Vom Schreiben I

Mein Großvater war schon tot, als ich mit dem Schreiben anfing. Und doch war er der Grund dafür. Ich weiss das noch so genau, weil es frühmorgens war. Ich schlich aus dem Haus, bevor Großmutter wenig später den Hof betrat, um die Hühner und Karnickel zu füttern. Das war vorher seine Aufgabe.

Vor dem Haus stand eine Haselnuss, die mir knapp zwei Jahrzehnte später eine veritable Allergie bescheren sollte. Gleich neben der Schaukel und dem Sandkasten, der eigentlich ein großer, alter Traktorreifen war. Dort stießen wir, wenn wir tief genug gruben, immer mal wieder auf verwitterte Nazimünzen. Was Großvater als kriegserfahrenen Kommunisten jedes Mal aufregte, wenn  er fand, was wir vor ihm verstecken wollten.  Von seinen Funden auf diesem Grund und Boden hat er uns zeitlebens nichts erzählt: Wir waren wohl noch zu jung für die Geschichten über Pistolen und Dolche mit eingravierten Hakenkreuzen, die er nach dem Hauskauf entdeckte, gar nicht mal so gut versteckt. Natürlich wurde er in dieser Angelegenheit sofort auf der Kreisleitung vorstellig und bereinigte sie.

Noch vor Sonnenaufgang wollte ich auf der Astgabel des Haselnussbaums sein, meinem Lieblingsplatz. Von hier aus hatte man den besten Überblick über die Umgebung: Die Wiese vor dem Haus, links davon die Gemüsebeete, dahinter die Heuwiese. Die durften wir Kinder nicht betreten, dafür war sie bunt gefärbt von den vielen Blüten, bis Großmutter mit Sense und Sichel das Grünfutter erntete. Geradezu, hinter der Hecke und den Obstbäumen, führte der Weg an den Schuppen vorbei zur Garage und zur Werkstatt, bis er an den Ställen und vor dem Hühnerhof endete. Selbst die kleine Laube ganz hinten an der Grenze zum Uhrmacher-Nachbarn war von hier aus über die Kirschbäume hinweg gut zu erkennen. Rechts von dem Weg bildete eine Reihe Blumenbeete die Begrenzung zum anderen Nachbargrundstück, das so gross und auch ein wenig hügelig war, dass man das Haus nicht mal von meinem Ausguck aus sehen konnte.

Ich hatte einen Bleistift dabei und eines der grobfaserigen blassgrünen Schulhefte, blau liniert. Und konnte es gar nicht erwarten, dass die Natur im Gleichklang mit der Sonne aufwachte, was ich dann sogleich protokollieren würde, genau so, wie ich es in meinem damaligen Lieblingsbuch gelesen hatte. Dessen Titel habe ich längst vergessen, die meisten Tier- und Pflanzennamen, die ich damals aus dem Effeff beherrschte und zuordnen konnte, ebenfalls. Doch ich weiss noch, dass das der Moment war, in dem ich anfing, zu schreiben. Weil ich Bücher liebte, und Geschichten. Und die besten davon erzählte mein Großvater, einige schrieb er sogar für uns Enkel auf: Erst handschriftlich auf Briefpapier, dann tippte er sie mit der Erika-Schreibmaschine ab. In ihnen hörte ich zum ersten Mal von den Möwen und dem Meer, an dem ich bald darauf wohnen würde. Eine Zeit lang – die Seemannsgeschichten waren wohl schuld – dachte ich, mit den Schreibmaschinen sei das wie mit den Schiffen, was die Namensgebung betraf: Meine Großmutter hiess Erika, also benannte mein Großvater seine Schreibmaschine dementsprechend.

Er war also schuld daran, dass ich anfing, zu schreiben. Obwohl ich doch wegen ihm eigentlich Oberförster im Lieschenpark werden wollte. Trotz des Namens handelt es sich hier durchaus um einen Wald, in dem sich sogar ein kleiner Angelteich befindet. Als Revier für einen Oberförster wäre er aber wohl wirklich etwas klein gewesen. Ich weiss nicht viel von meinem Großvater, das wenigste davon aus seinem Mund: Er war der Sohn eines Melkers, geriet bei El Alamein glücklich in amerikanische Kriegsgefangenschaft (Huntsville, Texas) studierte Agrarwissenschaften, war LPG-Vorsitzender und starb, als ich sechs Jahre alt war. Mir ist er jedoch hauptsächlich als Geschichtenerzähler in Erinnerung, und viele seiner Geschichten spielten in den Wäldern um uns herum, in denen er als Jäger unterwegs war und wo er die unglaublichsten Sachen erlebte.

So hatte er sich beispielsweise einmal verlaufen, nach einigem Umherirren stieß er auf eine kleine Brücke, von der aus der Waldweg direkt zu einer Hütte führte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um das Haus des Weihnachtsmanns. Als wir Kinder leise Zweifel daran hegten, dass der nun ausgerechnet bei uns um die Ecke wohnen würde, nahm er uns eines Tages – wie so oft, aber doch viel zu selten – mit, um uns die Hütte zu zeigen. Es war leider Sommer, und der Weihnachtsmann samt Helfern im Urlaub. So las er es vor, von dem Schild, das in dem verstaubten Fenster der Hütte hing. Unsere Zweifel waren zerstreut, schliesslich standen wir vor der Hütte und konnten die Botschaft des Weihnachtsmanns mit eigenen Augen sehen, auch wenn wir noch nicht lesen konnten. Ich liebte diese Geschichten, liebte es, mich durch die Wälder und über Wiesen und Felder treiben zu lassen und die Tiere zu beobachten: Oberförster also, keine Frage.

Doch dann fing ich an diesem einen Morgen mit dem Schreiben an und habe bis heute nicht damit aufhören können. Vorher stieg ich allerdings nochmal von meinem Lieblingsplatz in der Astgabel des Haselnussbaums herunter und ging in den grünen Schuppen, den Futterschuppen. Von hier aus ließ Großvater ein paar Jahre zuvor einen selbstgebastelten Osterhasen an einer Seilwinde zum Hühnerhof laufen, er hatte sogar eine Weidenkiepe auf dem Rücken, wenn ich mich recht erinnere. Wir Kinder bestaunten dieses Schauspiel mit verschlafenen Augen vom Küchenfenster aus. Unser Großvater kannte also nicht nur den Weihnachtsmann persönlich, sondern sorgte auch dafür, dass wir die einzigen waren, die im Kindergarten stolz berichten konnten, den Osterhasen tatsächlich bei der Arbeit  beobachtet zu haben.

Meine Großmutter kippte gerade das Futter für die Hühner und die Karnickel zusammen. Ich half ihr immer wieder gerne beim morgendlichen Füttern, es war eine meiner liebsten Tätigkeiten im Haushalt: Die frische klare Luft um diese Zeit, besonders im Winter, noch unschuldig vom Dreck des Tages. Die gerade erwachende Sonne und die Ruhe, selbst die Hühner schliefen manchmal noch und mussten von uns erst geweckt werden. Meine Aufgabe war es, trockenes Brot mit Wasser und Getreide zu vermanschen und danach die gelegten Eier einzusammeln. „Weisst du noch, der Osterhase….?“ Fragte ich Großmutter, während wir vom Stall zurück Richtung Haus gingen. „Ist schon gut, mein Junge.“ Sagte sie. Ich kletterte zurück auf die Astgabel und schrieb eine Geschichte über den Eisvogel, der in den riesigen Birken des Nachbargrundstücks wohnte.

Ein Haus, vom Hof aus gesehen, davor ein Haselnussbaum, davor eine Schaukel auf der zwei Kinder klettern

Schrecken

Seit zwei Stunden saß er inzwischen auf gepackten Koffern. Und alle fünfzehn Minuten dachte er, dass das ja wohl totaler Quatsch wäre, nur wegen ein paar Heuschrecken.

„Das Heu kannst du weglassen“ hat Paul gesagt, „das sind Stabschrecken, so indische. Die haben es da wohl nicht so mit Heu.“

Er würde doch nie wieder hier in der Gegend was finden, jedenfalls nichts, was er sich leisten könnte. Und was sollte er erzählen, wenn ihn jemand fragt? Eine letzte Möglichkeit gab es noch, aber er hegte keine großen Hoffnungen, als er die Nummer aus dem Branchenbuch ins Telefon tippte. Reine Formsache, es sollte keiner sagen können, er hätte nicht alles versucht.

