Ukrainische Krankenhäuser in Kreuzberg

Niemand scheint so richtig zu wissen, was in der Ukraine gerade passiert, und vor allem, wie die verschiedenen Akteure dort einzuordnen sind. Langsam wird auch hierzulande klar , dass die Nazis Nationalisten Nazis von der Swoboda um einiges mehr zu sagen haben als Klitschko, da kann er noch so sehr rudelweise mit den Mikrofonen deutscher Medien  bedrängt werden.

Ganz ehrlich frag ich mich ja manchmal mit leichtem Schaudern, wer wohl bei uns am besten organisiert (bzw. gerüstet)  wäre, wenn es zu ähnlichen Szenen kommen würde; rein hypothetisch natürlich.

Jedenfalls fiel mir heute folgender Aufkleber auf, der drei Häuser weiter an der Tür pappt:

maidan

Copy&Paste-freundlich steht da: дістала руїна та побори в лікарнях?  підтримай майдан!

Nun ist mein Ukrainisch ziemlich schlecht, sprich: es besteht aus rudimentären Schulrussischkenntnissen, aufgefrischt durch Konversationen mit der exilsowjetischen Diaspora. Immerhin komme ich mit Kyrillisch klar, auch wenn die Ukrainer da ein paar lateinische Buchstaben mit reinpacken – sie scheinen wirklich in allen Bereichen zerissen zu sein zwischen Ost und West, wenn mir eine Platitüde erlaubt ist.

Es geht um etwas „in Krankenhäusern“, vermutlich Zerstörung und Erpressung. Der Microsoft-Übersetzer will mir die ganze Zeit was von „gepimpt“ erzählen. Ganz unten steht „Unterstützt Maidan!“.

Falls jemand mehr weiss: Nur her mit den Infos!

Ansonsten verabschiede ich mich erst mal in eine Schreibpause, voraussichtlich. Ich weiss nur noch nicht genau, ob vom oder zum Schreiben.

Ein Stöckchen

Bisher sind diese Stöckchen ja immer an mir vorbei gegangen. Aber jetzt wirft mir tikerscherk eins zu. Und ihr kann ich das nicht abschlagen. Nun denn:

1.Glaubst du an ein Leben nach dem Tod? Oder wünschst du es dir? Warum?

Absolut nicht. Also glauben. Wünschen wohl schon manchmal, rein aus Neugier.

2. Was verbindest du mit dem Wort „Heimat“?

Puh. Zuerst Kindheit. Da könnte ich ein Buch drüber schreiben. Wollte ich auch mal, das sollte allerdings „Heimaten“ heissen. Ich hab da nämlich ein paar von, was eigentlich ganz gut ist. Patchwork-Heimaten sozusagen. Kann ich generell empfehlen, wenn man die ei(ge)ne beginnt, zu ernst zu nehmen.

3. Wenn du noch einmal anfangen könntest, welche Entscheidung würdest du rückgängig machen oder anders treffen?

Sehr viele. Die meisten davon aber auch wieder einfach nur aus Neugier. Hätte ich andere Entscheidungen treffen sollen, bereue ich welche? Klar. Ich habe  bestimmte Menschen verletzt und mit anderen zu wenig Zeit verbracht. Und hätte mit dem Hund das eine mal viel früher zu dem anderen Arzt gehen sollen.

4.Wie würdest du diesen Satz beenden: Pädophile sollten…

… zur Charité gehen, da gibt es ein Projekt. Und ansonsten von der Gesellschaft als das betrachtet werden, was sie sind: Menschen mit einer abweichenden Sexualität, die ausgelebt anderen Menschen ungeheuer schadet. Ich halte wenig von der medialen Behandlung des Themas, aber ich verstehe durchaus den Mechanismus dahinter. Es braucht „Monster“, auf die gezeigt werden kann. Wäre ja auch nicht spektakulär, und nicht mehr so „fremd“, wenn sachliche Aufklärung verbreitet werden würde. Nicht zu vergessen, dass viel zu oft Machtausübung, Frustration oder andere „Abartigkeiten“ Ursache von Missbrauch und Misshandlungen sind. Ich kann aber gut nachvollziehen, wenn Betroffene oder Menschen aus deren Umfeld auf diese Frage „Eier abschneiden und aufhängen“ antworten. Nur dass „die Medien“ eben keine Betroffenen sind.

5. Und diesen: Sigmar Gabriel sollte..

…die Fresse halten.

6. Und zuletzt: Alice Schwarzer sollte…

…auch die Fresse halten.
7. Wenn du an einen Toten denkst, welche seiner Wünsche erscheinen dir wichtiger: die Erfüllten oder die Unerfüllten (angelehnt an Max Frisch)

Hm. Was ist wichtig? (angelehnt an Selig…) Ausserdem: Auch erfüllte waren mal unerfüllt. Werden also Wünsche durch ihre Erfüllung wichtiger oder unwichtiger… Ich glaube, das kommt wirklich ganz auf den Wunsch an. Erfüllte Wünsche können dich glücklich sterben lassen, unerfüllte am Leben halten, eventuell unglücklich. Schwierig.

8. Stimmt der Satz: Jeder ist seines Glückes Schmied?

Absolut nicht. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Einflüsse, die wir nicht in der Hand haben, sind viel wirkmächtiger. Das passt uns nur nicht, weshalb wir uns selbst die verrücktesten Sachen vormachen. Oder unser Gehirn.

9. Was bedeutet für dich Gerechtigkeit?

Eine Utopie, die nie erreicht werden kann, ohne die es aber nicht geht. Wenn jeder wirklich nach seiner Facon glücklich werden kann.

10. Wie beurteilst du die Rolle der Kirche in unserer Gesellschaft? Und wie die der Gewerkschaften?

Ich wünschte, wir bräuchten sie nicht, beide. „Die Kirche“ geht mir gewaltig auf den Senkel, da bin ich radikaler Laizist. Helfen sie Armen und Bedüftigen? Klar. Dafür sollte es aber keine Kirche brauchen. (Sowohl die Menschen als auch die Mittel sind ja da). Und es wiegt ausserdem nicht den Riesenhaufen Mist auf, den sie machen.

Bei den Gewerkschaften sieht das ähnlich aus: Ihr Heiligstes ist das Lohnarbeitsverhältnis. Und solange sie um dieses Kalb rumtanzen, stehe ich weiter am Rande. Sicher waren sie historisch wichtig, sicher gibt es kluge Köpfe in ihren Reihen, sicher bieten sie für einige davon eine gewisse Nische mit Artenschutz. Und trotz häufigen Einknickens wären wir ohne sie schlechter dran – trotzdem, ich hatte das grade schon bei Charlie geschrieben: Sie sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Systems bzw. Problems.

11. Wenn du ein Buch wärest, was für ein Buch wärest du dann?

Ein staubiges, zerfleddertes, das in der Ecke eines verlassenen Treppenflures liegt. Mit sieben Siegeln.

[Muss ich das jetzt weiterschmeissen oder darf ich das untätig behalten? Wo ist überhaupt das Stöckchen-Regelbuch versteckt? Wieso heisst das Stöckchen? Weil das Blog von log kommt? Hat unser Maat schief geladen? Fragen über Fragen…]

Fundstück: Else

[Wenn ich wollte, was könnte ich mich weiter aufregen. Aber das sollte ja hier nicht passieren. Stattdessen wieder ein alter Text, aus einer Zeit, als noch Autos durchs Brandenburger Tor fahren durften. Doch, doch, das stimmt, das gab es mal. Und auch alles andere in diesem Text ist genau so passiert. Ischwöre.]

Else

Manchmal, wenn gerade keine kulturelle Großveranstaltung in der Stadt ist, habe ich vor Langeweile ganz verrückte Ideen. So ähnlich wie nachts bei Rot über die Ampel gehen. Wenn kein Auto kommt. Wenn eins kommen würde, das wäre mir schon wieder zu crazy, wie man heute so sagt.

