Randnotiz: Man kann gar nicht so viel fressen…

(Kategorie Koinzidenz)

Eben höre ich auf DLF:

„Bundespräsident Gauck besucht zur Stunde syrische Flüchtlinge im niedersächsischen Grenzdurchgangslager Friedland. In Gesprächen will er sich über die Lebenssituation der Menschen aus dem Bürgerkriegsland informieren.“

Keine fünf Minuten vorher las ich beim ndr (via che):

„Und auch der deutsche Geheimdienst hat hier ein Büro. Genauer, die „Hauptstelle für Befragungswesen“ (HBW), eine Einrichtung, die eng mit dem Bundesnachrichtendienst zusammenarbeitet und direkt dem Kanzleramt unterstellt ist. In Keller von Haus 16 befragt die HBW Flüchtlinge und Asylbewerber aus Afghanistan, Syrien oder Somalia – und teilt die Informationen dann mit den Geheimdiensten der USA und Großbritanniens. Die lassen die Informationen in die Planungen militärischer Operationen einfließen.“

Nun, Gauck wird seine Gespräche wahrscheinlich nicht im Keller von Haus 16 führen, zu schlechtes Licht für die Kameras. Und über die Gespräche der anderen dort wird unser Bundespräsident wohl kein Wort verlieren.

Nur soviel zum Tod von Hildebrandt: Die eine Nachricht wird Stunde für Stunde im Staatsrundfunk gesendet, die andere auf einem Regionalsender um kurz vor elf versendet. Menschen werden durch die Städte, Dörfer und Medien gejagt, weil sie nicht „hier her passen“. Ich fürchte, es bräuchte dutzende Hildebrandts, die allesamt noch dutzende Jahren lebten und schafften, um die Dummheit und Ignoranz hierzulande auf ein erträgliches Maß zu senken. Stattdessen wird bei der Tagesschau-Meldung oder folgenden Spezial-Sendungen zu seinem Ableben kurz geseufzt – „wieder einer von den guten, so schade“ – und weiter gemacht.

Früher

Da ich immer noch an dem längeren Text bastele (die Spannung steigt…), schwelge ich in letzter Zeit vermehrt in Erinnerungen. Das mag auch an dem Tag für Tag voranschreitenden Alter liegen, und natürlich am Berlin-November.

Meine Samstags-Aktivitäten taten ihr Übriges dazu: Erst war ich, aus familiären Gründen, im Kabarett. Der ewige Sidekick von Didi lud um 16 Uhr zur Rentnervorstellung, tief im Westen. Die Wilmersdorfer Witwen waren begeistert. Zu Recht. Auch wenn sie wohl nicht genau wussten, wovon die Rede war, als sich über Podcasts und Google instant lustig gemacht wurde.

Den Abend und die Nacht verbrachte ich dann im Wedding, sowas kommt eher selten vor. Der Grund dafür war eine sehr feine Hausparty: Eines der wenigen Relikte aus der alten Westberliner Hausbesetzerzeit feierte, wie jedes Jahr, den Beginn der Instandbesetzung – 30 Jahre ist das jetzt her. Die Hausgemeinschaft sorgte für eine sehr angenehme Atmosphäre, die Wohnungstüren standen weit auf, die Dekoration war angemessen, die Leute waren nett. Es war alles da, was mensch brauchte, um sich wohlzufühlen: Ein Kicker-Raum, einer mit Videospielen, in einer Wohnung gab es laute Stromgitarrenmusikonzerte, in anderen wurde meist gute Musik aufgelegt und natürlich gab es auch – selbst um 4.30 Uhr – leckeres Vokü-Essen. Eben – wie früher. Zum Glück gibt’s sowas noch in dieser Stadt.

Eigentlich wollte ich aber nur auf ein anderes Früher hinweisen: Heute vor 20 Jahren nahmen Nirvana in New York ihr unplugged-Album auf. Wat bin ich alt. Das kann ich jetzt auch als Entschuldigung dafür nehmen, dass es für mich wohl nichts mehr geben wird, was den dreien (zugegeben, hauptsächlich Kurt) je das Wasser reichen könnte. Auf reddit gibt es ein paar Anekdoten von jemanden, der live dabei war. Und sie scheinen genügend geübt zu haben, um „the man who sold the world“ zu spielen. Zum Glück, denn wie ein Kommentar zu dem Video unten schreibt:

„Thanks. That was a David Bowie song“. NOT ANYMORE.
Also stell ich jetzt mal den spanisch-untertitelten Youtube-Mitschnitt hier rein. Es ist der einzige, den ich auf die Schnelle gefunden hab. Good ol‘ times.

Gedenken zum Wochenende

Zwei Jahre, einen Monat und einen Tag ist es her.