Nur ein paar Brombeerzweige und ein paar Wochen, mehr kostete es nicht, meinte Paul, als sie zusammen das riesige Terrarium die Treppen hochwuchteten. Die Zweige müssten allerdings regelmässig ausgetauscht werden und alle paar Tage sollte man mal ein bisschen Wasser zerstäuben. Kein Thema, eigentlich.

„Das heisst die bewegen sich so gut wie nie?“ fragte er, „Nichts als schlafen, fressen, ficken?“ Paul lachte nur: „Von wegen, nicht mal das! Das sind alles Mädels. Klone. Die gibt es seit 17 Jahren, die haben schon auf der ersten Fusion getanzt. Also, ihre DNA jedenfalls.“

Sie bestückten das Terrarium großzügig mit den erstaunlich stacheligen Zweigen und gestatten sich nach getaner Arbeit ein gut gefülltes Pfeifchen. Er fand, dass diese Viecher und ihr beschaulich eingerichtetes Gehege etwas ungemein Beruhigendes hatten, auch wenn sie sich inzwischen – es war längst dunkel geworden draussen – für seinen Geschmack doch fast etwas zu schnell bewegten. „Und vergiß nicht“ meinte Paul, „das sind Insekten. Da kann ruhig mal was kaputt gehen, ich hab die jetzt nicht nachgezählt. Also, keine Sorge! Und Tommi soll sich so viele rausnehmen, wie er will.“

Tommi war sein Teilzeit-Mitbewohner und als solcher den größten Teil der Zeit nicht da. Bei seinem letzten Besuch in der Stadt fand er die Schrecken so toll, dass ihm Paul jetzt ein paar zum Geburtstag schenken wollte, samt eines weiteren, etwas kleinerem Terrariums.

„Eigentlich kann er auch das Riesenteil mitnehmen, ich hab zu Hause eh noch ein anderes Grosses. Und du packst die, die übrig bleiben, in das Kleine…“ Er konnte es Paul nicht verdenken, dass dieser den schweren Glaskasten nicht noch einmal all die Treppen hoch- und runtertragen wollte. „Mir egal“ antwortete er und begann, das Fitzelchen Hasch in seine letzten Brösel aufzulösen.

Nachdem alles aufgeraucht war, brachte ihm Paul die Umsiedlung – bzw. das Umsetzen, wie er belehrt wurde – bei. Einige der Viecher waren schon ziemlich groß, und ihre Beine ganz schön widerborstig, oder besser -hakig. Mit etwas Übung klappte es jedoch ganz gut, zur Not half man mit einem kräftigen Pusten nach, um die Tiere von der Kleidung zu bekommen. Er sah eigentlich ein paar unkomplizierten Wochen entgegen.

***

„Boah, sind die garstig!“ Tommi weigerte sich beharrlich, auch nur eine Nacht mit den Monstern alleine in einem Zimmer zu verbringen. Er legte mit den Drogen gerade eine Pause ein und begann, sich wieder an seine Träume zu erinnern. Und hatte Angst vor den Ängsten in ihnen, da passten die Schrecken nicht gut rein. Soviel dazu.

Was bei Pauls weisen Ratschlägen zur Insektenhaltung nicht zur Sprache kam, war, dass sich die Viecher häuten. Kann man sich denken, sicher, aber als er eines Morgens das erste Mal eine abgestreifte Schrecken-Hülle fand, geriet er leicht in Panik. Denn nachhaltig, wie die Natur nun mal ist, knabberten die Tiere ihre abgelegte Haut gern auf. Er befürchtete natürlich sofort, die Schrecken wären dem Kannibalismus anheimgefallen.

In den folgenden zwei Wochen pendelte sich alles einigermassen ein: Er kannte inzwischen sämtliche Brombeer-Reviere in der näheren Umgebung und war erstaunt, wie viele grüne Blätter noch an den Pflanzen waren, obwohl sich der Winter schon dem Ende zuneigte. Noch erstaunter war er allerdings, als die ersten warmen Frühlingssonnenstrahlen das wahre Potential der Brombeeren entfalteten; selbst abgeschnitten im Wassereimer auf dem Balkon trieben die Zweige aus, was das Zeug hielt. Ungefähr zu dieser Zeit bemerkte er auch erstmals die Veränderungen an den Schrecken: Nach und nach färbten sie sich rot.

Zuerst stellte er noch die Klon-Theorie in Frage und vermutete, dass sich vielleicht doch ein Männchen eingeschlichen hätte, oder geschlüpft war. Dann kam er aber relativ schnell auf die Möglichkeit einer Mutation. Überhaupt schienen sich die Insekten ziemlich wohl zu fühlen, oder es lag am Frühling, jedenfalls wurden sie mehr und mehr. „Die schmeissen ihre Eier einfach ab, keine Ahnung, wie viele da rumliegen.“ Mehr war aus Paul zu diesem Thema nicht herauszukriegen. Die Zweige boten längst nicht mehr genügend Platz, so dass die Schrecken jetzt hauptsächlich aufeinander sassen. Und bei dieser Gelegenheit liessen sie es sich nicht nehmen, sich gegenseitig die Beine abzufressen. Jetzt war er da, der Kannibalismus. Das Terrarium war eindeutig zu eng geworden.

Die Roten schienen sich dabei am besten zu schlagen, irgendwann waren sie in der Überzahl. Ab da wurde auch das Tauschen der Zweige und des Wassers ungleich komplizierter: Nicht nur, dass die Tiere generell viel zu viele waren inzwischen, sondern sie schienen auch aktiver und fluchtwilliger zu werden. Die graubraunen Schrecken, die er vor zwölf Wochen bekommen hatte, wackelten auf ihren dünnen Beinchen ein paar Mal vor und zurück, bevor sie überhaupt einen Schritt machten. Von den Roten entwischten ihm immer ein oder zwei Exemplare, sobald er nur den Deckel anhob. Und obwohl es in der einschlägigen Literatur hiess, dass Temperaturen deutlich unter 18 Grad Celsius tödlich wären, sah er den einen oder anderen Ausreisser noch Tage später auf dem nachts weiter winterlich kalten Balkon.

Da Tommi sehr deutlich gemacht hatte, dass er keinerlei Wert auf sein Geburtstagsgeschenk legte und Paul auf der Mailbox die Nachricht hinterlassen hatte, dass sich seine Rückkehr erheblich verzögern würde, musste er sich langsam was einfallen lassen, um der Überbevölkerung Herr zu werden. Zwischenzeitlich hatte er sämtliche verfügbaren Informationen geprüft, aber einen Fall wie seinen nirgends auch nur annähernd beschrieben gefunden. Viele andere interessante Fakten, das ja, aber nichts zu der Verfärbung. Könnte am Futter liegen, war die generelle Vermutung. Doch mit dem flammenden Rot und einer spontanen Mutation konnte niemand etwas anfangen. Allerdings waren die meisten seiner Gesprächspartner auch eher Reptilienzüchter und weniger am Leben der Schrecken interessiert als an ihrem Nährwert.

Er müsste sie umsetzen, soviel war klar. Gerade, als er dabei war, das kleinere Terrarium zu präparieren – die Brombeeren sprossen nur so, überall, und er wunderte sich noch, warum ihm die unzähligen Büsche in seiner unmittelbaren Umgebung bisher entgangen waren – hörte er die Stimme zum ersten Mal: „Du bist ein guter Mensch. Du solltest besser gehen.“

„Da wär ich mir nicht so sicher.“ Murmelte er, bevor sich ihm die Frage stellen konnte, wo diese Stimme auf einmal herkam. Er entfernte das Tuch vom großen Glaskasten, keine einzige Schrecke bewegte sich. Das war schon komisch, da sie in der letzten Zeit ja immer so flink unterwegs waren, aber auch darauf achtete er nicht weiter. Die Frage nach dem Modus der Aufteilung beanspruchte in diesem Moment seine ganze Aufmerksamkeit, er hatte darüber vorher gar nicht nachgedacht: Groß und klein zusammen, bunt gemischt? Oder nach Alter und Größe sortieren? Einfach das nehmen, was ihm zuerst unter die Finger kam? Und wie viele sollte er überhaupt in das kleine Terrarium packen, um nicht in ein paar Tagen wieder den Kannibalismus das natürliche Gleichgewicht herstellen lassen zu müssen? Er müsste sich schnell entscheiden, bevor die Hälfte der Viecher von alleine wer weiss wohin auswandert, überlegte er noch. Doch dann bemerkte er die Ruhe, die Bewegungslosigkeit, die komplette Erstarrung jedes einzelnen Tieres. Ungewöhnlich, dachte er, was ist denn jetzt schon wieder los?