Einmal bin ich über den Kudamm geschlendert, also eher Kantstrasse, aber dit is ja allet Kudamm da, wa, und bin in den Beate-Uhse-Laden gegangen. Damit auch ein paar verklemmte Touris mal reinschauen, haben die noch ein Erotik-Museum da mit drin, aber das interessierte mich weniger. Die Touris, so ganz nebenbei, sehen das glaube ich ähnlich.

Ich bin schnurstracks auf die Gummipuppen drauf zu, und nach einer halben Stunde verlegen umherschauen habe ich mir dann endlich eine genommen und bin zur Kasse gerannt, habe bezahlt und nix wie raus.

Dann bin ich ganz schnell nach Hause. Ausgepackt und aufgeblasen und da war sie in ihrer vollen Pracht. Doch sie war noch nicht komplett, es fehlte noch etwas.

Vor zwei Wochen hatte ich einen Kumpel zu Besuch. Also eher einen flüchtigen Bekannten, der wie der Name schon sagt… Jedenfalls, der war Sprayer, und das hatten in der Nacht auch noch Leute mitbekommen, die es besser nicht wissen sollten. Er hat seinen Rucksack bei mir gelassen, weil er Angst hatte, dass sie irgendwo auf ihn warten und dann in seinen Rucksack schauen.

Ich kramte in dem Rucksack rum und richtig, nebst allen anderen Farben des Regenbogens war auch eine Dose Gold-Spray dabei. Ich nahm also die Else, so nannte ich sie schon liebevoll, und sprühte sie von oben bis unten ein, bis sie richtig glänzte. Am schlimmsten waren die zwei Stunden danach, die ich warten musste, bis Else trocken war. Dann packte ich sie ins Auto. Ich fuhr ein wenig durch die Gegend, und auf der Straße des 17. Juni parkte ich irgendwann. Nachts verirren sich wirklich nur ganz bestimmte Leute in den Tiergarten, das muss man mal sagen.

Ich stieg aus, nahm die Else aus dem Kofferraum und dann noch das extralange Seil, das ich vorsorglich mit eingesteckt hatte. Jetzt gab es kein zurück mehr. Es waren nur circa 500 Meter zur Siegessäule, kein Problem. Und, als Berliner müsste man das ja wissen, um auf die Siegessäule zu klettern, braucht man gar kein Seil, das geht auch anders, da gibt es eine Treppe. Die kletterte ich dann auch hoch, mit der Else in der einen und dem Seil in der anderen Hand. Als ich ganz oben war, nahm ich eine Tube Pattex, die ich glücklicherweise noch dabei hatte, und klebte meine Else an die Stelle, an der vorher dieser komische Engel stand. Den hatte ich vorher abgeschraubt und unter den Arm geklemmt. Auf dem Weg nach unten erzählte mir der Engel, dass er gar kein Engel ist und auch Else heißt, was ich enorm lustig fand.

Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, beeilte ich mich, ganz schnell wieder ins Auto zu kommen. Schließlich könnte ja jemand denken, dass diese goldene Engelsfigur unter meinem Arm geklaut ist. Ich packte sie in den Kofferraum und fuhr los, so knapp `nen Kilometer, bis ich wieder anhielt. Raus aus dem Auto, Else Zwei aus dem Kofferraum geholt und rauf auf`s Brandenburger Tor. Dort stellte ich sie hinten auf den Wagen der Quadriga, was die Else total toll fand, von wegen ganz andere Perspektive mal und so. Die Siegesgöttin, die dort sonst steht, habe ich auf einen Kaffee eingeladen, was sie bereitwillig annahm. Unter anderem auch wegen der Perspektive.

Als die Sonne dann irgendwann aufging, und die Siegesgöttin immer noch auf meinem Sofa schlief, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ob uns jemand zusammen gesehen hatte? Und selbst wenn nicht, das fällt doch bestimmt auf!

Doch nichts war, nach zwei Tagen hatte immer noch keiner was gemerkt, und die Siegesgöttin nervte mich langsam mit ihrer „Keiner-mag-mich-niemand-vermisst-mich“-Tour. Klar, irgendwie hatte sie ja recht, von wegen Wahrzeichen, es kümmerte die Stadt einen Dreck, was da oben auf dem Brandenburger Tor war. Aber mir wurde es zuviel. Ich fuhr nachts wieder zum Pariser Platz und brachte alles an selbigen, also seinen Platz. Vorher allerdings habe ich noch ein Foto geschossen, wie all die Berlin-Touristen tagsüber. Was die wohl denken, wenn sie ihre Bilder entwickeln, und das da oben auf dem Brandenburger Tor irgendwie anders aussieht als in den Reiseführern? Da werden sie bei ihren Diashows zu Hause mit enormen Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen haben.

Die Else Zwei freute sich übrigens auch. Sie fand es zwar ganz nett, aber es gefiel ihr besser, wenn die ganzen Autos und Busse um sie herum fuhren, statt unter ihr durch. Also wieder rauf auf die Siegessäule. Ich hatte nur noch ein Problem: meine Else. Ich musste sie schließlich wieder mitnehmen. Doch wo hin mit ihr? Zu Hause im Schrank verstecken und dann vergessen und wenn man dann irgendwann mal eine Frau zu Besuch hat und die den Schrank aufmacht…. Nee, nee.

Ich fuhr also wieder zum Kudamm (Kantstrasse, ihr wisst schon). Dort stieg ich in das Beate-Uhse-Haus ein und brachte die Else zurück. Gut, ich habe sie nicht unbedingt in das gleiche Regal gepackt, da war sie auch viel zu gross für, war ja immerhin aufgeblasen und durch den Goldlack relativ starr. Deswegen habe ich sie in das Erotik-Museum gestellt, da geht ja eh keiner hin.

Die nächsten Tage war ich schon ein wenig frustriert. All meine waghalsigen Aktionen waren für die Katz. Höchstens ein paar Japaner, die etwas davon mitbekommen haben, auf ihren Kleinbildkameras. Doch auch ich hatte ja ein paar Beweisbilder. Die entwickelte ich dann ganz fix (war immerhin bei FotoFix) und überlegte, was ich damit machen würde. Wenn man ein Bild an die wirklich ganz große Glocke hängen will, wo geht man da hin? Richtig, zur Bild-Zeitung, die heisst ja nicht umsonst so. Dort allerdings wurde ich rüde abgewiesen, beschimpft und als dilettantischer Fälscher bezeichnet. Wenn ich mal ein richtig spektakuläres Foto sehen wolle, dann sollte ich mir doch morgen das Blättchen kaufen und lernen, sagte man mir auf dem Weg nach draußen. Das war hart.

Nichtsdestotrotz kaufte ich mir am nächsten Morgen besagte Zeitung. Groß auf dem Titelblatt ein Jugendfoto des amtierenden Bundesumweltministers, vermeintlich ausgerüstet mit einem Schlagstock und einem Bolzenschneider. Naja, wenn das wichtiger ist als das Wohl der Berliner Denkmäler…

Auf der dritten Seite war übrigens etwas zu lesen über eine jüngst stattgefundene Ausstellungseröffnung im Erotik-Museum, auf der die Skulptur einer goldenen Gummipuppe für 80.000 Euro verkauft wurde.

PS. Wer glaubt, dass unter der Telekom-Werbeplane noch immer das Brandenburger Tor steckt, der täuscht sich gewaltig. Ihr wisst ja, ich war da. Aber dazu später mehr…

(2002)

Yalla Balagan – monothematische Links

[Aktuell – tages-Sau-durchs-Dorf-treiben-aktuell – ist dieser Text nicht mehr, ich begann ihn am Samstag. Überlegte hin und her. Und drücke jetzt eben doch auf „Publish“.]

Nächstes Jahr  Letzte Woche in Jerusalem, da war ja ganz schön was los, als Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, in der Knesset seine Rede hielt.  Zufall oder nicht, auch Abseits der Aufregung um die Schulz-Rede geriet Israel in der letzten Woche (noch mehr als sonst) auf meinen Schirm (und das Fernweh packte mich wieder). Einiges von dem, was mir dabei über den Weg lief, lohnt sich durchaus, um das teilweise schiefe öffentliche Bild des Landes und seiner Bewohner gerade zu rücken. Also: Yalla Balagan! (Ein arabisches und ein russisches polnisches jiddisches persisches Wort ergeben eine Hebräische Redewendung, die so viel heisst wie „Auf ins Chaos“ – das ist Israel in a nutshell.)

