Lagebericht

Samstagnachmittag, die Stadt dampft noch; oder wieder – jedenfalls ein letztes Aufbäumen des Sommers, wenn man dem Wetterbericht vertraut. Politik war hier lange absent, beabsichtigt. Sprachlosigkeit allerorten angesichts der erschreckenden, überspitzten Parallelen, die sich zum Anfang der 90er Jahre auftun wie Abgründe. Statt alle paar Wochen brennt jetzt jeden Tag irgendwo eine Unterkunft von Asylsuchenden. Andererseits: Beständig, mindestens seit Anfang der 90er Jahre. Und schon viel länger, fürchterlich fruchtbarer Schoß, könnte man fast eine anthropologische Konstante dahinter vermuten.

Auf dem Weg zum 20jährigen Geburtstag des Schöneberger Jugendmuseums, dreissig Prozent Lust, siebzig Prozent Pflicht, sich langsam umkehrend im Laufe des Abends. Mit dem Rad durch Moabit, Tiergarten, Schöneberg  – die Eisenacher vom Anfang bis zum Ende. Viel öfter jetzt durch den Tiergarten als früher, obwohl er da viel näher dran war. Die Else, auf dem Rückweg immer noch ungleich schöner, in der Abendsonne, die von Tag zu Tag besser wird. Herbstvorfreude.

Freigehalten, trotz der alles andere als lästigen Verpflichtungen, hatte ich mir den Film, der so gar nicht zu der Feierlaune passte. Und sich doch gut in den Abend einfügte – nicht ohne Grund wurde dieses Museum vor 20 Jahren genau so aufgezogen, mit diesem IntegrationsInklusionsWasauchimmer-Ansatz. Der sich durchaus bewährt hat, vieles wurde richtig gemacht, vieles gemacht überhaupt. Auf der anderen Seite (und einer anderen Baustelle) versucht ebenjener Bezirk gerade, das älteste selbstverwaltete Jugendzentrum der Stadt aus den angestammten Räumen zu drängen.

Deshalb also – und natürlich wegen der schockstarren Aktualität – passte „Solingen 93/13“ so gut in das Festprogramm, wenn auch mit hartem Schnitt. Der Film ist zwanzig Jahre nach Solingen entstanden, etwas über eine halbe Stunde lang und besteht hauptsächlich aus Interviews und Gedankenmonologen des Regisseurs Mirza Odabaşı. Der im Übrigen den Film fast komplett selbst gestemmt hat, bis zur Finanzierung. Die im Abspann so schön zu lesende Förderung durch den nordrhein-westfälischen Integrationsrat kam – wie er nach der Vorführung trocken bemerkte – erst im Nachhinein.

Es ist das Werk eines (wenn ich mich recht erinnere) Fünfundzwanzigjährigen – und dafür recht beachtlich, nicht zuletzt wegen der Gesprächspartner, die er gewinnen konnte. Eine gute Mischung, das Spektrum reicht von Afrob bis Michel Friedman, der so gar nicht auf Krawall gebürstet war und bedächtig-kluge Sachen sagte. Höhepunkt des Films ist fraglos das Interview mit Mevlüde Genç, der Frau, die durch den rassistsichen Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor, vor ihren Augen. Schon allein deshalb ist er sehenswert.

Sicherlich, Mirza Odabaşı hätte weiter gehen können. Vergiss nicht, Thilo Sarrazin ist kein Mitglied einer rechtsradikalen Partei. gibt er zu bedenken – dass Sarrazin immer noch SPD-Mitglied ist, hätte man durchaus erwähnen können, auch um die gesellschaftliche Verfasstheit dieses Landes richtig auszuleuchten.

Doch seine Interviewpartner übernehmen diesen Schritt teilweise für ihn, etwa wenn Cem Özdemir von Trauer zweiter Klasse spricht, oder Michel Friedman meint: Ich habe im Deutschunterricht das Wort untersensibel nie gelernt, also gibt es das Wort übersensibel auch nicht. Es gibt sensibel oder nicht sensibel.

