Ins Blaue

tür

„Und was blieb denn übrig, was haben Sie gelernt in ihrem Geschichtsstudium? Dass die Menschen nun mal so sind?“ fragte die weinende Frau, die aus dem Naziknast kam, die ihren Rundgang abbrechen musste.

„Ja, ich fürchte schon.“ sagte ich nach einigem Zögern.

*

Eigentlich wäre das doch eine tolle Sache: Europa. Eine zwingende sogar. Muss man nicht mal Zweig für bemühen. Doch ich bin es müde geworden: Letztendlich braucht es immer eine Bedrohung. Etwas, womit man den Leuten Angst machen kann, etwas Fremdes von aussen.

Es wäre also ein Leichtes: Einfach eine Gefahr konstruieren, die von so weit aussen kommt, dass sie schon nicht mehr von dieser Welt ist. Klappte mit Gott doch auch ganz gut. Es müssen ja nicht gleich Aliens sein, nicht unbedingt. Wäre auch unwahrscheinlich, leider: Denn das Argument, dass man besser nicht zu denen gehört, die entdeckt werden, sondern lieber zu denen, die entdecken, ist einfach zu schön, zu bestechend. Doch setzt man Zeit – unsere Wimpernschlagexistenz von bisher grob 100.000 Jahren (und nocheinmal so viele werden es schwerlich werden) verglichen mit den wahrscheinlich 7-10 Mrd. Jahren, in denen solch eine Existenz prinzipiell möglich wäre im Universum, ebenfalls bisher – in ein Verhältnis mit den ebenso gedankensprengenden Ausmaßen des  zu überwindenden Raums, dann ist eben der Kontakt mit außerirdischer Intelligenz leider sehr unwahrscheinlich.

Höchst wahrscheinlich ist dagegen, dass ein Stein-, Staub- oder Eisbrocken uns treffen wird. Uns wieder treffen wird, früher oder später. Das taugt also eigentlich, um klar zu machen, dass Grenzen, Wirtschaftskriege und diese ganze alberne Kapitalismus-Unterdrückungs- und Konkurrenzgeschichte jetzt mal langsam ausgespielt haben und es an der Zeit wäre, so nah es nur geht zusammenzurücken, alle Ressourcen gemeinsam zu nutzen, wirklich Wert auf Bildung zu legen. Weil es uns alle und jeden einzelnen treffen könnte, jederzeit und überall. Mutig, wagemutig zusammen in die Zukunft zu schauen, selbstbewusst, mit der Stirn im Wind, weil man eben zusammen auch so etwas meistern kann, das ginge schon. Mit all den Möglichkeiten, die wir haben. Also: Wäre eigentlich ein Klacks, das mit Europa. Da ist viel mehr drin, da müsste doch viel mehr drin sein, wie kann denn das sein, dass da nicht mal ein anständig vereintes Europa drin ist?

Es ist eben so. Sicher ist jeder Einzelne, dem nahegebracht werden kann, dass Menschen prinzipiell und überhaupt gleich sind, ein Gewinn. Wo stehen wir denn heute? Es ist nämlich auch so: Genau wir, jetzt und hier – wir hätten doch die Möglichkeiten. Bei uns stapeln sich nicht die Leichenberge am Straßenrand, gerade mal nicht. Es kommt näher, keine Frage, und es war wohl immer irgendwo da. Doch es geht darum: Dass wir wirklich was machen könnten, schon seit Jahren was hätten machen können, aber es eben nicht tun, meistens, seit Jahren. Von aussen betrachtet kann das doch nur eine haarsträubende Absurdität sein: Nicht diese Wahl jetzt, nicht diese Politik, nicht diese Wirtschaft und nicht diese Landschaftszubetoniererei – sondern wirklich unsere gesamte Existenz. So ist es, und da kann man dann gerne noch mal 300, 500 oder 3500 Jahre drüber philosophieren, aber letztendlich ist es so. So einfach. Von daher ist es ganz gut, dass diese bisherigen 100.000 Jahre – und von mir aus auch noch mal 100.000 drauf – aber eben mit großer Wahrscheinlichkeit viel weniger – wirklich nur ein Wimpernschlag sind. Höchstens eine Fussnote wert, wenn man mich fragt.