Es fing damit an, dass ich Anfang der Woche die WRINT-Israel-Folgen nachhörte (inzwischen selbst die alte Folge #44 ). Holger Klein, das fiel mir vorher schon auf, stellt Israel in seinem Verhältnis zur Bundesrepublik ja gern auf die gleiche Stufe wie Bayern. Und nun hatte er also  jemanden ans Telefon bekommen, der ihm ein bisschen was über Land und Leute erzählen wollte. Da dieses Interview einige Fragen offen liess und einigen Widerspruch hervorrief (das ging mir ähnlich) – führte er einfach danach noch eins. In Kombination kann man beide Gespräche zusammen ganz gut als Einstieg gebrauchen.

Aus der Distanz (und das muss gar nicht immer nur eine räumliche sein) lässt sich recht einfach ein Urteil fällen. Doch Israel ist uns näher und vertrauter, als wir glauben (und als einigen lieb sein mag). Ich mag Tel Aviv unter anderem so sehr, weil es – wie in den Interviews auch beschrieben – ein Berlin mit Strand und mildem Winter (also, ja, dieser Winter…schon klar…) ist. Doch die Parallelen gehen viel weiter und tiefer. Der Levinsky Park liegt zum Beispiel direkt neben dem Oranienplatz. Hier wie da versammeln sich die, die es teils unter schwersten Entbehrungen in den Westen, die freie Welt, das gelobte Land geschafft haben. Hier wie da sind sie, was die Mehrheitsmeinung bzw. die herrschende Meinung betrifft, nicht wirklich willkommen, im Idealfall werden sie geduldet und ignoriert. Allerdings schlägt der Mob gerne mal zu bzw. zündelt, wenn er gelassen wird. Ist in Tel Aviv passiert, hätte aber auch hier passieren können, wieder. Der junge Hamburger (?) Künstler Michael Felix Kijac hat ein interessantes Projekt zur „Dark Side of Tel Aviv“ ins Leben gerufen, auf dessen Seiten es auch weitere  Informationen und Facetten zum Thema gibt.

Die nächste Parallele lässt sich – mal wieder – im Bereich Gentrifizierung ziehen. Hier liegen Kreuzkölln, Williamsburg und Neve Tzedek (was übrigens, eine weitere charakteristische (?)  Gemeinsamkeit mit O-Platz und O-Strasse, nur ein paar Schritte vom alten Busbahnhof am Levinsky Park entfernt ist) ganz dicht beieinander. Die Mietquote ist in Deutschland ja traditionell hoch, was im internationalen Vergleich generell untypisch ist. Da macht Israel keine Ausnahme, und da es vergleichsweise wenige Wohnungen auf dem Mietmarkt gibt, steigen deren Preise, in den letzten paar Jahren rasant (die der Eigentumswohnungen natürlich ebenso). Junge Erwachsene, selbst aus der akademischen Elite, können sich so auch mit zwei oder drei Jobs keine eigenen vier Wände leisten. Was besonders absurd ist für ein Land, das der Familienpolitik existenzielle Bedeutung zugesteht.

Unter anderem dieses Dilemma führte 2011 zu den Protesten und Zeltlagern auf dem Rothschild-Boulevard. Die Resonanz war ungleich grösser als die der Occupy-Bewegung hierzulande, die Kinder der Mittelschicht, die das Land trägt – wirtschaftlich und durch die allgemeine Wehrpflicht auch militärisch, nicht zu vergessen – waren und sind aber auch (noch) stärker unter Druck als das deutsche Klein- und Mittelbürgertum. Ein weiterer Grund für die grössere Aufmerksamkeit, die der israelischen Protestbewegung zukam, lag sicherlich darin, dass sie mit Daphni Leef ein Gesicht hatte.

Im Endeffekt hat es aber nichts genützt, die Probleme sind noch da, die Zelte nicht mehr. Und Leef steht inzwischen vor Gericht. So verwundert es nicht, dass der Frankfurter Stadtsoziologe Sebastian Schipper im +972Mag-Interview auf einiges Interesse stiess, als er das Modell des Mietshäuser Syndikats vorstellte. Einstweilen wird es dabei bleiben, dass viele junge Israelis, nachdem sie ihr Leben für ihren Staat beim Wehrdienst riskieren mussten, diesem Staat den Rücken kehren: Wegen der Politik, wegen der Kriege, wegen der teuren Wohnungen und sonstigen Lebenshaltungskosten. Immer mehr kommen nach Berlin, push- und pull-Effekt wirken hier gleichzeitig. Die deutsche Presse feiert das natürlich, sieht nur die Attraktivität Berlins, ohne weitere Fragen zu stellen, größtenteils.

Und nun also die Aufregung um die Aufregung über die Rede des EU-Parlamentspräsidenten. Dazu will ich nur auf zwei Sachen verweisen, beide Male handelt es sich wieder um +972-Links, die Haaretz hat leider seit einiger Zeit eine Paywall. Also: In diesem Artikel ist recht pointiert beschrieben, auf welches Problem Schulz mit seiner Rede – Teilen seiner Rede, besser gesagt – stiess: The problem for the Israeli government and its supporters abroad is that reality in the West Bank is biased, so the political war is now aimed at calling things out for what they are. Bei all den unguten Gefühlen, die diese Situation heraufbeschwört, können sich die linken Israelis immerhin noch halbwegs gelungen über ihre rechten Counterparts lustig machen.

Dia-Abend mit Trümmern und Brandwänden

Eigentlich waren die folgenden Bilder nur für einen bestimmten Zweck (und eine bestimmte Person) gedacht. Dann dachte ich: Wenn ich sie sowieso schon hochgeladen habe, wieso dann nicht für alle? Also, es folgen ein paar Berlin-Bilder aus einer anderen Zeit, ich hatte sie hier schon mal erwähnt. Die Qualität mag bescheiden sein, sie wurden vor über zehn Jahren (nicht von mir) dilettantisch digitalisiert:

Schweigen

…wollte ich. Sollten sich doch andere weiter aufregen über den absurden Charaktermaskenball, der auf dem politischen Parkett ausgetanzt wird. Als dieser Entschluss noch nicht ganz so fest stand, beschäftigte ich mich intensiv, bis an die Grenze, wo einem der Verstand abhanden zu kommen droht, mit einem der vielen Geheimdienstskandale. In diesem Fall war es der mit dem NSU. Natürlich stolperte ich da auch ab und zu über Sebastian Edathy. Da mein Recherchemodus durch einen starken Hang zum Ausufern gekennzeichnet ist, stiess ich relativ schnell auf diese Sache mit der Journalistin. Aus ihrer Sicht – würde man die Vorgeschichte nicht kennen, könnte man sich Susanne Haerpfer bei manchen ihrer Blogbeiträge gut mit Aluhut vorstellen – hat ihre Causa Edathy zumindest indirekt ihre Existenz als gern nachgefragte Journalistin zerstört. Und schon hatte ich einen neuen Faden in der Hand, er führte zu einem verworrenen Knäuel, in dem sich die Schicksale diverser unbequemer Journalisten wiederfanden. Wäre ein lohnenswertes neues Thema, dachte ich, legen wir mal auf Halde.

Dieser Wiedervorlagestapel rief sich in Erinnerung, als irgendwann im letzten Jahr zum tausendundersten Mal über Journalisten und ihre Rolle in der Gesellschaft diskutiert wurde. Sie wären ja schliesslich die letzten Verteidiger der Demokratie, während die anderen drei Säulen kräftig bröckelten. Quatsch, natürlich. Der professionelle Journalismus ist genauso von der kapitalistischen Landnahme betroffen wie alle anderen Bereiche in Kultur oder  Wissenschaft. Am Ende geht es um die Kohle – die, die der Journalist am Ende des Monats in der Tasche hat, und die, die der Verlag als Gewinn in der Bilanz verzeichnen kann. Doch das ist ein anderes, unendliches Thema. Eigentlich geht es darum, dass (auch jenseits der rein ökonomischen Verwertungslogik) der Berichterstattung Grenzen gesetzt sind, bzw. werden. Wer aus dem Rahmen fällt, muss sehen wo er bleibt. Zensur findet statt.