„Geh!“

***

Der Kammerjäger war anfangs etwas ratlos, dann griff er zum Telefon.
„Ja, Kurt, icke. Hier, hörmal, bin grad in der Weser 13, komische Sache, dit. Deine Frau arbeitet doch inner Klappse, oder?  Sach ma, jibt dit da so ‘ne Art Notruf? Oder soll ick da den normalen Krankenwagen rufen?“

„Ja, nee, Folgendet: Der Typ sitzt hier direkt neben mir, dit is dem vollkommen ejal, allet. Aber is eben ooch nich agressiv oder verwirrt uff den ersten Blick, deswejen dachte ick, da wär’n paar Spezijalisten jebraucht, vastehste? Wenn dem so erstma nüscht fehlt, nimmt den doch keener mit, dacht ick mir. Polizei, meenste?“

„Jut, danke dir, dit is jut, der Rudi, klar. Da wär ick jar nich drauf jekommen. Dachte, der wär längst in Rente. Ick meene, wie soll der den bitteschön die Türkenbengels jagen mit sein kaputtet Knie und den zweieinhalb Zentnern? Naja, soll mir ejal sein, wa. Sach ihm, er soll sich beeilen. Tschö.“

„Es ist gut, dass Sie die Polizei gerufen haben. Hoffe ich.“ Er schaute den Kammerjäger traurig an. „So wird es wenigstens aktenkundig, wissen Sie? Aber Sie müssen schon zugeben, dass sich diese Tiere seltsam verhalten, oder?“

Dem Kammerjäger war deutlich anzumerken, dass er in diesem Moment lieber woanders wäre. Schaben, Ratten, Motten, das waren seine Gegner. Mit verwirrten Menschen, die friedlich in ihrem Gehege hockende Heuschrecken für eine Bedrohung hielten, konnte er dagegen nicht viel anfangen. „Müssen muss ick jarnüscht, damit dit schon mal klar is. Und wo wa schon ma dabei sind: Ooch wenn ick jetzt hier nüscht ausrichten kann, die Anfahrt muss bezahlt wern, sonst reisst mir meen Chef den Kopp ab.“

„Herr König, nehme ich an?“ Der Polizist nahm seine Mütze ab und streckte die Hand aus, er machte einen netten, offenen Eindruck. Etwas ausser Atem, aber nett.

„Nein, Caesar. Aber das ist jetzt nicht so wichtig…“ Nach einem kurzen Händedruck fingerte der Beamte Block und Stift aus der Jackentasche. „Für mich ist erst mal alles wichtig, leider. Also Cäsar, so wie der aus Rom, ja?“

„Genau der.“ antwortete er. Der Kammerjäger hustete kurz auf, kratzte sich am Kopf und hielt dem Polizisten die Hand hin: „Rudi, ick bin wech, wenn dit ok is. Is ja wohl nich mehr meen Metier hier…“

„Sicher. Also, Herr Cäsar, was genau ist hier das Problem?“

„Wissen Sie, wie man den Hunger in der Welt bekämpfen kann?“ Er schaute dem Polizisten in die fragenden Augen, erwartete aber keine Antwort. „Insekten! Stabschrecken, insbesondere. Reines Protein. Es gibt erstaunliche Studien, der Energiebedarf, die Kosten für die Erzeugung von einem Kilo Rind und einem Kilo Stabschrecken verglichen, das ist ein Riesenunterschied!“

„Das mag ja sein, aber ich glaube nicht, dass uns das hier weiterbringt, Herr Cäsar. Und ich möchte mir auch ungern einen Teller voller Insekten auf dem Mittagstisch vorstellen…“

„Uns wird gar nichts anderes übrigbleiben, über kurz oder lang.“ Unterbrach er den Beamten. „Das Dumme ist nur, die Schrecken wissen das jetzt auch, und ich bin schuld. Ich wollte das alles nicht…

Immerhin haben sie mich gewarnt. Sie organisieren sich. Sie haben ein kollektives Bewusstsein aufgebaut. Sagt ihnen der Begriff Hive Mind etwas? Es sind verdammte mutierte Klone, und sie haben schon im ganzen Haus Eier gelegt, sie sind mir entwischt, das tote Treppenhaus ist bestimmt schon voll von ihnen. Am Besten, das ganze Haus wird komplett abgerissen, oder ausgeräuchert, was weiss ich. Vielleicht bringt das noch was. Wenn es schnell genug geht. Ansonsten werden sie uns mit ihrer schieren Masse erschlagen, das haben sie mir verraten. Sie sagten, ich solle weit weg von den großen Städten versuchen, zu überleben. Dort würden sie nämlich ihr leichtestes Spiel haben, nur ein wenig die Infrastruktur überlasten und die Menschen würden sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Verstehen sie jetzt, wie dringend es ist?!“

Der Polizist schien unbeeindruckt, steckte den Schreibblock wieder in die Tasche und öffnete den Knopf des Handschellentäschchens an seinem Gürtel. „Wir bringen Sie jetzt wirklich besser gleich zu Bonnies Ranch, Herr Cäsar, spart auch ‘ne Menge Papierkram, wenn‘s Recht ist. Gut, dass Sie ihre Tasche schon gepackt haben. Und um die Heuschrecken brauchen Sie sich keine Sorgen mehr machen, um die kümmern wir uns schon!“

„Es sind Stabschrecken, so indische. Werden Sie schon noch sehen.“ Sagte er matt und liess sich umstandslos mitnehmen. Vielleicht war er da draussen wirklich sicherer.

Vor dem Gesetz

23.03.04

 

Der Richter hob seinen Blick knapp über die halben Gläser der Brille und sah ihm direkt ins Gesicht. „Herr Sperber – das ist doch ihr bürgerlicher Name? – das ist eine vielleicht etwas intime Frage, aber bitte, schildern Sie uns doch mal ihr Verhältnis zur Sexualität, so allgemein.“

„Euer Ehren, mit allgemeinen Sachverhalten kann ich nicht dienen. Wenn es um Sexualität geht, bitte: Mit 13 Jahren habe ich das erste Mal onaniert, in der Badewanne, unter Zuhilfenahme von Kernseife. Als Vorlage diente mir dabei eine Szene des Buches `Gullivers Reisen´, in der Gulliver am Hofe der Riesen von den Hofdamen zu deren Belustigung zwischen ihre eingeschnürten Brüste gesteckt wird. Diese Vorstellung prägte, wie ich jetzt weiss, mein späteres Sexualverhalten enorm, da ich mich immer zu Frauen mit grossen Busen hingezogen fühlte.

Allerdings konnte ich nie eine langfristige Beziehung zu einer Frau aufbauen. Es fing damit an, dass ich im Alter von sechzehn Jahren, nach meinen ersten enttäuschenden Erfahrungen, in einer Zeitung eine Anzeige für Telefonsex fand. Da meine Eltern nicht im Haus waren und aufgrund meiner Erregtheit mein Denkvermögen einigermaßen eingeschränkt war, rief ich umgehend die angegebene Nummer an und sprach stundenlang mit den unterschiedlichsten Frauen in unflätigster Art und Weise.

Diese Art der Konversation fesselte mich ungemein, um es schonend auszudrücken. Ehrlich gesagt wurde ich in einem rauschartigen Anfall wie besessen davon, ich musste es immer wieder machen.

Doch umgehend wurden mir auch die Konsequenzen meines Handelns bewusst. Die erste Telefonrechnung konnte ich noch abfangen. Nach anderthalb Monaten allerdings bemerkte mein Vater Otto Unregelmäßigkeiten auf seinem Kontoauszug. Er erwähnte es nebenbei am Abendbrotstisch, ohne vorwurfsvollen Unterton. Daher war ich mir sicher, dass er noch keinen konkreten Verdacht geschöpft hatte. Aber wie ich ihn kannte, würde er so schnell wie möglich weitere Nachforschungen anstellen, da die abweichende Summe, er nannte keinen genauen Betrag, scheinbar nicht ganz unerheblich war.