Ich konnte nach dem Film nicht mehr lange still, nicht mehr lange sitzen bleiben, musste raus in die Spätsommerabendluft tauchen, noch ein Getränk und dann durch die Nacht nach Hause fahren. Dachte mir noch, dass der Film gut war, aber dass Glumms Solingen-Erinnerungen mich noch mehr gefesselt hatten. Dass man vielleicht beides zusammen bringen sollte, und noch viel mehr. Doch wann ist ein Bild komplett? Und dass immer noch – ich hab es schon öfters erwähnt, ich weiss – The Truth Lies in Rostock derjenige Film ist, der mir zum Thema am heftigsten den Stecker zieht. Subjektiv, natürlich, und begründet.

Und dass es schon schön ist, dass so viele Leute sich an so einem heissen Abend zusammendrängen in schlechter Luft und solche Filme ansehen, aber sie ja in der Zeit auch irgendwo konkret Hilfe leisten könnten. Doch kurz bevor ich unter der Schering-Werbung abbog, die schon lange vom Mutterkonzern geschluckt wurde, verwarf ich diesen Gedanken gleich wieder, weil ich in den letzten Wochen – neben den Abgründen – auch erstaunlich viel Hilfsbereitschaft und Empathie aus den überraschendsten und unterschiedlichsten Ecken mitbekommen habe, meist ganz still & wie selbstverständlich geleistet. Und wusste dann nicht genau, ob es an der Spätsommernacht lag, dass ich auf einmal fast in versöhnlicher Stimmung war. Oder ob es wirklich Hoffnung gibt. An der neuen Haustür klebte ein Zettel mit dem allgegenwärtigen Refugees welcome-Logo und einem Aufruf, Schulsachen zu spenden. Die Ferien sind vorbei.

Mirza Odabaşı: Solingen 93/13, vom Regisseur dankenswerterweise selbst auf Youtube zur Verfügung gestellt.

Umzüge etc.

Samstag: Nach der Arbeit, spontan freiwillig ausgeholfen und komplikationslos absolviert, endlich dazu gekommen, die urls zu mieten. Demnächst wird es hier ernst, dunkel und eventuell erst einmal etwas stiller. Wenigstens ein Umzug, dem ich mit Freude entgegensehe: Endlich das umsetzen, womit ich mich schon fast zwei Monate werktags beschäftige, warum ich unter der Woche so viel zu tun habe & zu so wenig komme.

Aber Samstag, also Wochenende: Rucksack in die Ecke und wieder raus. Den Nachbarjungen, der auf dem Skateboard aus der Einfahrt schiesst, noch kurz abgeklatscht, am Hoffmann vorbei und aus der Ferne gegrüsst. Für den längeren Weg Richtung O-Platz entschieden, dafür aber komplett den alten, zugeschütteten Kanal lang gelaufen. Sonnenuntergang.

Schon von weitem sind die Bässe zu spüren. Je näher ich komme, desto mehr Leute um mich rum. Immerhin ist es also noch nicht ganz vorbei. Noch ein paar Schritte, dann kann man alles, was von der Bühne kommt, gut verstehen. Im Moment: Redebeiträge. Ich drehe eine halbe Runde um den gut gefüllten Platz, bis zum Brunnen, auf der Suche nach meiner Bezugsgruppe. Wir hatten uns lose verabredet; wenn, dann würden sie wohl hier ihr Lager aufschlagen.

Ein paar bekannte Gesichter ausgemacht, ein paar Schwätzchen gehalten. Die Bezugsgruppe meldet per SMS, dass sie noch im Hahn sitzen. Nein, denke ich mir, das wär mir grad zu rauchig und eng, da bleibe ich lieber hier. Ebenso eng bisweilen, je näher man zur Bühne kommt jedenfalls, und interessant riechende Rauchschwaden, klar – aber frische Luft, nette, friedliche Menschen und die Musik setzt auch wieder ein, nach einem Appell zur besonders unschönen Lage der geflüchteten Frauen, der mit den Worten „Herzlich willkommen zu einer weiteren sexistischen Veranstaltung“ eingeleitet wurde.