Thomas Moser zum Beispiel: Er war (und ist es immer noch, keine Sorge) eine der wenigen kritischen Stimmen zum NSU-Komplex, die wenigstens ganz leise, in der Nische der Kontext-Wochenzeitung, zu hören waren. Er recherchierte tief im Baden-Württembergischen Dickicht aus Verfassungsschützern und KKK, speziell der Kiesewetter-Mord hatte es ihm angetan. Neben Wolf Wetzel und Andreas Förster (und vielleicht noch Jens Eumann) ist er einer der selten zu findenden Journalisten gewesen, die Zweifel anmeldeten, die nicht sofort vom „Terror-Trio“ sprachen, die unbequeme Fragen stellten, die einfach das machten, was Journalisten machen sollten: Fakten checken, recherchieren, nicht einfach die Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft abtippen.

Und dann flog Herr Moser bei Kontext raus. Im Vorfeld wurde von der Zeitung bestätigt, dass es Versuche der Einflussnahme von offizieller Seite gegeben hätte. Aber dass dem freien Journalisten Moser jetzt die Texte nicht mehr abgenommen werden, hätte damit natürlich nichts zu tun. (Ich glaube übrigens auch, dass Moser sich in manchen Dingen verrannt hat, oder seine Agenda ist mir noch nicht ganz ersichtlich, trotz alledem sind seine „Verschwörungstheorien“ nicht weniger plausibel als die offiziellen der Bundesanwaltschaft.) Jetzt ist Moser nur noch Blogger (das hier ist wahrscheinlich seins), abgesehen von einem Artikel bei den „Blättern“ gab es von ihm nichts mehr in den „richtigen“ Medien.

Oder Gaby Weber. Die in Buenos Aires arbeitende Journalistin wird zwar – zum Glück – immer mal wieder von Fefe gepusht (unter anderem mit dieser tollen Alternativlos-Folge), ihre Rechercheergebnisse passen allerdings nicht ins öffentlich-rechtliche TV-Programm, sie wird als Verschwörungstheoretikerin diffamiert. Dass ihr Film über die Verstrickungen von Mercedes Benz mit der argentinischen Militärdiktatur, der bei labournet in Gänze zu sehen ist, beim WDR einfach weichgespült von Dritten nacherzählt wird, während er in mehreren südamerikanischen Sendern zur Prime Time zu sehen war und sogar im argentinischen Parlament gezeigt und behandelt wurde, hat natürlich auch nichts mit Zensur zu tun.

Nur exemplarisch sei hier auch noch auf das Beispiel Hubert Denk hingewiesen, da in diesem Fall ausnahmsweise von „der Presse“ berichtet wurde, welchen Zwängen freie Journalisten ausgesetzt sind: Auch Anwaltskosten können die Ausübung der Pressefreiheit einschränken. Da braucht es gar keine Horrorvorstellung vom tiefen Staat:

„Ein Verfassungsschutz, der mit Nazis, die die Demokratie gewaltsam beseitigen wollen und Menschen zu ermorden bereit sind, zusammen arbeitet und zugleich kritische Journalisten überwacht. Das ist die Horrorvorstellung, die offenbar deutsche Realität ist.“

Lohnen sich also die vereinzelten Aufschreie überhaupt noch? Was blieb zum Beispiel von diesem Memorandum? Was soll man dazu sagen, bzw. was darf man überhaupt noch fragen? Wenn Anne Roth, Partnerin von Andrej Holm und damit aktenkundig in Terrorismusnähe gerückt, unbequeme Fragen stellt, diesmal wieder zum NSU, und darauf diesen wohlmeinenden Kommentar bekommt:

Liebe Anne,
ich möchte Dich bitten, Dich nicht weiter mit diesem Thema zu befassen.
Der hier beschriebene Fall eines verbrannten Zeugen gehört zur Kategorie “bedauerlicher Unfall / plötzlicher Suizid”. Damit werden Probleme unbürokratisch aus der Welt geschafft. Das ist kein Kinderspielplatz. Jeder, der tiefer bohrt, gerät automatisch ins Visier.
Du solltest die Kreise der deutschen und insbesondere der US-Nachrichtendienste nicht stören. Denke an Deine Zukunft und die Deiner Familie. Du bist ohnehin schon ein “target of high interest”.
PS: Das hier ist ernstgemeint.

Bitterernst, keine Frage. Und es fügt sich alles so wunderbar ein in den Totalitarismus der Postdemokratie. Man kann es kaum treffender formulieren als – mal wieder, immer wieder – Georg Seeßlen:

Das Geheimnis der Verwandlung von Demokratie in Postdemokratie liegt darin, dass viele Menschen davon profitieren.
Die Verwandlung ist so weit fortgeschritten, dass jemand, der sich ihr entgegensetzt, bereits seine soziale Existenz riskieren muss.

Sein Fazit ist wenig aufmunternd:

An die Stelle der rebellischen Aufklärung ist eine ironische Abklärung getreten. Man arrangiert sich mit Verhältnissen, deren Schwächen man erkennt, und deren Widersprüche schon als Lebendigkeit missverstanden werden. Man sagt „gemach“, und grinst „Früher war alles besser“, und links und rechts lauern „Verschwörungstheorie“ und „Kulturpessimismus“. Welcher kritische Geist getraut sich noch die verbliebenen Plätze der freien Rede mit den Worten zu betreten: „Die Zeit drängt“. Wir leben nicht in der versprochenen besten aller Welten sondern in ihrem Gegenteil. Es haben sich Kräfte verschworen gegen die Freiheit, die Menschlichkeit und die Veränderung der Verhältnisse. Und es gibt Gründe, nicht sehr optimistisch die Kultur zu betrachten, die sich diese Kräfte noch leisten.
Wir müssen uns wohl, pathetisch gesprochen, die kritische Vernunft als eingekerkerte vorstellen. Wir müssen Briefe aus dem Gefängnis schreiben.

Und sonst so? Wo ich mich eh schon aufrege: Die Gentrifizierung geht natürlich ungehemmt weiter, mit handfesten Auseinandersetzungen unter und gegen die Zugezogenen. Die letzten drei Samstage, an denen ich wie fast immer in einer Kaschemme nahe des Görlis einkehrte, empfing mich an ebendiesem Bahnhof jeweils eine veritable Schlägerei. Es wird härter. Die Probleme bleiben, verstärken sich; betroffen sind wir alle. Und dazu kommen die üblichen Verrückten in dieser (immer noch tollen) Stadt. Trotzdem wäre es mal wieder an der Zeit – gerade bei dem Angebot – sich ausführlicher und tiefer mit dem Thema zu befassen. Aber erstmal ist genug aufgeregt, manchmal sollte man den Rat alter, weiser Männer annehmen:

(via http://wonko.soup.io)

PS. bzw. Update: Da ist man mal ein paar Stunden draussen, um das Mütchen zu kühlen und die Sonne zu grüssen etc., und schon verpasst man, dass auch andere, hier speziell fefe, sich heute schön in Rage geredet haben. Ich hegte ja schon immer den Verdacht, dass es reicht, ein paar Tage fefe zu lesen, und man verliert jeglichen Glauben. Es reichen die Posts von einem Tag, wie sich heute herausstellte.

Hätte ich heute morgen nicht so unter Zeitdruck & im Affekt geschrieben, wäre mir bei meiner Aufzählung Jens Weinreich bestimmt nicht durch die Lappen gegangen; sicher ein im mehrfachen Sinne unbequemer Geist, trotzdem hatte seine Kündigung beim DLF ein Geschmäckle. Oder die kürzlich veröffentlichte Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen, über die sich just heute (also heute veröffentlicht) Daniel mit Markus Beckedahl von dem linksextremistischen [(c) Focus] Blog netzpolitik.org unterhielt.

Jetzt ist hier aber erst mal Schluss mit Politik. Hoffentlich. Feierabend. Wochenende.