Tags darauf packte ich meine Sachen und machte mich aus dem Staub. Die ganze Angelegenheit war mir unendlich peinlich. Ich wäre lieber, verzeihen Sie mir die Ausdrucksweise, doch ich weiß inzwischen wovon ich spreche, ich wäre lieber in den Höllenschlund gesprungen, als dass ich meinem Vater, einem einstmals vorbildlichen Angestellten, Rede und Antwort über die erhöhte Telefonrechnung hätte stehen müssen. Ich sah meine Eltern nie wieder.

Nach Jahren des Herumtreibens in den verschiedensten geografischen und sozialen Milieus ließ ich mich dann letztendlich mit Anfang zwanzig in einer Großstadt nieder. Bis dahin hatte ich es nicht gewagt, meiner Sexualität wieder freien Lauf zu lassen. Ich war immer noch geschockt von dem unbändigen Potential, das dabei freigesetzt wurde. Mir war durchaus bewusst, dass ich ein Problem hatte, doch ich wollte einen letzten Versuch unternehmen.

Sie müssen wissen, zu dieser Zeit fingen die Frauen an, sich enorm freizügig zu kleiden. Überhaupt schien die gesamte Gesellschaft in höchstem Maße sexualisiert zu sein. Ehemalige Erotikdarstellerinnen machten Wahlkampf für eine ehemalige Regierungspartei. Es gab kaum mehr einen Unterschied zwischen Musikvideos und Pornofilmen. Von jedem Plakat und aus jeder Gasse brüllte einen der Sex geradezu ins Gesicht. Ich war jung, ich wohnte mit anderen jungen Menschen unterschiedlichen Geschlechts zusammen und es wurde viel geteilt. Es gab philosophische Gespräche in der Gemeinschaftsküche, aber auch in ihnen drängte sich die Sexualität immer mehr in den Vordergrund. Spätestens seitdem die Franzosen wieder in Mode kamen, Foucault, Houellebecq. Ich fühlte mich einem gewissen Druck ausgesetzt.

Eines Abends ging ich in das Zimmer meines Mitbewohners, der gerade in einem Cafe dem Müßiggang nachhing, um an seinem Computer meine E-Mails nachzuschauen. Ich stieß zufällig auf einen Ordner mit pornografischen Fotos und Filmen, mich überkam ein unsägliches Verlangen nach Selbstbefriedigung, dem ich schließlich nachgab. Dann schaltete ich schnellstmöglich den Computer aus und begab mich in mein Zimmer.

Ich quälte mich die ganze Nacht mit Zweifeln über die Normalität meines Sexualverhaltens, wusste andererseits aber auch nicht, wie es zu bewerten war, dass mein Mitbewohner solches Material auf seinem Computer gespeichert hatte. Am nächsten Morgen schleppte ich mich dann müde und wie gerädert zur Universität, um dort im Computersaal noch mal mein Postfach abzufragen, das hatte ich am Abend zuvor nämlich vergessen. Wie ich in solchen Momenten immer alles um mich herum vergaß. Auf dem Weg dorthin, schon auf den Fluren der Alma Mater, fand ich eine dieser neuen Digitalkameras. Das stimmte mich etwas froh, ein wertvoller Fund, als Student hatte ich ständig Geldsorgen. Ich zog mich auf eine Toilette zurück, um mir das Gerät näher anzuschauen.

Es war ein sehr modernes Modell, das LCD-Display zeigte ein ganz passables Bild und das Menü bot unzählige Funktionen. Dann öffnete ich den Ordner, in dem die bisher aufgenommenen Bilder gespeichert waren, und ich erkannte drei meiner Kommilitonen, wie sie sich in unterschiedlichsten Positionen unbekleidet miteinander vergnügten.

In diesem Moment beschloss ich, mich von dieser Gesellschaft los zu sagen. Ich machte unverzüglich kehrt und trat noch am gleichen Tag dem Orden des heiligen Franz bei. Das war vor fünf Jahren. Daher kann ich ihnen über Sexualität, so im Allgemeinen, nicht viel sagen. Praktisch gesehen, im wortwörtlichen Sinne. Und ich bin, rückblickend betrachtet, auch sehr glücklich über diese Entscheidung, wenn ich ehrlich sein soll, und darum geht es hier ja, nicht wahr? Allerdings, Euer Ehren, wenn ich Ihnen auch eine Frage stellen dürfte: Es geht hier doch um einen Verkehrsunfall, wieso stellen Sie mir solche Fragen?“

Freundschaft. Ein Versuch.

Wir gingen zusammen zur Schule, von der achten bis zur zwölften Klasse. Damals, an der Küste, nachdem der eine Staat verschwunden war und der aktuelle eben auch die Schule neu organisieren musste. Was bedeutete, dass ich nicht wie geplant bis zur zehnten Klasse auf der alten POS bleiben konnte. Jedenfalls nicht, wenn man vorhatte, etwas aus sich (bzw. dem Kind) zu machen: Denn hier würden demnächst nur noch Realschüler die Zeit totschlagen, wer mehr wollte, musste auf ein Gymnasium. So war das jetzt, dafür gab es aber immerhin keine langweiligen Pioniernachmittage und Freundschaftsratssitzungen mehr.

In meiner Stadt wurden drei Gymnasien eingerichtet. Zwei davon kamen für mich in Frage, das dritte lag zu weit weg von der Altstadt, in der ich wohnte, draussen in einem der Plattenbauviertel. Aber ich wollte ja sowieso auf die altehrwürdige Backstein-Eliteschule kurz vor der Stadtmauer und somit nur fünf Minuten Fussweg entfernt – wenn schon, denn schon. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Schulen versuchten, sich ein Profil zu geben – und die von mir auserwählte wollte nun unbedingt ein musisches Gymnasium sein. Für die klassisch-deutsche humanistische Lehranstalt gab es wohl einfach noch nicht genügend Latein- und Griechischlehrer, schätze ich mal. Man muss ja mit dem Menschenmaterial arbeiten, was da ist, ein Jahr nach dem Systemwechsel. Deshalb hatten wir auch bis zur zwölften Klasse Russischunterricht.

Jedenfalls konnte ich meine musischen Fähigkeiten realistisch genug einschätzen (nicht vorhanden), um zu wissen, dass meine Karten nicht die besten waren. Zum Glück hatte aber meine Musiklehrerin einen Narren an mir gefressen – ich wurde in dieser Schule eingeschult, war aber zwischendurch lange Zeit woanders und erst vor einem Jahr wieder zurückgekehrt, worüber sie sich unerklärlicherweise sehr freute. In diesem kompletten Jahr konnte ich meine Musik-Legasthenie dank vorgegaukeltem Stimmbruch ganz passabel verschleiern, wenn es hart wurde half mir mein spielmannszuggestählter Banknachbar dabei, irgendwelche Takte vorzuklopfen oder ähnliches. So kam ich zu meiner Empfehlung, ebenso wie mein heimlicher Helfer. Insgesamt gingen aus unserer 27-Köpfe-Klasse vier aufs Gymnasium.

Was ich bei meinen ganzen praktischen Überlegungen zur Entferrnung zwischen Wohnort und Lernort, dem Ruf, der Architektur und so weiter nicht bedacht hatte, war der Lehrplan. Damit hatte ich mich null auseinandergesetzt, schliesslich war ich jung und es waren Sommerferien. Aufgrund des euphorischen Schreibens meiner ehemaligen (und- wie sich herausstellen sollte – zukünftigen) Musiklehrerin fand ich mich am ersten Schultag in der musisch ausgerichteten Klasse wieder – denn das war es auch schon mit dem Profil: pro Jahrgang eine Spezialklasse. Zusammen mit zwei anderen Jungs und 25 Mädchen. So weit, so gut (und beängstigend auch irgendwie). Als die Klassenlehrerin dann allerdings den Stundenplan erklärte und es dort dank der musischen Spezialisierung nur so von Kunst- und Musikstunden wimmelte, wurde ich etwas panisch. Eine glückliche Fügung liess kurz darauf den Kopf einer anderen Klassenlehrerin im Türspalt erscheinen, mit der Frage, ob vielleicht noch jemand in eine normale Klasse wechseln möchte, sie hätte noch drei freie Plätze. Ich meldete mich sofort, mein alter Banknachbar zog mit, obwohl seine Fähigkeiten hier gut aufgehoben gewesen wären. Der einzig übriggebliebene Junge in der 8 a(m) – wobei das m jetzt unter der Hand für Mädchen stand – wurde in den nächsten Jahren regelmäßig verprügelt, irgendwann war er nicht mehr da.