 

occupy

Und viel mehr Leute, als auf diesem Bild zu sehen sind, waren auch nicht da (Immerhin, natürlich war der obilgatorische Ströbele mit dem obligatorischen Fahrrad anwesend, auch wenn er auf dem Bild nicht so einfach zu finden ist). Sollte man dieser Sache hinterhertrauern? Sollte man auf eine Wiederbelebung hoffen? Keine Ahnung, ich hab’s aufgegeben, längst. Und doch auch nicht, irgendwie.

Meine WG-Vorgängerin – oder wer auch immer es war – hängte an die Toilettenrollenhalterung einen Aphorismenband von Lichtenberg. Passend zu dem Bild (deswegen überhaupt das Posting hier) las ich darin heute morgen:

Die eine Hälfte unserer Landsleute ist mit in den großen kritischen Aufstand und in das Rezensieren omnium contra omnes so verwickelt, daß sie nicht hört, und die andere liegt in einem empfindlichen Schlummer und hört und sieht nicht, was um sie vorgeht…

Erstaunlich, wie lange es das Internet mit seinen Filterblasen schon gibt…

Der Radfahrer

26.10.2013

Genaugenommen war das Berliner Nachtleben schuld. Wäre ich gestern nicht so versackt, dann hätte ich heute mit dem Hund rausfahren können und wäre gar nicht am Kanal lang gegangen. Obwohl mir dann einiges entgangen wäre.

Zuerst einmal war das Wetter natürlich wunderbar: Der Herbst wird sowieso viel zu wenig gewürdigt, das war in früheren Zeiten durchaus schon mal anders. Wenn die Sonne noch mild scheint und die Blätter aber schon rostigbunt in Haufen am Boden liegen, dann ist das mindestens genauso toll wie wenn im Frühling die ersten Blumen blühen und es überall spriesst und grünt. Nur, dass sich der Hund mit seiner Fellfärbung in den Laubhaufen viel besser tarnen kann, von dem Spass des kopfüber in sie Hineinspringens ganz zu schweigen. Und auch der Radfahrer wäre mir entgangen.

Ich kreuzte gerade die Prinzenstrasse, stand oben auf der Brücke und genoss den Ausblick: In der Ferne war die Heilig-Kreuz-Kirche in ein atemberaubendes Abendrot getauft, dass es nur zu dieser Jahreszeit und mit viel Glück gibt, und unter ihr schimmerte der Kanal. Der Winter lag bereits in der Luft, ich war vor nicht mal einer Stunde aufgebrochen und jetzt dämmerte es schon.

Als ich meine Schritte Richtung Uferweg lenkte, den Abhang hinab, sah ich ihn von weitem das erste mal: Ein grossgewachsener, hagerer, knochiger alter Mann, der kerzengrade auf seinem schlichten alten Herrenrad sass, ab und an seinen Hut festhielt, damit dieser nicht wegflog, ansonsten aber gemächlich und zufrieden in die Pedalen trat. Auch ich war relativ langsam unterwegs, da der Hund jeden einzelnen Laubhaufen genauestens inspizieren musste.

Je näher wir uns jedoch kamen, desto schneller wurde der Radfahrer. Und desto kleiner und wilder.

Ungefähr bei der Mitte der Steigung kreuzten sich unsere Wege, inzwischen schien der Radfahrer weit jünger als ich, er wirkte frisch und aufgedreht und sass auf einmal auf einem BMX-Rad. Sein Hut war längst verschwunden und ihm klebten ein paar verschwitzte Strähnen des langen vollen Haares in der Stirn. Er trat kräftig in die Pedalen und würdigte mich keines Blickes, seine Aufmerksamkeit lag vollkommen auf der Bewältigung des Anstiegs. Ich blieb stehen, um nach dem Hund zu schauen, wobei ich dank der Tarnfarbe einige Mühe hatte, ihn zu finden.

Sobald der Hund wieder halbwegs an meiner Seite war, liess ich meine Augen dann wieder nach dem wundersamen Radfahrer schweifen. Er war schon fast oben an der Brücke angekommen, inzwischen im Vorschulalter und auf einem Puky-Rad mit Stützrädern fahrend. Dabei umkreiste er lachend eine Gruppe finster dreinblickender Nachwuchsgangster und rief: „Auch ihr werdet es irgendwann verstehen: Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen!“ Dabei läutete er wie wild mit seiner Tigerentenklingel und fuhr nach zwei weiteren Schleifen um die Gruppe wieder in wilder Fahrt bergab. Als er an mir vorbeirauschte, sah er auf seinem Rennrad fast ein wenig wie der junge Jan Ullrich aus.