Doch die Musik ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin: Der Oranienplatz war der Stachel inmitten der Stadt, Symbol für die versagende Asylpolitik. Jeder von denen, die an diesem Ort vor Jahren ihr Lager aufschlugen, stand für werweisswieviele, die auf dem Weg hierher auf der Strecke blieben. Kurz zuvor hörte man wieder von  400 Ertrunkenen, in der Nacht darauf sollten mindestens 700 weitere dazu kommen. Nicht die, die es schaffen, sind das Problem, sondern die, die auf der Strecke bleiben – oder besser: Das Warum des auf der Strecke Bleibens, die Gründe für die Flucht und ihres vielfältigen Scheiterns sind das Problem, und dessen Ursachen liegen bei uns, zuhauf.

Aus den kurzen Gesprächen beim Rundgang war zu erfahren, dass ich sowohl Peter Fox als auch Zugezogen Maskulin verpasst hatte. Blieben also noch Irie Révoltés. Die spielten allerdings für Zehn und rissen die locker auf eine fünfstellige Zahl angewachsene Menge gut mit. Zu „Antifaschist“, wenn ich mich recht erinnere, gab es dann eine ausgeklügelte ortstypische Choreografie mit Feuerwerk und Transpis vom Dach, mittlerweile war es dunkel, passte alles. Und auf das Dach der Bushaltestelle passten 25 hüpfende Menschen.

Dann das übliche Spontandemo-Katz-und-Maus-Spiel, Zivis mit rasierten Köpfen, was den Knopf im Ohr gut erkennbar macht. Wir schauten uns das von der Seitenlinie aus eine Weile an, bis die Füße in den Chucks kalt wurden.

Der Hahn war nur über Umwege zu erreichen, ansonsten wie immer & erwartet. Deshalb (und auch, weil ich keinen Barhocker mehr erwischte) trieb es mich nach nicht allzu langer Zeit wieder nach draussen, frische Luft schnappen. Allerdings erschienen direkt hinter der geöffneten Tür ziemlich viele ziemlich breite uniformierte Rücken. Ich blieb dann doch erst mal in der Kneipe, dafür stürmte eine andere Fraktion aufgekratzt aus der Tür. Bedeutete: Einen Sitzplatz für mich.

Als das Geschehen sich etwas später verlagert hatte, nahm ich doch noch mal draussen auf den Stufen Platz, die Sirenen kamen aus Richtung Skalitzer, wo sich auch die schmalen Menschenströme hinbewegten, in der lauen Kreuzberger Frühlingsnacht. Der betrunkene Mann neben mir fragte, was denn gerade abgehe, irgendwer meinte wohl, heute würde der Kiez noch Kopf stehen, er hätte nichts mitbekommen, musste ja die ganze Zeit hinterm Tresen stehen.

Ich gab ihm eine Zusammenfassung von dem Wenigen, was ich berichten konnte, das „Eigentlich wie immer“ zum Schluss hätte vollkommen ausgereicht, eigentlich. Aber er wollte es ja genau wissen. „Den Ku’damm müsste man mal wieder platt machen“ sagte er, „jetzt, wo sie den wieder so schön aufpoliert haben. So wie damals in den 80ern, das ging ruck-zuck, von der TU-Mensa aus!“

„Jedenfalls besser als die O-Strasse…“ versuchte ich mich diplomatisch zu geben, und wollte eigentlich noch ein „Die Zeiten sind eh vorbei.“ nachschieben, aber er redete schon munter weiter. „Damals brauchtest du nur drei vernünftige Leute oben auf der Bühne, und die 2.500 unten kamen mit zum Ku’damm. Das dürfte doch kein Problem sein, ein paar Leute zusammen zu kriegen, mit der Technik heutzutage. Den Ku’damm müsste man mal wieder platt machen!“

Als ich wieder zur Tür rein kam, wurde gerade einem anderen betrunkenen Kerl ein Glas Leitungswasser quer über den Tresen ins Gesicht geschüttet, mit ordentlich Schwung. Wohl wegen penetranter sexistischer Kackscheisse.

Blöd eigentlich, dass da noch ein anderer Umzug ansteht.