An diesem Tag war ich also für eine knappe Unterrichtststunde in der gleichen Klasse wie A. Kennenlernen sollten wir uns allerdings erst zwei Jahre später. Dazwischen lag eine komplizierte Zeit, diverse Jugendkulturen kämpften auch auf dem gymnasialen Pausenhof um die Lufthoheit, und zu dieser Zeit in dieser Region war es um das Überleben der Punks, zu denen A. von Anfang an zählte, nicht gut bestellt, manchmal wortwörtlich. Von ihr abgesehen stellte sich die Klasse, aus der ich mich retten konnte, als perfekte Vorstufe des späteren Germanistik-Seminars heraus: Höhere, meist blonde Töchter mit  Pferdeschwanz, Bratschenkoffer und der Nase ganz weit oben. A. trug ihr Haar damals grün, wenn ich mich recht erinnere.

Unser nächstes Zusammentreffen, das erste wahrnehmende, wenn auch noch nicht zur Initiation taugend, ereignete sich dann bei einem meiner ersten Ausflüge in den lokalen Underground. Direkt neben dem historischen Altstadttor, unweit der Schule, traf sich die alternative Szene der Stadt. Es waren nicht viele, der Raum auch nicht größer als ein Wohnzimmer. Aber es reichte, um billiges Bier zu trinken, laute Musik zu hören, vom einzigen Interim-Abo weit und breit zu profitieren und das erste Dope zu rauchen. Nachdem ich diesen Laden entdeckt hatte, und A. natürlich mittendrin, zum Mobiliar gehörend, wurde er mein Aufenthaltsort in den Schulpausen der nächsten Jahre.
Einer meiner besten Freunde, eigentlich noch viel zu sehr mit der eigenen Pubertät beschäftigt, ließ sich kurz darauf mit A ein. Sie hätte es nicht nötig gehabt, und er war der Sache nicht gewachsen, aber sie verstanden sich danach noch über Jahre sehr gut. Trotz der Peinlichkeiten, die damals unweigerlich passiert sein müssen.

Bei einer klassenübergreifenden Bildungsreise in die Bundeshauptstadt am Rhein stellten wir fest, dass ich der einzige war, der halbwegs vernünftige Joints drehen konnte und sie die einzige, die etwas zu Rauchen dabei hatte. Doch nicht nur das schweißte uns zusammen.
Keine Frage, sie sah auch damals schon toll aus: Gross – grösser als ich, was keine grosse Kunst ist. Kastanienkulleraugen mit einem gewaltigen Schalk hinter dem Vorhang, eine markante Nase und perfekte Lippen. Aber die unbestritten vorhandene erotische Spannung überliessen wir unserem Unterbewusstsein; wir redeten lieber über Gott und die Welt und Nietzsche, womit sich ersterer dann erledigt hatte. Sie war schliesslich mit meinem besten Freund zusammen, später dann mit einem kleinen Punk aus Bremen. Und auch ich hatte irgendwann mein Highschool Sweetheart gefunden.

Wir bauten etwas auf, dem der Begriff Freundschaft schlecht aufzudrücken ist. Wir steckten beide in Teenager-Beziehungen. Wir wollten zusammen keine sexuellen Herausforderungen annehmen, sondern geistige. Es war eigentlich von unserem ersten langen Gespräch an immer so, dass wir uns Wochen und Monate nicht über den Weg liefen, oder wenn, dann aneinander vorbei, um dann zum richtigen Zeitpunkt aufeinander zu treffen, an dem alles ist, als wäre nichts gewesen.

So ging das wohl etwa ein Jahr: Hier und dort traf man sich, fuhr zusammen zu Konzerten, an den Strand oder in die Indiedisco im Nachbarort. Dann kam die Oberstufe und damit zwei entscheidende Änderungen, auch was A. und mich betraf: Dank des Kurssystems hatten wir jetzt wieder zusammen Unterricht. Und wir bekamen einen Austauschschüler aus Washington, DC. Der zufällig am gleichen Tag Geburtstag hatte wie ich. Die magischen Momente begannen.

Ich weiss nicht mehr genau, wie und wann sich unser Dreierbund gründete. Wahrscheinlich war es an dem Abend, als wir uns zusammen den Doors-Film anschauten. Im sogenannten Kino-Klub, weil es kein Kino mehr gab in unserer Stadt.
Wir waren die jüngsten Mitglieder dieses Klubs, fühlten uns aber sehr wohl dort: Die Atmosphäre, gerade bei dem flackernden Projektorenlicht, war in den Räumen des mittelalterlichen Kontorhauses einfach einzigartig, vor allem wenn dazu eine Buñuel-Reihe lief, oder eben der Doors-Film.
Wir waren alle drei restlos begeistert von dem Film, liefen auf die Straße und genossen den Regen des ausklingenden Sommers. Als er uns nicht mehr genügte, weil er sich langsam verabschiedete, legten wir uns auf die umgischtete Mole und erwarteten zusammen den Sonnenaufgang. Wir redeten und rauchten und tranken und schwiegen die ganze Nacht durch.

Wir zeigten C. die Stadt, vor allem die dunklen Ecken. Wir zeigten ihm das Land und den Strand, voller unglaublich schöner Ecken. Und natürlich Berlin. Von dort ging auch der Flieger, der ihn nach einem Jahr wieder zurück nach Hause brachte. Er hasste den Abschied, deswegen wollte er ihn vermeiden. Klammheimlich hatte er sich aus dem Staub gemacht. A. rief mich aufgeregt an, wir müssten unbedingt nach Berlin. Wir liessen mit voller Unterstützung unserer Eltern die Schule sausen und versuchten, in brennendem Eifer, mehr Details über C.s Verbleib in Erfahrung zu bringen und eine Transportmöglichkeit nach Berlin zu organisieren. Von einer Unterkunft ganz zu Schweigen. In Ostberlin war das Telefonnetz immer noch sehr löchrig.

Der Flug sollte in zwei Tagen gehen und C. wohnte solange angeblich in einer Jugendherberge. Was aussichtslos klingt und uns auch so vorkam, ist doch gar nichts im Vergleich zu heute, wo es hunderte Hostels in Berlin gibt: Das Deutsche Jugendherbergswerk betrieb damals maximal fünf Filialen in der ehemaligen und zukünftigen Hauptstadt. Zur Not würden wir die eben alle nacheinander abklappern. Das Schicksal schien uns schliesslich wohl gesonnen: Wir hatten noch zwei volle Tage Zeit, und der grosse Bruder besagten Freundes, der mit seinen Kunsthochschulfreunden gerade zur Sommerfrische hier war, wollte am nächsten Morgen mit der ganzen Truppe zurück nach Berlin fahren, in dem orangebunt angemalten Toyotaklapperbus, der uns schon bei diversen Roskildefahrten gute Dienste geleistet hatte. Da waren noch zwei Plätze frei, genauso wie in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg. Das war doch schon mal ein guter Anfang!

Es war eine der vergnüglichsten Autofahrten, die ich je erlebte. A. und ich waren aufgeregt und aufgedreht, ihre sonst so abgeklärte Fassade hatte sie zu Hause gelassen. Die Kunststudenten kümmerten sich rührend um uns, so dass wir schon nach einer halben Stunde komplett zugekifft waren. Jemand kam auf die grandiose Idee, vor der Autobahn doch noch mal schnell in die Ostsee zu springen. Sie war kalt, wir waren nackt und die Villen in Heiligendamm waren noch grau und verfallen. Etwas ausgenüchtert ging es weiter, und je näher wir Berlin kamen, desto grösser wurde die Ernüchterung: Was, wenn die Jugendherbergsdrachen uns keine Auskunft geben würden? Wo sollten wir anfangen zu suchen?