Erinnerungsfetzen, plus Zugabe

Nachdem hier wieder etwas Ruhe eingekehrt ist und ich erst mal weiter Gedanken & Links für die nächsten Texte sammeln muss, gibt es heute nur etwas aus der Mottenkiste alter Notizbücher. Der Kommentar von Johannes hat mich drauf gebracht: „da hattest du doch auch mal was zu geschrieben“ meinte ich, mich zu erinnern – und richtig (beim Stöbern stiess ich dann auch noch auf die Zugabe: Das muss auch mal wieder raus aus der Schublade und an die frische Luft, dachte ich mir, als ich es entdeckte):

Ausgeleiert.

05.08.03

Und früher
war sowieso alles besser.
Die Autobahnen.
Die Bahn.

Und früher
konnten die Leute noch lesen.
Romane.
Mein Kampf.

Und früher
gab`s noch kein Fernsehen.
Nur Riefenstahl im Kino.
Und Neger auf dem Jahrmarkt.

…Später

Im Jahr 2043
wird der Bundeskanzler,
so wie zwei Drittel seiner Altersgruppe,
(auf dem Schulterblatt, im Nacken, überm Arsch)
ein trendy Tribal Tatoo haben.

Und seine Frau zu Hause findet,
dass das Bauchnabelpiercing
spätestens nach dem dritten Kind
ausgeleiert aussieht.

zumutbar

13.05.04

falls sie dir mal wieder erzählen
dass du alles schaffen kannst
wenn du nur willst
und hart genug arbeitest

falls mal wieder jemand
vor deiner nase drei einfamilienhäuser
durch die gegend fährt
ohne sich zu schämen

falls sie denen, die nur glotzen können
mal wieder hämisch ihre villen
ferraris und yachten
unter die nase reiben

und ansonsten gesagt wird
dass prinzipiell jede arbeit
zumutbar ist

dann wird es zeit
dass du dir einen gewerbeschein holst
als selbstständiger amokläufer
oder sonstiger psychopath.

Es wird Frühling…

…habe ich vorhin entschieden, als ich die kalte Asche von Vorgestern runtergebracht habe. Barfuss! Da das aber wohl noch ein Weilchen dauert, trotz allem Optimismus, und weil der Kiezneurotiker mich mal wieder aus meiner dunklen Ecke zerren musste (huch!), revanchiere ich mich mit ein paar Links zum Vorfrühlingswochenende.

Mit dem Barfusslaufen muss man allerdings vorsichtig sein. Eine Anekdote am Rande, ich versuche mich kurz zu fassen: Die Premiere letztes Jahr fand am Rhein statt, Hundeauslauf. Ich liess die Schuhe im Auto, samt Socken. Was ich nicht bedachte war, dass wir Hochwasser hatten. Ja, eat this Berlin, da kannst du wirklich nicht mithalten, sorry. Aber bald hat Berlin ja die Ostsee, ich freu mich schon. Jedenfalls konnte ich nicht wie gedacht schön über den Ufersand laufen, sondern musste den Radweg auf dem Deich  nehmen, den asphaltierten. Der schweineheiss war. Als Alternativen standen mir der schmale, verschotterte Randstreifen oder das gemähte, stoppelige Feld zur Auswahl. Das war nicht schön und endete nach der Hälfte der üblichen Strecke mit Brandblasen an den Fusssohlen. Aber alles längst nicht so schlimm wie das, was Alexander Kühne wegen seines unpassenden Schuhwerks passierte.  Oje, Charité. Was läuft da eigentlich so alles falsch mit unserem Gesundheitssystem? Und warum zur Hölle brauchen wir dafür hunderte Krankenkassen mit hunderten Vorständen und Verwaltungen? Doch ich schweife ab.

WordPress erzählte mir grad vor ein paar Tagen, dass wir unser Fünfjähriges hätten. Das war mir gar nicht bewusst, dass das schon im letzten Jahrzehnt angefangen hatte.  Bersarin feiert mit seinem Blog auch die halbe Dekade und schreibt einen entsprechend gebührenden Text dazu, Kotze über Klassikern inklusive. Mehr Bloggen für Minderheiten!

Wo wir grad bei Randgruppen sind: Zum Hip Hop hab ich ein gespaltenes Verhältnis, manches liebe ich, manches finde ich lächerlich und schlecht. Vielleicht später mal mehr dazu. Ein wenig lächerlich war auch die „Chabos wissen wer der Babo ist“ – Nummer des CSU-Kandidaten, hat wohl jeder mitbekommen inzwischen. Ich empfehle dieses Interview als Hintergrundlektüre. Und dieses Plakat als Beweis, dass es nicht nur bei der CSU Jugendsprache-Trittbrettfahrer gibt. Meine letzte musikalische Neuentdeckung auf dem Gebiet verdanke ich übrigens so einer Radioeins-Altmänner-Musikkritikerrunde, was ist bloss aus mir geworden. ..Vor allem, weil der Spiegel schon lange vorher über Zugezogen Maskulin und Grim104 berichtete. Egal, immerhin hab ich keine Ahnung mehr, was im Spiegel steht. Schon allein der Titel: “ Crystal Meth in Brandenburg“ – da braucht es keine weiteren Worte . Sind auch sonst noch ein paar Perlen von den beiden bei Youtube zu finden, wenn man’s mag.

Politik? Lieber nicht. Europa brennt, kaum wer interessiert sich, warum. Hauptsache, alle Formulare sind ausgefüllt und alles geht seinen amtlichen Gang. Dann schon eher was Versöhnliches zum Wochenende, ganz im Sinne des sentimentalen Hundes…

Vom Wohnen (und Leben, und Lieben) in Berlin – Teil 2

[Teil 1 hier; aller guten Dinge sind drei, das Finale lässt noch auf sich warten]

Midtro:
Für das Wahre, Schöne, Gute
will jeder gerne bluten
und fühlen,
was es zu fühlen gibt…

– Alltag-

An dem Abend bei Charly in der Kneipe erfuhren wir auch, was es mit dem alten Mann auf sich hatte, der so gut wie jeden Morgen pünktlich um neun mit seinem Uralt-Kadett ankam und in dem kleinen Kabuff im Erdgeschoss verschwand. Er hatte dort mal einen Laden und wohnte bis nach dem Krieg auch in dem Haus. Er war locker über 80 und wurde mit der Zeit auch immer wackeliger auf den ohnehin schon durch Krücken verstärkten Beinen. Ab und zu kamen wir ins Gespräch und eines Tages brachte er diesen Riesenstapel Fotos und Postkarten mit – unser Kiez zwar, aber so kannten wir ihn nicht, dafür waren wir viel zu jung: Wasserwege, die längst zugeschüttet sind, Gasometer, die nicht mehr existieren und Kirchen, die zerbombt wurden. Irgendwann kam er dann allerdings nicht mehr so regelmässig, und dann gar nicht mehr.

Mit Kleingewerbe sah es auch sonst eher schlecht aus in unserem Block. Ein paar Häuser weiter gab es mal einen schlechten Pizza-Lieferservice, der schnell wieder zumachte. Einige Monate später eröffnete ein Videospielverleih in denselben Räumen, der sich erstaunlich lange hielt und von den ortsansässigen Jugendlichen begeistert frequentiert wurde, bis er einem Bäcker weichen musste. Dieser wiederum kam uns sehr entgegen: Wir konnten endlich mal ausprobieren, wie es aussehen würde, wenn der Hund wie im Klischee die Brötchentüte nach Hause trägt, es waren ja nur ein paar Meter. Dann wurde aber der Schwamm unter dem kompletten Häuserblock entdeckt, und eben auch im Gemäuer des Bäckerkellers, und das ging natürlich gar nicht. Dafür trat der Puff, der fünf Häuser weiter in der anderen Richtung lag und über den schon lange gemunkelt wurde, den offensiven Weg nach vorne an und hängte neben dem verstohlen blinkenden Herz im Fenster auch eine Leuchtreklame über die Tür. Die Geschäfte scheinen gut zu laufen, nur der  Kronleuchterladen, den es auch noch gibt, hält sich genauso lange.

