends. Mit dem Rad durch Moabit, Tiergarten, Schöneberg  – die Eisenacher vom Anfang bis zum Ende. Viel öfter jetzt durch den Tiergarten als früher, obwohl er da viel näher dran war. Die Else, auf dem Rückweg immer noch ungleich schöner, in der Abendsonne, die von Tag zu Tag besser wird. Herbstvorfreude.

Freigehalten, trotz der alles andere als lästigen Verpflichtungen, hatte ich mir den Film, der so gar nicht zu der Feierlaune passte. Und sich doch gut in den Abend einfügte – nicht ohne Grund wurde dieses Museum vor 20 Jahren genau so aufgezogen, mit diesem IntegrationsInklusionsWasauchimmer-Ansatz. Der sich durchaus bewährt hat, vieles wurde richtig gemacht, vieles gemacht überhaupt. Auf der anderen Seite (und einer anderen Baustelle) versucht ebenjener Bezirk gerade, das älteste selbstverwaltete Jugendzentrum der Stadt aus den angestammten Räumen zu drängen.

Deshalb also – und natürlich wegen der schockstarren Aktualität – passte „Solingen 93/13“ so gut in das Festprogramm, wenn auch mit hartem Schnitt. Der Film ist zwanzig Jahre nach Solingen entstanden, etwas über eine halbe Stunde lang und besteht hauptsächlich aus Interviews und Gedankenmonologen des Regisseurs Mirza Odabaşı. Der im Übrigen den Film fast komplett selbst gestemmt hat, bis zur Finanzierung. Die im Abspann so schön zu lesende Förderung durch den nordrhein-westfälischen Integrationsrat kam – wie er nach der Vorführung trocken bemerkte – erst im Nachhinein.

Es ist das Werk eines (wenn ich mich recht erinnere) Fünfundzwanzigjährigen – und dafür recht beachtlich, nicht zuletzt wegen der Gesprächspartner, die er gewinnen konnte. Eine gute Mischung, das Spektrum reicht von Afrob bis Michel Friedman, der so gar nicht auf Krawall gebürstet war und bedächtig-kluge Sachen sagte. Höhepunkt des Films ist fraglos das Interview mit Mevlüde Genç, der Frau, die durch den rassistsichen Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor, vor ihren Augen. Schon allein deshalb ist er sehenswert.

Sicherlich, Mirza Odabaşı hätte weiter gehen können. Vergiss nicht, Thilo Sarrazin ist kein Mitglied einer rechtsradikalen Partei. gibt er zu bedenken – dass Sarrazin immer noch SPD-Mitglied ist, hätte man durchaus erwähnen können, auch um die gesellschaftliche Verfasstheit dieses Landes richtig auszuleuchten.

Doch seine Interviewpartner übernehmen diesen Schritt teilweise für ihn, etwa wenn Cem Özdemir von Trauer zweiter Klasse spricht, oder Michel Friedman meint: Ich habe im Deutschunterricht das Wort untersensibel nie gelernt, also gibt es das Wort übersensibel auch nicht. Es gibt sensibel oder nicht sensibel.

Ich konnte nach dem Film nicht mehr lange still, nicht mehr lange sitzen bleiben, musste raus in die Spätsommerabendluft tauchen, noch ein Getränk und dann durch die Nacht nach Hause fahren. Dachte mir noch, dass der Film gut war, aber dass Glumms Solingen-Erinnerungen mich noch mehr gefesselt hatten. Dass man vielleicht beides zusammen bringen sollte, und noch viel mehr. Doch wann ist ein Bild komplett? Und dass immer noch – ich hab es schon öfters erwähnt, ich weiss – The Truth Lies in Rostock derjenige Film ist, der mir zum Thema am heftigsten den Stecker zieht. Subjektiv, natürlich, und begründet.

Und dass es schon schön ist, dass so viele Leute sich an so einem heissen Abend zusammendrängen in schlechter Luft und solche Filme ansehen, aber sie ja in der Zeit auch irgendwo konkret Hilfe leisten könnten. Doch kurz bevor ich unter der Schering-Werbung abbog, die schon lange vom Mutterkonzern geschluckt wurde, verwarf ich diesen Gedanken gleich wieder, weil ich in den letzten Wochen – neben den Abgründen – auch erstaunlich viel Hilfsbereitschaft und Empathie aus den überraschendsten und unterschiedlichsten Ecken mitbekommen habe, meist ganz still & wie selbstverständlich geleistet. Und wusste dann nicht genau, ob es an der Spätsommernacht lag, dass ich auf einmal fast in versöhnlicher Stimmung war. Oder ob es wirklich Hoffnung gibt. An der neuen Haustür klebte ein Zettel mit dem allgegenwärtigen Refugees welcome-Logo und einem Aufruf, Schulsachen zu spenden. Die Ferien sind vorbei.

Mirza Odabaşı: Solingen 93/13, vom Regisseur dankenswerterweise selbst auf Youtube zur Verfügung gestellt.