Als wir die Stadtgrenze passierten, vorbei an dem Bär, war schon längst Ruhe eingekehrt im Bus, der Kunststudentenspass machte müde. A. saß neben mir und hatte ihren Kopf an meinen gelehnt, wir teilten uns einen Kopfhörer und schauten zusammen aus dem Fenster in die Stadt, in die wir von Westen her kommend einfuhren. Seit gut einer halben Stunde schwiegen auch wir, gemeinsam, und hörten das Mixtape, das C. uns dagelassen hatte. Die erste Seite der schwarzen 90er-BASF-Kassette war so gut wie zu Ende, Fleas Gitarre läutete den letzten Song ein. Es sollte für eine Weile unser Song werden. Beim ersten Refrain standen wir an einer grossen Ampelkreuzung gleich hinter der Autobahn, es war Rot und direkt neben uns sass C. verträumt auf einer kleinen Mauer. Wenn das kein verdammtes Zeichen war, in einer Dreieinhalb-Millionen-Stadt!

Nachdem er sich wortreich entschuldigt und erklärt hatte mussten wir ihm versprechen, ihn wenigstens nicht zum Flughafen zu bringen. Dann genossen wir die letzten verbliebenen Stunden in vollen Zügen, nahmen alles mit, was die Gegend zwischen Senefelder Platz und Hackeschem Markt uns damals bieten konnte, und das war mehr, als wir vertrugen. Wir waren noch nicht mal ganz volljährig, genau genommen, und C. musste back home dann ja sogar noch drei Jahre mit dem Trinken warten, offiziell. Am Ende dieser langen Nacht war uns dreien klar, dass diese Trennung unsere Verbindung nicht kappen können würde und dass wir, wenn irgendwie möglich, alle nach Berlin gehörten.

Wo ich dann ja auch zwei Jahre später landete. Zwischendurch hatte ich C. besucht, was für uns beide überraschend und plötzlich kam, aber eine andere Geschichte ist. Nach Berlin würde er es jedenfalls in absehbarer Zeit nicht schaffen. A. dagegen war sich dessen nicht so sicher.

Auch wenn wir schon alleine durch die räumliche Trennung eher in einer Off-Phase waren, sahen wir uns doch ab und zu hier und da. Inzwischen war sie mit einem kleinen, sehr sympathischen schwedischen Punk zusammen, den sie im Hafen auf seiner Jolle aufgesammelt und mit nach Hause genommen hatte. Kurz bevor das zweite Semester anfing, bekam ich einen Anruf von ihr: Rate mal! Schallte mir ihre Stimme entgegen, ganz aufgedreht.

Sie hätte sich dann doch dazu durchgerungen, hat sich an der TU eingeschrieben und – das Beste überhaupt – eine Wohnung gleich um die Ecke, in der Rykestrasse. Dort und bei mir in der Christburger hatten wir zwei schöne Sommer und einen kalten Winter, bevor sich unsere Wege auch in Berlin langsam auseinander bewegten. Ich hatte mir den Politkram aufgehalst – und dann war da ja auch noch eine neue Frau an meiner Seite aufgetaucht. Die A. und mich allerdings auch wieder auf eine absurde Art verband: Sie kannten sich nämlich vom Sehen, von vor fünf Jahren circa, als A. mit dem Bremer Punk den westdeutschen Norden unsicher machte. Als die beiden das herausfanden, hatte ich erst mal stundenlang nichts zu sagen, und auch sonst kamen wir eigentlich alle gut miteinander klar. Wir beschlossen sogar, auf unsere alten Tage (wir waren damals noch nicht einmal Mitte 20) noch mal auf ein Festival zu fahren, so wie früher – also bis vor zwei Jahren – mit Roskilde. Zu dritt machten wir uns im kleinen blauen Fiesta auf den Weg nach Bocklemünd.

Da wir auf der Fahrt circa. elf Stunden zusammen in der Hitze verbrachten, leider meist stehend und somit ohne jeglichen kühlenden Fahrtwind, gingen wir auf dem Festival dann erst mal getrennte Wege, bevor wir uns bei den wirklich guten Konzerten und am Abschlussabend dann sowieso wieder in den Armen lagen: Selbst bei Danzig, Rancid und Monster Magnet, bei Portishead und PJ Harvey sowieso.

Ganz undramatisch eigentlich, das mit den Wegen, auch als wir wieder zurück in Berlin waren. Ausserdem kreuzten sie sich ja auch wieder: A. landete irgendwie recht schnell im Schwarzenberg-Umfeld, Berlin Mitte. Dort gab es durchaus nette Leute, auch ein paar Berührungspunkte. Doch mein Mitte war woanders. An der Uni, in den selbstverwalteten Läden mit weniger Künstlern und mehr Spinnern. Wenn man das so sagen kann. Einer von diesen Leuten war so nett zu ihr, dass sie mich eines Tages anrief und meinte, sie hätte eine grosse Bitte.

Es hatte wieder mit einer Autofahrt zu tun. Der sympathische schwedische Punk war immer noch aktuell, was sich unbedingt ändern sollte. Sein Besuch stand buchstäblich vor der Tür, seine Band war gerade dabei, ihre Polentournee zu beenden, dann wollte er nach Berlin kommen. Doch dort, hinter dieser Tür, lebte A. inzwischen mit einem anderen aufstrebenden Musiker und Puppenspieler mehr oder weniger zusammen. Also mussten wir unbedingt – an diesem Abend noch – ins tiefste polnische Hinterland, ich glaube es war Łódź, um dem armen, sympathischen schwedischen Punk die Situation zu erklären. Dummerweise hatten wir beide am nächsten Tag relativ früh wieder in Berlin irgendwelchen Verpflichtungen nachzukommen.

Nach einer unspektakulären Hinfahrt und einer alternativen Stadtführung durch die örtlichen Punks (Schau, hier haben wir die Hakenkreuze übermalt. Und hier. Und da drüber haben wir letzte Woche ordentlich auf die Fresse bekommen. Und in dem Haus dort hinten ist letztens [Polnischer Punkername] verreckt.) ging es dann am Abend im Jugendklub hoch her. Das Publikum war unglaublich jung, unglaublich begeistert, unglaublich aggressiv und unglaublich trinkfest. Wenn sie etwas gar nicht duldeten, dann, dass man nicht mittrank. Dass wir kein Interesse an ihren Schnüffeltüten hatten war die eine Sache, aber Wodka durfte hier keiner ablehnen.

Nach einigen Stunden und zwei Tumulten – einer wegen des Gerüchts eines bevorstehenden Naziüberfalls, der zweite, als A. dem Schweden erklärte, wie die Lage ist, und er zornig darauf bestand, trotzdem wie vereinbart (nicht mit mir, im Übrigen) noch in dieser Nacht mit nach Berlin zu kommen – saßen wir dann schliesslich stumm, wütend, fertig, ausgelaugt, durchgeschwitzt und betrunken zu dritt im Auto. Irgendwo hinter uns musste demnächst die Sonne aufgehen und wir hielten an der nächsten Raststätte, um Kaffee zu besorgen.

Bei der Gelegenheit sammelten wir einen verloren herumstehenden Polen ein, der nicht nur wie bestellt und nicht abgeholt aussah, sondern auch vorgab, es zu sein: Am nächsten Rastplatz würde sein LKW stehen und ein Kollege hätte ihn versetzt. Mir war ein weiterer Passagier ganz recht, die Stimmung im Auto war sowieso nicht die beste. Doch noch bevor wir den Parkplatz erreichten, wurden wir aus dem Verkehr gezogen. Vorher blitzte es kurz und der Pole meinte nur: Nicht gut.

Die Situation war brenzlig, vor allem, da wir zusammen gerade noch 30 Mark hatten, der Rest war im Tank verschwunden. Und sie wurde noch brenzliger, nachdem ich in das Alkoholtestgerät der polnischen Polizei pusten durfte. Da sich unsere Vergehen inzwischen auf grob 200 DM beliefen und wir auch ansonsten einen suspekten Eindruck machten – Es war halb sechs morgens mitten im polnischen Nirgendwo, A. war noch nicht in Berlin gemeldet, ich schon, dazu noch ein polnischer Trucker und ein fertiger schwedischer Punkmusiker, der steif und fest behauptet, gerade von einem Konzert zu kommen, aber weder eine Band noch Instrumente dabei hat – wurde bewogen, uns auf irgendeine Wache zu bringen, genauer zu überprüfen und zumindest den Fiesta als Pfand zu beschlagnahmen.