So zogen die Jahre auch in unserer immer weniger neuen Kreuzberger Heimat ins Land und neue und alte Nachbarn ein und aus. Nach den Polen war es unser direkter Nachbar, der nach Connewitz zog, was eine zeitlang sehr angesagt war unter Berlinern, die Flucht aus der grossen, hässlichen Stadt nach Sachsen. Kurz darauf verschwanden dann wie schon erwähnt die Dealer aus dem Dritten. Dafür kam ein sehr angenehmer Münchener dazu, der später mit seinem kleinen Bruder dort eine WG aufmachte. Madame und ich holten die Hundegrosseltern aus der O-Strasse ins Haus, später zog noch ein weiteres befreundetes Pärchen in die Wohnung der Musiker-WG.

Wir studierten mehr oder weniger vor uns hin, machten mehr oder weniger gute Nebenjobs und genossen so gut es ging unsere besten Jahre. Der Hund war viel zu schnell erwachsen geworden und irgendwann fanden wir sogar – nach ein paar handvoll Versuchen – für den mindestens jährlichen Dänemark-Hundeurlaub im stürmischen Februar den idealen Ort im Nirgendwo inmitten der Dünen. Natürlich hatten wir den Fiesta inzwischen standesgemäß durch einen schönen alten eckigen Volvo ersetzt. Schon allein wegen dem Hund, ohne den bräuchte man in Berlin sowieso kein Auto (und keine Urlaube in Dänemark). „Oh, die Dame hat extra Lippenstift für mich aufgelegt!“ spottete der Tierarzt süffisant, als wir ihn im ersten Kohleofenwinter besuchten, weil der Hund unbedingt die heisse, gusseiserne Ofentür beschnuppern musste.

Die Kreise, in denen wir uns bewegten, wurden immer kleiner, der Kiez und auch Berlin sind irgendwann durcherkundet, was eher daran liegt, dass man genügend angenehme Orte gefunden hat, als dass es nichts Neues mehr geben würde. Jedenfalls lagen die Koordinaten unseres gedanklichen Stadtplans inzwischen zum größten Teil in Kreuzberg, aber auch die althergebrachten in Mitte und Prenzlauer Berg wurden noch regelmässig besucht. Ansonsten kamen auf dem Berlin-Plan in unserem Kopf nur noch sporadisch neue dazu: Der Kickermeister aus dem Bandito machte eine neue Kneipe drei Strassenecken weiter auf. Zwei andere Leute zogen noch drei Ecken weiter ihr „Wie verprass ich mein Erbe“-Experiment noch eine Nummer grösser auf. Der Eimer hatte dafür längst zu. Grunewald – wegen dem Hund und dem jährlichen Kistenrennen der Potsepunks. Durch Madames Job natürlich alles, was irgendwie mit dem wunderbaren alten Kino in der Nähe vom Zoo zu tun hatte, und das war eine Menge: Premierenfeiern hier und da, obskure Festivals und Privatvorführungen diverser cineastischer Raritäten, nicht zu vergessen der hundertste Geburtstag des Chefs, der noch jeden Tag ins Büro kam, und zum Leidwesen seiner Angestellten auch regelmässig ans Telefon ging.

Stattdessen fuhren wir in der Weltgeschichte rum, sobald sich die Möglichkeit dazu bot: Kuba wie gesagt war die erste gemeinsame Reise, Dänemark jedes Jahr nach der Berlinale, mindestens. Der Band, in der Madame Schlagzeug spielte, ging die Gitarristin in Richtung Südafrika abhanden, was uns ein paar schöne Zeiten in diesem tollen Land bescherte. Der ehemalige Mitbewohner aus der O-Strasse hatte sich und seinen berechtigten Ärger gefangen und arbeitete inzwischen in Amsterdam, was uns als Stadt ebenso begeisterte wie Tel Aviv. Kurz gesagt: Es war eine tolle Zeit, aber es war klar, dass es nicht ewig so weitergehen konnte.

Doch bevor es sich richtig änderte, wurde es erst noch mal richtig besser: Madam steckte mitten im Examensstress, als ich mich entschied, vielleicht doch zurück an die Uni zu gehen und die letzten Scheine zu machen, die Umstände boten diesen Schritt geradezu an. Das Problem war allerdings, dass wir recht schnell bemerkten, dass ein gemeinsam genutztes Arbeitszimmer keinem von uns gut tat, und uns zusammen erst recht nicht. Eigentlich – trotz all der Jahre und all der Veränderungen – mochten wir dieses Haus und diese Wohnung immer noch sehr.

Sicher, viele Leute waren ein- und ausgezogen in der Zeit, und zugegeben: es hat sich nicht unbedingt zum Besseren gewandt. Irgendwann hörten die Hofpartys auf, irgendwann zogen neue Nachbarn ein, die selbst wir „die Jugendlichen“ nannten. Von den ursprünglichen Bewohnern – denen, die da waren als wir hier einzogen – waren nicht mehr viele übrig, und vor allem wenige, die zu richtigen Freunden geworden sind. Darüber hinaus, wenn man ehrlich ist: Nach zehn Berliner Wintern, einige davon mit sibirischen Ausmaßen, reicht es auch mal mit der Kohlenheizung. Wobei es gar nicht die Öfen oder das Heizen oder das Kohlen-aus-dem-Keller-schleppen war – das Nervigste war die Asche, die überall rumfliegt. Die Kombination aus der flauschigen und unglaublich dichten Husky-Unterwolle des rekordverdächtig haarenden Hundes und der feinen Asche killte ungefähr einen Staubsauger pro Jahr. Und ausserdem wurde in der letzten Zeit ständig die Strasse aufgerissen und mindestens zur Hälfte gesperrt, oder ein geplatztes Wasserrohr aus dem vorletzten Jahrhundert erledigte diesen Job, oder die BVG erneuerte die Hochbahnschienen. Irgendwas war immer.

– Durchbrüche, Umbrüche –

Erstaunlicherweise gab es – wir sind irgendwo in der zweiten Hälfte der sogenannten 00er Jahre – selbst zu dieser Zeit Wohnungen, die unseren Vorstellungen von Grösse, Lage und Bezahlbarkeit entsprachen, sogar in der Nähe, denn den Kiez wollten wir nicht unbedingt verlassen. Allerdings schafften wir es nicht, auch nur einen einzigen Besichtigungstermin zu absolvieren, vielleicht hätten wir ansonsten damals schon die Vorläufer der inzwischen berühmt-berüchtigten Wohnungscastings hautnah erleben können.

Der Grund dafür war recht simpel: Wir blieben doch im Haus. Überraschenderweise zog die WG aus dem Musikerumfeld, die sich nebenan eingerichtet hatte, nachdem der Nachbar gen Sachsen aufbrach, in die ehemalige Drogenhölle. Der Münchner war dabei, der Frankfurter, der manchmal nachts auf dem Balkon Kontrabass spielte auch, insgesamt also alles nette Leute. So nett, dass sie uns fragten, ob wir nicht die Wohnung haben wollten – sie hatten von unseren Plänen gehört und sie nicht gerade goutiert. Nun hatte ihre Wohnung aber auch nur drei Zimmer und eine etwas größere Abstellkammer, ausserdem war der Grundriss eigentlich ziemlich ungünstig. Es war schlauchig, das Bad war auch nicht so dolle, bis auf die Wanne, die hätten wir schon ganz gerne wieder mal genossen. Von der Küche ganz zu schweigen, die war im Grunde nicht vorhanden.  Okay – zwei Arbeitszimmer wären drin gewesen, aber dafür auf unsere inzwischen optimal eingelebte und viel besser geschnittenere Wohnung verzichten?