Subjektiv betrachtet mag das anders sein. Trotzdem. Wozu noch mehr Argumente, genügend Phantasie reicht vollkommen aus. Und überhaupt: Wo ist denn da eigentlich der Unterschied, bitteschön?

 

Du bist Beute, leg dir schon mal ein schickes Nervenkostüm zurecht.
Pollesch (aus unzureichender Erinnerung zitiert)

Andererseits war es großartig, vorgestern Abend im Biergarten zu sitzen und gestern Abend am Kanal. Zu erkennen, dass es drei Reiher sind, mindestens, und nicht nur einer, wie von mir naiverweise gedacht. Und unglaublich viele Schwäne inzwischen auch, von den Menschen ganz zu schweigen. Dass mindestens zwei von den Reihern sichtlich die Show genossen, die sie abzogen, während sie tief und gemächlich ihre Runden drehten. Dass es also schon so magische Abende gibt. Nebensächlichkeiten. Wenn ich liege, dann liege ich.

PS. Es spricht natürlich nichts dagegen, eine Rede zu halten. Eine gute zumal, eine wirklich gute, kluge und wohl auch wichtige Rede. Wenn aber der Gegenstand ebendieser tagtäglich in Abrede gestellt wird, an so vielen und immer mehr Stellen nicht mehr existiert: Dann ist das auch eine Totenrede. Kaddish.

Yalla Balagan – monothematische Links

[Aktuell – tages-Sau-durchs-Dorf-treiben-aktuell – ist dieser Text nicht mehr, ich begann ihn am Samstag. Überlegte hin und her. Und drücke jetzt eben doch auf „Publish“.]

Nächstes Jahr  Letzte Woche in Jerusalem, da war ja ganz schön was los, als Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, in der Knesset seine Rede hielt.  Zufall oder nicht, auch Abseits der Aufregung um die Schulz-Rede geriet Israel in der letzten Woche (noch mehr als sonst) auf meinen Schirm (und das Fernweh packte mich wieder). Einiges von dem, was mir dabei über den Weg lief, lohnt sich durchaus, um das teilweise schiefe öffentliche Bild des Landes und seiner Bewohner gerade zu rücken. Also: Yalla Balagan! (Ein arabisches und ein russisches polnisches jiddisches persisches Wort ergeben eine Hebräische Redewendung, die so viel heisst wie „Auf ins Chaos“ – das ist Israel in a nutshell.)

Es fing damit an, dass ich Anfang der Woche die WRINT-Israel-Folgen nachhörte (inzwischen selbst die alte Folge #44 ). Holger Klein, das fiel mir vorher schon auf, stellt Israel in seinem Verhältnis zur Bundesrepublik ja gern auf die gleiche Stufe wie Bayern. Und nun hatte er also  jemanden ans Telefon bekommen, der ihm ein bisschen was über Land und Leute erzählen wollte. Da dieses Interview einige Fragen offen liess und einigen Widerspruch hervorrief (das ging mir ähnlich) – führte er einfach danach noch eins. In Kombination kann man beide Gespräche zusammen ganz gut als Einstieg gebrauchen.

Aus der Distanz (und das muss gar nicht immer nur eine räumliche sein) lässt sich recht einfach ein Urteil fällen. Doch Israel ist uns näher und vertrauter, als wir glauben (und als einigen lieb sein mag). Ich mag Tel Aviv unter anderem so sehr, weil es – wie in den Interviews auch beschrieben – ein Berlin mit Strand und mildem Winter (also, ja, dieser Winter…schon klar…) ist. Doch die Parallelen gehen viel weiter und tiefer. Der Levinsky Park liegt zum Beispiel direkt neben dem Oranienplatz. Hier wie da versammeln sich die, die es teils unter schwersten Entbehrungen in den Westen, die freie Welt, das gelobte Land geschafft haben. Hier wie da sind sie, was die Mehrheitsmeinung bzw. die herrschende Meinung betrifft, nicht wirklich willkommen, im Idealfall werden sie geduldet und ignoriert. Allerdings schlägt der Mob gerne mal zu bzw. zündelt, wenn er gelassen wird. Ist in Tel Aviv passiert, hätte aber auch hier passieren können, wieder. Der junge Hamburger (?) Künstler Michael Felix Kijac hat ein interessantes Projekt zur „Dark Side of Tel Aviv“ ins Leben gerufen, auf dessen Seiten es auch weitere  Informationen und Facetten zum Thema gibt.