Bis Berlin waren es noch 200 Kilometer und A. musste um 9 Uhr in dem Mittecafé sein. Wir waren verzweifelt. Zum Glück verzweifelten daran dann die polnischen Polizisten, und ausserdem half uns das inzwischen auch bei polnischen Polizisten verbreitete kapitalistische Weltbild aus der Bredouille: Das ganze Prozedere und Hin und Her hatte sich schon gut eine halbe Stunde hingezogen, als den beiden Beamten auffiel, dass sie in dieser Zeit durch die geschickt platzierte Radarfalle genau die von uns geforderten 200 DM eingenommen hatten, durch zahlungskräftigere Opfer als uns. Da augenscheinlich bei uns wirklich nichts zu holen war ausser einer Menge Umstände und Scherereien, besann sich der Chef der beiden und gab mir meine Papiere mit den Worten Polnische Polizei gute Polizei zurück. Der LKW-Fahrer konnte es auch nicht fassen, er meinte, für ihn hätte das locker ein halbes bis ein Jahr Fahrverbot gegeben. Um halb neun kamen wir völlig erschöpft in Berlin an.

Diese Fahrt sollte unser letztes grosses gemeinsames Abenteuer gewesen sein. Die verschiedenen Welten, in denen wir uns inzwischen bewegten, trafen einfach zu selten aufeinander, selbst wenn wir die Welten wechselten. Ich verabschiedete mich vom Politbetrieb, zog nach Kreuzberg und versuchte mich in so etwas wie Familiengründung. A. lud uns noch ab und zu zu Auftritten des Puppenspielers ein, erst im Wohnzimmer, dann auf immer grösseren Bühnen. Auch er war ein wirklich netter und ziemlich schüchterner Kerl. Sie hatte da ein gutes Händchen und auch ein gewisses Muster entwickelt, inzwischen.

Die magischen Momente waren noch nicht ganz vorbei. Als wir uns nach einer längeren Pause wieder trafen, stellte sich heraus, dass A. auch nach Kreuzberg gezogen war, drei Häuser neben meine damalige Stammkneipe. Und wir hatten beide bei der gleichen verdammten Naturkatastrophe jeweils neugewonnene Freunde verloren. Ein paar mal trafen wir uns noch, A. hatte die Mitte-Szene und den Puppenspieler inzwischen verlassen und sich in Kreuzberg mit kontroversen kanadischen Expat-Musikern (das Muster!) eingelassen. Ich fing an, nach Westen zu pendeln. Und dann kam irgendwie der Sand, in dem alles verlaufen ist.

***

Wie ich nun darauf komme, wo das doch schon so lange her ist, fragt man sich vielleicht, falls überhaupt jemand bis hier her durchgehalten hat und sich noch was fragen kann. Das ist ganz einfach: Das Internet ist schuld. Klar, wer sonst?!
Eigentlich wollte ich diesen Text auch Berlin Mitte hat mir meine Freundin geklaut nennen, ganz internetadäquat zwar, aber eben nicht ganz wahr. In dessen unendlichen Weiten stolperte ich nämlich über einen zehn Jahre alten Film, der mich in ebendiesen alten Erinnerungen schwelgen liess und mir bisher komplett durch die Lappen gegangen war. Unerklärlich eigentlich, umso mehr zog er mich jetzt in seinen Bann. Es geht ungefähr um die Berlin-Mitte-Szene, in die A. abtauchte, und zwar genau zu der Zeit, als ich sie langsam aus den Augen verlor. Als es diese Szene auch schon nicht mehr gab und sie nur noch nostalgisch betrachtet wird. Keine Ahnung, wie ich diesen Film bei der Berlinale übersehen konnte.
Und jetzt, gut zehn Jahre später, zeigt er mir dreierlei: Dieses Mitte war wirklich verdammt vielfältig damals in den 90ern, und ich war viel öfter dort als ich eigentlich dachte (und jetzt schon ganz lange nicht mehr, seit dem Baizumzug spätestens). Zum Zeitpunkt der Interviews gab es dann einen Abgesang (von einigen), den man im nächsten Sommer (vor drei Jahren/mindestens aber schon gestern) gut zu Kreuzkölln halten könnte. Wobei es interessanterweise 2003 teilweise komplett nach Untergang und Langeweile klang, da schien die weltweit angesagteste Stadt noch nicht nur selten am Horizont durch, da wurde von London, New York und Paris meist noch ehrfürchtig gesprochen. Wer weiss, welche Zukunft es ist, die wir beim derzeitigen Abgesang noch nicht erkennen können. Und Drittens: Schade.

PS. Viertens: Ken Jebsen vor zehn Jahren. Damals schon scheisse, wie mir wieder bewusst wurde. Aber noch nicht so erschreckend durchgeknallt wie heute – oder etwa Xavier Naidoo, schon vor fünfzehn Jahren.

So kam es also, ich schaute mir diesen Film an, die Erinnerungen kamen hoch und ich dachte so bei mir: Eigentlich wäre meine Freundschaft mit A. eine eigene Geschichte wert, vielleicht sogar ein Buch. Und dann dachte ich: Wo ich so darüber nachdenke, warum nicht gleich damit anfangen? Wenigstens in groben Zügen, ein paar Skizzen, bevor ich es vergesse (ich habe schon viel zu viel vergessen, wie mir dabei auffiel). Und genau dafür ist dieses Blogding doch da (so, damit hat sich der Ein Jahr und etwas über 100 Beiträge-Artikel auch erübrigt).

Let it Rock! Von Frank Künster, 1h16min, 2003.

[vimeo http://vimeo.com/104087404]