Andererseits: Mit dem Budget, das wir für eine neue Wohnung eingeplant hatten, konnten wir uns auch beide Wohnungen zusammen leisten, wir würden damit sogar entscheidend unter der vorher festgelegten Schmerzgrenze liegen. Nachdem uns diese Idee kam, mussten wir nicht mal eine Nacht drüber schlafen – konnten wir vor lauter Begeisterung auch gar nicht – um eine Entscheidung zu treffen. Kurzerhand stellte mich die WG bei der Hausverwaltung als Nachmieter vor und wir begannen, im Kopf schon mal die neuen Räume aufzuteilen: Zwei Bäder können nie schaden, wir waren längst in der Beziehungsphase, in der man das sofort einsieht. Aus dem grossen langen Balkonzimmer würde die Bibliothek werden, mit den Flügeltüren zu meinem neuen Arbeitszimmer. Dahinter dann das zweite Wohnzimmer mit Kicker, und ganz hinten das Gästezimmer. Und als Krönung zwei Balkone! So standen meine Graspflanzen Madames Tomaten nicht mehr im Weg. Am nächsten Morgen klopften wir die Wand ab, um eine geeignete Stelle für den Durchbruch zu finden.

Allerdings leisteten wir uns diesen Luxus keine drei Jahre. Immerhin gab es so noch zwei legendäre Partys, eine zum Einzug und eine, als wir die zweite Wohnung wieder aufgaben und den Durchbruch wieder zumachten. Madame war mit dem Studium fertig und fing an, sich einen Referendariatsplatz zu suchen, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Berlin passieren würde. Und ich war mal wieder in einer veritablen Krise. Wie befürchtet ging es für sie ins tiefste Westdeutschland, während der Hund und ich zusahen, wie wir alleine in Kreuzberg und vor allem auch mit der Pendelei klarkamen. Es war keine Frage, dass der Hund erst einmal bei mir blieb, schon allein, weil ich viel mehr Zeit hatte, und die Ein-Zimmer-Einliegerwohnung irgendwo auf dem Acker kurz vor Holland wäre für die Hundedame auf Dauer auch nicht so toll gewesen. Obwohl ihr die frisch mit Mist und Gülle gedüngten Felder  ausserordentlich gut gefielen.

So richteten der Hund und ich uns neu in Berlin ein, aber trotzdem wurde ich den Eindruck nicht los, dass etwas fehlte, dass etwas weg war, dass das Leben in der halben, ganzen Wohnung ab und zu mal einen Phantomschmerz-Stich verteilte, wie es nach einer Amputation nun mal oft so ist. Und das lag nicht nur daran, dass uns ein paar Zimmer abhanden gekommen waren. Wir schlugen die Zeit in Kneipen und den wenig übrig gebliebenen Hausprojekten tot, gingen stundenlang am Kanal und fast täglich im Grunewald spazieren, aber eigentlich warteten wir nur darauf, dass Madame uns besuchen kam. Da dies immer seltener passierte, liess ich den Hund immer öfter übers Wochenende bei den Hundegroßeltern, die inzwischen längst in den Wedding gezogen waren, und fuhr mit der Bahn gen Westen. Berlin war selten so uninteressant für mich wie in dieser Zeit, obwohl ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Überhaupt etwas zu tun war aber in dieser Zeit das Schwierigste für mich, zum Glück war der Hund da, der seinen geregelten Tagesablauf einforderte, und ihren braunen Kindchenschema-Augen konnte ich selbst im dunkelsten Tal keinen Wunsch abschlagen. Als ich dann anlässlich irgendeines Jubiläums an die Uni geladen wurde, um von der guten alten Zeit zu erzählen, merkte ich, dass eine Veränderung jetzt vielleicht nicht das schlechteste wäre. Obwohl es mich natürlich freute, die ganzen anderen Veteranen mal wieder zu sehen.

Es wäre uns trotzdem nie in den Sinn gekommen, damals, die Berliner Wohnung aufzugeben. Aber sie hiess eben inzwischen auch nur noch „die Berliner Wohnung“. Nachdem Madame die Qualen des Referendariats hinter sich gelassen hatte und sogar übernommen wurde, machten wir uns wieder mal auf Wohnungssuche – oder besser gesagt: Mal wieder sie alleine, obwohl wir wenig später gemeinsam einziehen würden. Da Madame in Berlin Jahre auf eine Stelle hätte warten müssen, die dann auch noch viel miesere Konditionen gehabt hätte – dit is Balin – war klar, dass unsere Zukunft woanders stattfinden würde. Ich war zu dieser Zeit sowieso mal wieder viel flexibler als mir lieb war, und so suchten wir uns eine passende Grossstadt – das musste schon sein, das brauchten wir beide – in der Gegend aus, die Auswahl war hier zum Glück recht gross. Ausserdem konnten wir so aus Jux Briefköpfe mit zwei wichtig klingenden Adressen anlegen, genau wie diese ganzen wichtigtuerischen Jungliteraten der Jahrtausendwende, die wir halb verachteten und halb bewunderten.

In der Gitsch räumten wir zwei Zimmer komplett leer und packten alles, was übrig blieb, in das dritte, das ehemalige Schlafzimmer mit dem Podest, was nach hinten raus ging. Dazu holten wir noch ein paar Bohlen und Bretter von Holz-Possling und bauten ein Hochbett – ausreichend für ein paar (hoffentlich regelmässige) Stippvisiten in der alten Heimat, dachten wir. Ausserdem hatte ich noch einige Termine im nächsten Jahr in der Stadt zu absolvieren – aber unser neues, gemeinsames Zuhause war jetzt definitiv woanders. Es stimmte schon, tief im Westen, wo die Sonne schon lange nicht mehr verstaubt (und ausserdem um einiges später versinkt und es im Winter sehr viel milder ist), ist es viel besser, als man glaubt. Madame hatte grosse Freude daran, das Nest zu bauen: Es war alles perfekt aufeinander abgestimmt und kam ganz ohne Ikea aus. Selbst der Hund gewöhnte sich, trotz ihres Alters, erstaunlich gut an die vielen Treppen – dafür wartete oben ein schöner flauschiger Teppich, so was gab es in der Kreuzberger Studentenbude natürlich nicht.

Bei der machte sich wiederum der gute Schnitt bezahlt: Wir hatten zwei separate Zimmer, die wir untervermieten konnten, noch dazu mit guten Kachelöfen (in den meisten anderen Wohnungen im Haus waren die inzwischen mit preisgünstigen, blöden Allesbrennern ersetzt) und einer komplett eingerichteten Küche samt Geschirrspüler und Waschmaschine, natürlich ganz zu schweigen von dem trotz allem immer noch angenehmen Haus. Weil Madame in der Ferne den Neustart organisierte, übernahm ich die Hin- und Herfahrerei und das Casting. Dummerweise hatten wir die Entscheidung recht spontan getroffen und keiner unserer Berliner Bekannten hatte jemanden zur Hand, der gerade eine Wohnung suchte. Jedenfalls nicht so eine, wir waren schliesslich alle älter geworden und die Leute arbeiteten inzwischen zum Teil im Bundestag oder ähnliches. Da will man nicht mehr mit dem Ofen heizen, den hat man höchstens noch als nostalgische Reminiszenz in der Ecke stehen. Das ging uns ja nicht anders. Aber ich hatte ja keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte.

 – Neustart, abgewürgt, Neustart –

Sicher, auch wir hatten inzwischen im Freundes- und Bekanntenkreis hier und da mal eine Geschichte mitbekommen, die von absurden Wohnungsbesichtigungen handelte. Wo der Geruch der zuvor Verstorbenen buchstäblich noch in der Luft lag, während sich dutzende  Leute durch die Bude drängelten: So lange die Lage stimmte, konnte man sich so was scheinbar erlauben. Aber das waren doch irgendwie so Lagerfeuer-Schauergeschichten aus Mitte. Dachten wir. Schliesslich hatte Madame gerade erst eine mehr als passable Wohnung auf  einem der teuersten Pflaster Westdeutschlands gefunden. Teuer, das muss man zugeben, in Berlin bekommst du dafür doppelt so viele Quadratmeter. Dachten wir.

Am Mittwoch setzte ich die Anzeige auf, ich sass mit dem Laptop auf dem Balkon, in der Ferne blinkte der Rheinturm in der Abendsonne und ich überlegte noch, ob es wirklich reicht, nur auf einem einzigen Portal zu inserieren, und vor allem, ob der Besichtigungstermin am Wochenende nicht zu knapp gewählt war. Die nächsten Tage verbrachte ich dann damit, stündlich mein Postfach zu leeren und unzählige Mails zu beantworten, die meisten davon auf Englisch, aber nicht wenige waren auch nur in Spanisch geschrieben. Am Samstag durfte ich an die 50 hellauf begeisterte Interessenten durch die Wohnung lotsen und jedes Mal den gleichen Text aufsagen, obwohl ich die Anzeige schon nach einem Tag wieder aus dem Netz genommen hatte.