Die nächste Parallele lässt sich – mal wieder – im Bereich Gentrifizierung ziehen. Hier liegen Kreuzkölln, Williamsburg und Neve Tzedek (was übrigens, eine weitere charakteristische (?)  Gemeinsamkeit mit O-Platz und O-Strasse, nur ein paar Schritte vom alten Busbahnhof am Levinsky Park entfernt ist) ganz dicht beieinander. Die Mietquote ist in Deutschland ja traditionell hoch, was im internationalen Vergleich generell untypisch ist. Da macht Israel keine Ausnahme, und da es vergleichsweise wenige Wohnungen auf dem Mietmarkt gibt, steigen deren Preise, in den letzten paar Jahren rasant (die der Eigentumswohnungen natürlich ebenso). Junge Erwachsene, selbst aus der akademischen Elite, können sich so auch mit zwei oder drei Jobs keine eigenen vier Wände leisten. Was besonders absurd ist für ein Land, das der Familienpolitik existenzielle Bedeutung zugesteht.

Unter anderem dieses Dilemma führte 2011 zu den Protesten und Zeltlagern auf dem Rothschild-Boulevard. Die Resonanz war ungleich grösser als die der Occupy-Bewegung hierzulande, die Kinder der Mittelschicht, die das Land trägt – wirtschaftlich und durch die allgemeine Wehrpflicht auch militärisch, nicht zu vergessen – waren und sind aber auch (noch) stärker unter Druck als das deutsche Klein- und Mittelbürgertum. Ein weiterer Grund für die grössere Aufmerksamkeit, die der israelischen Protestbewegung zukam, lag sicherlich darin, dass sie mit Daphni Leef ein Gesicht hatte.

Im Endeffekt hat es aber nichts genützt, die Probleme sind noch da, die Zelte nicht mehr. Und Leef steht inzwischen vor Gericht. So verwundert es nicht, dass der Frankfurter Stadtsoziologe Sebastian Schipper im +972Mag-Interview auf einiges Interesse stiess, als er das Modell des Mietshäuser Syndikats vorstellte. Einstweilen wird es dabei bleiben, dass viele junge Israelis, nachdem sie ihr Leben für ihren Staat beim Wehrdienst riskieren mussten, diesem Staat den Rücken kehren: Wegen der Politik, wegen der Kriege, wegen der teuren Wohnungen und sonstigen Lebenshaltungskosten. Immer mehr kommen nach Berlin, push- und pull-Effekt wirken hier gleichzeitig. Die deutsche Presse feiert das natürlich, sieht nur die Attraktivität Berlins, ohne weitere Fragen zu stellen, größtenteils.

Und nun also die Aufregung um die Aufregung über die Rede des EU-Parlamentspräsidenten. Dazu will ich nur auf zwei Sachen verweisen, beide Male handelt es sich wieder um +972-Links, die Haaretz hat leider seit einiger Zeit eine Paywall. Also: In diesem Artikel ist recht pointiert beschrieben, auf welches Problem Schulz mit seiner Rede – Teilen seiner Rede, besser gesagt – stiess: The problem for the Israeli government and its supporters abroad is that reality in the West Bank is biased, so the political war is now aimed at calling things out for what they are. Bei all den unguten Gefühlen, die diese Situation heraufbeschwört, können sich die linken Israelis immerhin noch halbwegs gelungen über ihre rechten Counterparts lustig machen.

Sendepause mit Testbild

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Ich lass einfach mal übers Wochenende nur ein Bild hier, da ich die nächsten Tage woanders als im Internet sein werde. Leider aber auch nicht da, wo das Foto aufgenommen wurde. Das war in der durchgentrifiziertesten Gegend Tel Avivs, zugleich dessen Keimzelle, sozusagen. Ein Musterbeispiel, wie aus Urban Decay in wenigen Jahren Immobiliengold geworden ist. Aber der älteste Kiosk des Kiezes, an dem dieses Piece zu finden ist, steht halt immer noch, und zwar mit den Spuren der Geschichte, im Gegensatz zum schick renovierten, angeblich ältesten Kiosk der Stadt am Rothschild Boulevard.  So, jetzt hab ich schon wieder mehr geschrieben, als ich wollte. Deswegen noch schnell der Kiosk in Gänze und dann ist Schluss.

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