Natürlich setzte ich meinen Weg unbeirrt fort, in Kreuzberg siehst du so was jeden Tag. Ausserdem hatte ich der alten Pennerin, die weiter vorne wie jedes Jahr ihr Winterlager mit Einkaufswagen und Zeltplanen aufgestellt hatte, versprochen, auf dem Rückweg ein Sterni und einen Kurzen mitzubringen. Und ich halte meine Versprechen. Als wir mit kalten Fingerknöcheln dann das Feierabendbier zusammen tranken und der Hund mit einem Dönerrest aus dem blattlosen Gebüsch kam, erzählte sie mir, dass der Radfahrer dieses Spektakel jeden Abend veranstaltet: „Ick weeß bloss nich, wat der mit diese Sissy Voss hat, der Spinner. Is aber och ejal. Punkt zwölf wird der eh von die Ratten uffjefressen, kannste die Uhr nach stellen.“

Gedankensplitter

Muss man sich die Avantgarde, die Vorhut, die, die voranschreiten und neue Gedankenwege als erste betreten, nicht als unglücklich, verzweifelt und resigniert vorstellen? (Eine kleine Camus-Referenz in diesen Tagen, da kommt man nicht drum rum.)

Die Revolutionäre in der DDR, die teils seit Jahren vielleicht nicht Leib und Leben, aber doch ihre Freiheit riskierten (für die sie stritten, weil sie ihnen viel zu kümmerlich war), wurden innerhalb von Wochen übertönt von denen, die nur schnell Geld wollten, um schnelles Geld zu machen.

Die Pioniere und Visionäre des Netzes, die teils seit Jahren und Jahrzenten die utopischen Potentiale dieses Mediums erkunden und vorantreiben, werden immer wieder in die anarchistische Schmuddelecke gestellt, damit im Netz – wie schon immer bei der Landnahme des Kapitalismus und seiner vorherigen Inkarnationen – für ein paar Glasperlen zukunftsträchtige Märkte etabliert werden können.

Die Foucault-und Derrida-Jünger der 80er und 90er Jahre, die sich ja selbst auch vielen Anfeindungen ausgesetzt sahen, müssen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen (heute heisst das wohl: Sich die Hand ins Gesicht drücken aka Fazialpalmierung), wenn sie sehen, mit welcher Begeisterung die Bachelorstudenten von heute ihre Subjektivierung vorantreiben und die Entgrenzung von dem, was sie Arbeit nennen, als moderne Errungenschaft preisen, dabei hat sich die Ausbeutung einfach nur neu in Schale geschmissen.

Diejenigen, die seit Jahren die Abschaffung von Geheimdiensten bzw. die Beschneidung ihrer Allmacht fordern müssten sich hysterisch lachend vom Merkel-Handygate abwenden. Wenn man Zeit nicht als linear betrachtet und sich ein wenig auf die Erkenntnisse der Astrophysik einlässt; wenn gleichförmige Ereignisse unterschiedlicher Epochen in dieser alternativen Zeitleiste wirklich parallel passieren; wenn Zukunft und Vergangenheit sich wechselseitig bedingen oder gleichzeitig passieren, zukünftiges Handeln gar Entscheidungen in der Vergangenheit beeinflussen: Wie weit weg sind wir von Moskau 1937 („Wyschinski ist ein großer Erzähler und Regisseur von Kriminalfällen. Ihm steht die grenzenlose Phantasie eines Verschwörungstheoretikers zur Verfügung, aber auch der ganze Apparat des NKWD, dessen Verhör- und Folterspezialisten in der Lage sind, Geschichten, Lebensläufe, Ereignisse, Verknüpfungen ad libitum zu produzieren.“ S.107)? Der eine Teil des Apparats jagt unliebsam gewordene Angehörige desselben, wenn es sein muss, rund um die Welt.

Und denen, die heute daran erinnern, dass Mitbürger ausgegrenzt, stigmatisiert, enteignet, dehumanisiert und letztlich vernichtet wurden, bleibt denen nicht jeder Bissen ihres Zigeunerschnitzels im Halse stecken angesichts des Parasiten– und Sozialschmarotzer-Gewäschs, was ständig in unzähligen Kommentarspalten abgesondert wird?

Wie ich drauf komme? Ich war einfach wahnsinnig begeistert vom Einstiegssatz zu Georg Seeßlens Essay „Weitere Notizen zum Sterben der Demokratie“:

Demokratie, im Idealfall, ist die zivilisierteste, freundlichste und vielleicht auch „kreativste“ Form des Bürgerkriegs. Sie bedeutet unentwegten Streit, und wenn es gut geht, dann ist es „offener Streit“. Die Gesellschaft, die sich Demokratie leisten will, muss gelernt haben, mit dauerndem, offenen Streit zu leben, und in gewisser Weise auch Gefallen und Nutzen davon zu tragen, auch und gerade eingedenk der Tatsache, dass dieser Streit weder garantiert, immer zu den besten Ergebnissen zu führen, noch eines Tages wirklich „beigelegt“ zu werden.

Vor zwanzig Minuten hatte ich noch eine Idee, wie ich diesen Splitter mit einem leichtfüssigen Beispiel etwas aufheiternd abschliessen kann, damit er nicht so schwer im Magen liegt. Ist mir leider zwischenzeitlich entfallen.