Die Auswahl war also recht gross, und am Ende ist es dann doch die sprichwörtliche  Schwäbin geworden, man mag es kaum glauben. Ihr Argument war – neben ihrer sympathischen Art an sich – allerdings auch schlagend, bei uns jedenfalls: Sie suchte schon seit Monaten, allein der Hund, dieser wirklich freche (sprich nicht erzogene) Australian Shepherd, den sie im Schlepptau hatte, machte es ihr recht schwer. Da wollten wir nicht im Weg stehen, Madame hatte ja auch einige Schwierigkeiten gehabt, unsere alte Hundedame in der neuen Heimat mit ins Boot zu holen. Die Sache wurde mit einem formellen Untermietvertrag offiziell gemacht, alle waren überglücklich und am Montag war ich wieder zurück am Rhein.

Das nächste halbe Jahr verbrachten wir damit, uns einzuleben und die neue Stadt – ach was sag ich – die neue Welt kennen zu lernen. Ein Ballungsraum ballte sich an den nächsten, von Ort zu Ort veränderte sich der Menschenschlag und die Grenzen der Nationalstaaten, die hier teilweise mitten durch die Dörfer verliefen, nahm man wirklich nur beiläufig wahr. Wir begannen, uns wohl zu fühlen und einzufügen. Gut, Karneval ging für uns Norddeutsche gar nicht, und das war ein grosses Hindernis bei der Assimilation. Aber ansonsten klappte es meistens ganz gut.

Doch ab und zu gab es einen empfindlichen Stich, vor allem, da ich in den ersten Monaten noch wirklich oft nach Berlin fuhr, zumal mittlerweile die komplette Familie hier wohnte, über die ganze Stadt verstreut. Was für eine Ironie: Endlich waren wieder mal alle zusammen, da ziehe ich so weit weg, wie es in diesem Land nur geht. Richtig schmerzlich bewusst wurde uns die Entfremdung von der alten Heimat, als wir einmal mit Auto und Hund herkamen für eine paar freie Tage – Pfingsten – und uns zuerst noch wunderten, dass wir keinen Parkplatz fanden und die Zufahrtsstrassen gerade abgesperrt wurden. Ist ja wie zum Karneval der Kulturen, dachten wir. Und genau so war es dann auch, das hatten wir nur absolut nicht mehr auf dem Schirm, die Verknüpfung Pfingsten-Karneval der Kulturen existierte schon nicht mehr.

Nach nicht einmal sechs Monaten wurde unserer schwäbischen Untermieterin dann langsam bewusst, dass sie das Berliner Nachtleben, was sie in vollen Zügen auskostete, am Ende viel zu vieler Nächte meist im Trinkteufel, ihre Verantwortungen als Hundebesitzerin und ihren Hammeraltenpflegejob nicht unter einen Hut bekommen würde und leider wieder zurück ins beschaulich-ländliche Baden-Württemberg gehen müsste. Was wir komplett einsahen. Da war es uns – gerade nach den Erfahrungen des letzten Castings – auch egal, dass wir eigentlich eine Kündigungsfrist von drei Monaten und eine Mindestmietdauer von einem halben Jahr ausgemacht hatten. Also spielten wir das Spielchen einfach noch mal durch, die Schwäbin hatte auch drei Interessenten an der Hand und so wurden wieder dutzende Leute durch die Wohnung bugsiert. Madame deutete an – es war ja ihre Wohnung, immer noch – dass sie im Hinblick auf die Auswahl der neuen Untermieter hoffte, dass wir uns jetzt nicht alle halbe Jahre einen Kopf um die Kreuzberger Wohnung machen müssten. Denn um ehrlich zu sein, wenn wir wieder nach Berlin zurück gehen würden, was immer noch vage im Raum stand, dann bei aller Liebe wohl nicht zurück in diese Wohnung. Sagte sie.

Von den beiden Münchenern wohnte keiner mehr wirklich im Haus, aber sie hatten es so gemacht wie wir und noch ein Zimmer in der Hinterhand behalten. Der Frankfurter wohnte inzwischen im Vierten zusammen mit einer Kanadierin und erzählte davon, dass er nach Uruguay auswandern wollte. Wir hatten eine neue Nachbarin, die wir nicht kannten und die tagelang scheinbar selbst ihre Wände verputzte, so hörte es sich an. Der Bauarbeiter wohnte immer noch über uns und lebte inzwischen ein befreites, offen schwules Leben samt Rockerkumpels. In der Wohnung der Hundegrosseltern wohnte die nächste Musiker-WG, allerdings aus einer Generation, für die Nirvana das ist, was für uns Janis Joplin und Bob Marley waren: Hätte man gerne noch selbst erlebt. Dafür kehrten die mittlerweile halbwegs berühmt-erfolgreichen Musiker aus dem vierten ab und zu wieder zurück, oder wenigstens ein paar angenehme, altbekannte Gesichter aus ihrem Umfeld. Die hatten die Wohnung also auch noch gehalten. Die Neuigkeiten aus dem Hinterhaus waren gemischt: Einiges blieb ganz beim Alten, der Juraprof mit dem alten Benz war leider gestorben und die Antifa war mit dem Studieren fertig und schwanger. Das war der Stand der Dinge, als ich mich nach einem neuen Untermieter umsah.

Auch Berlin hatte sich verändert. Das lag nicht nur daran, dass ich jetzt quasi von aussen kam und mir der Dreck und die Hundescheisse wirklich auffielen. Denn auf der anderen Seite sah es so aus, dass die halbmeterdicken Plakatschichten in den Hauseingängen in der O-Strasse inzwischen noblen Granitschildern gewichen sind, auf denen „Plakate ankleben verboten“ eingemeisselt war. Bei uns in der Strasse hatte neben dem Puff eine recht populäre und stark frequentierte Ferienwohnung aufgemacht. Und das, was da auf der Admiralsbrücke und im Görli, in den ganzen kleinen Seitenstrassen jenseits des Kanals passierte, damit hatten wir nichts mehr zu tun. Vor Jahren kannten wir die Leute hier noch und feierten zusammen mit dem Musikschrauber-Haschplattenverkäufer-Nachbarn die Eröffnung seines T-Shirt-Ladens (seine neue Berufung!), den er sich mit einem buddhistischen Kumpel teilte, der dort Räucherstäbchen, Bambuskerzen und Batikklamotten vertickte. Ihre Ladeneröffnung hatten sie günstig auf das Graefestrassenfest gelegt, so fanden sie vom ersten Tag an eine treue Kundschaft. Der Laden ist dann später in den Osten gezogen, irgendwo am Eingang vom Mauerpark lief er noch eine ganze Weile ganz gut.

Wir machten uns einen Spass daraus, die Gegend neu zu erkunden, so als ob wir auch Touristen wären, vom Kanal über die kanadische Pizzeria in der keiner Deutsch spricht bis hoch zum frisch eröffneten Tempelhofer Feld. Hätte ich noch ernsthaft studiert, wäre das eine lohnende Feldstudie wert gewesen. Dazu kamen im Stadtbild merklich mehr offensichtlich arme Menschen, übrigens selbst an den noblen Ufern des Rheins in unserer neuen Heimat. Flaschensammler. In Berlin konzentrierte sich das alles wie unter einem Brennglas. Auch wenn einige althergebrachte Ecken nicht mehr existierten: Die Abkürzung entlang der S-Bahn-Bögen, die Madame vom Zoo zu ihrem Kino immer nahm und die von den ansässigen Junkies zur Verrichtung aller möglichen Geschäfte genutzt wurde, die gab es längst nicht mehr. Dafür hatten wir jetzt ein Flüchtlingscamp vorm Brandenburger Tor und eins auf dem O-Platz.