Sonntagnachmittag

18.10.03

Es war ein sonniger Herbstnachmittag, ein Sonntag, und die Luft schmeckte schon ein wenig nach dem Schnee, der bald fallen würde. Der junge Dichter mit dem blumigen Namen stand auf seinem Balkon und ließ sich die Nase ein letztes Mal von der Sonne kraulen. Er beobachtete das Geschehen unten auf der Strasse, das machte er ganz gerne, und sonntagnachmittags ist es auch nicht ganz so laut, es fahren nur wenige Autos. In solchen Momenten kommt der junge Dichter oft ein wenig ins Sinnieren.
Darüber, wie es wohl früher gewesen sein mag auf diesem Balkon. Als das Haus, in dem er wohnte, noch frisch gebaut war, und nicht am Zerbröckeln wie jetzt. Als die Straße unten noch eine Prachtmeile war. Als sie noch nicht zur bloßen Asphaltdecke degradiert, sondern stolze Pferde ebenso stolze Herrschaften auf ihr durch die Gegend kutschierten. Als der heruntergekommene U-Bahnhofsvorplatz um die Ecke noch Belle-Alliance-Platz hieß und auch dementsprechend daherkam.
Nun ja, es war nicht mehr wirklich die allerbeste Gegend hier, gut. Aber so schlimm, wie oft angenommen und bevorurteilt, war es auch nicht unbedingt. Das dachte der junge Dichter jedenfalls bisher. Als er allerdings das Tagträumen für einen Augenblick unterbrach, um zwei hübschen jungen Damen hinterherzuschauen, die eine Spur zu offenherzig gekleidet waren, sah er, wie vor der Toreinfahrt seines Hauses ein Fahrzeug versuchte, einzuparken. Es gelang mehr schlecht als recht, die Hälfte des Autos verblieb auf der Fahrbahn. Zum Glück war Sonntag.
Der junge Dichter konnte zuschauen, wie sich die Heckklappe des etwas lädiert aussehenden Wagens öffnete und jemand von hinten aus dem Auto gekrabbelt kam. Bei näherer Betrachtung erschien das dem aufmerksamen Beobachter auch nicht weiter verwunderlich, da alle anderen Sitzmöglichkeiten in diesem Fahrzeug schon mehr als belegt waren.
Das erklärte wohl auch das etwas mitgenommen wirkende Äußere des Gefährts, denn auf Dauer ist eine derartige Überladung für den Wiederverkaufswert nicht gerade förderlich. Den inzwischen auf dem Bürgersteig angekommenen entstiegenen Passagier schien das freilich nicht allzusehr zu interessieren. Im Gegenteil, er bekam aus dem heruntergekurbelten Fenster der Beifahrertür einen Briefumschlag gereicht, der einen prallen Eindruck machte. Und tatsächlich breiteten sich unzählige Fünfziger aus, als der ehemalige Kofferrauminsasse den Inhalt nochmal kontrollierte. Geldsorgen schienen hier also nicht zu herrschen, was den jungen Dichter, der langsam anfing, zu frösteln, doch ein wenig misstrauisch machte.
Der Balkon, der eigentlich eine Loggia war, was der auf ihm stehende junge Dichter aber trotz seiner sonst umfassenden Allgemeinbildung nicht wusste, konnte von dem dubiosen Gefährt nicht so gut eingesehen werden wie umgekehrt, daher war der heimliche Beobachter bisher unentdeckt. Was ihm auch ganz recht war, da ihm die Vorgänge dort unten auf der Straße langsam aber sicher etwas unheimlich wurden.
Der inzwischen mit den Geldscheinen ausgestattete Handlanger verschwand in einem der nächsten Hauseingänge. Das übrige schätzungsweise halbe Dutzend Fahrzeuginsassen rührte sich nicht. Das Gefährt allerdings schon, der Motor lief ununterbrochen, das Auto dampfte. Die kalte Jahreszeit brach wirklich langsam an. Einige Minuten später erschien der Umschlagträger wieder auf der Bildfläche, diesmal allerdings mit einer braunen Schnellimbiss-Tüte. Der junge Dichter wusste nichts von einem Schnellimbiss hier in der Gegend, vor allem nicht von einem so teuren, denn der Briefumschlag war weg.
Nachdem er die Papptüte durch das immer noch heruntergekurbelte Beifahrerfenster gereicht hatte, nahm der Bote wieder seinen Platz im Kofferraum des Fahrzeugs ein. Der junge Dichter ging das Wagnis ein, seine Position ein wenig zu ändern und damit zwar sichtbarer zu werden, aber eben auch sehender. Ihn interessierte schon sehr, was das denn für vorzügliche Hamburger sein würden, die es wert waren, gegen so viel Geld eingetauscht zu werden.
Es überraschte ihn nicht wirklich, als er sah, dass der Inhalt der Tüte nicht zum Verzehr bestimmt war. Es handelte sich dabei um einen mit zwei roten Gummibändern zusammengehaltenen Stapel Pässe. Der Fahrer, dessen tätowierter Arm jetzt zu erkennen war, riß das Bündel achtlos auseinander und warf einen kurzen Blick auf die wichtigsten Seiten in jedem der Dokumente. Das Ergebnis schien zufriedenstellend, die Reisepässe wurde nach hinten gereicht zu ihren neuen Besitzern und dem Motor wurde endlich eine Beschäftigung gegeben, dass er vor Freude die Reifen quietschen liess. Der junge Dichter blieb etwas ratlos zurück auf dem Balkon, der eigentlich eine Loggia war, und dann verschwand zu allem Überdruss auch noch die Sonne hinter dem Haus schräg gegenüber.
Gut – wenn die Anonymität, die Verwahrlosung der Großstadt dazu führt, dass am helllichten Tag vor seiner Haustür Geschäfte mir gefälschten Papieren gemacht werden – nur zu, darauf wüsste er eine Antwort zu geben! Eigentlich saß er gerade an einem naturwissenschaftlichen Projekt. Seine Aufgabe, die er sich übrigens selbst gestellt hatte, bestand darin, herauszufinden, was das Äquivalent eines durchschnittlichen Menschen, er hatte mal sich selbst als Exempel genommen, in Rekord-Briketts ist.
Die Ausgangsüberlegung war, dass ein Mensch mit seinen 37 Grad Celsius Körpertemperatur ja auch ein enormer Wärmespender sein müsste, da er über die Körperoberfläche gezwungenermassen auch Wärme abgibt, nach den Recherchen des jungen Dichters circa ein Watt pro Kilogramm Körpermasse. Und in einer Wohnung mit Kohlenheizung, wie sie sich gerade hinter ihm auftat, hinter der für jede Art von effektiver Heizbemühung völlig unzureichenden Holzdoppelbalkontür, kommt man schnell mal auf den Gedanken, auszurechnen, wie viele Zentner Kohlen man über den Winter mit seiner bloßen Anwesenheit spart. Mit dem Ergebnis dieser Untersuchung wäre es dem jungen Dichter auch möglich gewesen, den fiskalischen Vorteil auszurechnen, den ihm die Anwesenheit seiner Freunde, die jeden Abend uneingeladen vorbeischauten, verschaffte.
Aber dann eben nicht. Wenn solche Möchtegerngangster vor seiner Tür Geschäfte abwickeln, dann musste er reagieren. Wenn die Metropole ihre Krakenarme auf diese Tour in seiner Strasse ausbreitet, dann musste er zurückschlagen. Die Frage war nur: wie?
Er würde mit der U-Bahn fahren. Er würde sich in jedes in öffentlichen Verkehrsmitteln geführte Mobiltelefongespräch einmischen. Er würde offensiv die Zeitung seines Sitznachbarn lesen. Er würde ihn anstarren, wenn der Zeitungsbesitzer seine Rolle versuchen würde klarzustellen. Wenn dieser dann verschwunden wäre, was so ein behornbrillter vierzigjähriger anzuggrauer Angestellter wohl ohne Zweifel tun würde, dann würde sich der junge Dichter quer über die Sitzbank fläzen. Jede alte Dame, die ihn sitzplatzheischend anschauen würde, wird nichts als einen kaltstechenden Blick ernten.
Der junge Dichter würde jedes turtelnde Pärchen, das sich auf den ewiglangen U-Bahn-Rolltreppen nebeneinander lediglich fortbewegen lässt, ohne Hemmungen anschreien, dass sie sich gefälligst hintereinander zu stellen haben, es ist ja schließlich nicht jeder Student und hat so viel Zeit!
Er würde jedem Kind, das zusammen mit seinen zwei Geschwistern, seiner jungen, glücklichen Mutter und deren ebenfalls dreifach bekinderten Freundin unterwegs ist, dringend davon abraten, mit den dreckigen Gummistiefeln an seine Hosen zu kommen. Jedem anderen Kind, vorzugsweise in Begleitung eines Erziehungsberechtigten, natürlich auch. Denn falls auch nur ein Krume feuchten steuerfinanzierten Kinderspielplatzbuddelkastensands seine Beinkleider berühren sollten, würde er sich nicht scheuen, die versammelten Bälger in aller gebotener Deutlichkeit über die Erziehungsunfähigkeit ihrer Eltern zu informieren. Und ihnen eine Tracht Prügel anzudrohen.
Der junge Dichter mit dem blumigen Namen würde im nächsten Sommer mit einem Nikolauskostüm bekleidet versuchen, den Prenzlauer Berg mit einem Schlitten herunterzurodeln. Er würde auf den Bahnhof Zoo gehen, warten bis die BGS-Büttel in seine Nähe gekommen sind, um dann empört dem nächstbesten vorbeihastenden Yuppie anzubrüllen, dass er auf keinen Fall irgendein Scheisskoks haben will. Er würde besonders vor Schulklassen und Kindergartengruppen stets versuchen, bei rot über die Ampel zu gehen.
Da sollte dieser Scheissmoloch von Grossstadt mal überlegen, mit wem er sich da anlegt.

Peter – Begegnung am Fanta Rock

01.03.03

Ich traf Peter oberhalb des Wasserfalls bei Watervaldrif. Peter Kraus, wie dieser unsägliche Schlagersänger, so stellte er sich vor. Das Wasser stürzte unter uns sechzig Meter in die Tiefe. Unten sammelte es sich in einem Becken, in dem man wunderbar schwimmen konnte. Die Wassertemperatur war angenehm niedrig, da das Tal unten sehr eng war, also den ganzen Tag lang schattig. Das bewog uns auch gestern dazu, hier hoch zu klettern. Weil John, der Besitzer des Backpackerhostels sagte, dass wir, falls wir den Wasserfall besuchen würden, unbedingt dort hin klettern sollten, wo er anfängt. Also hoch auf den Berg.
Das taten wir dann auch, und als wir oben ankamen, wurden wir dafür reich belohnt. Der Fluss, der hier in die Schlucht hinunter stürzte, tat dies nämlich nicht am Stück. Er sammelte sich, vielleicht vor Schreck oder zur Erholung, nach vier Metern erst noch mal in einem kleinen Pool. Und dieser war im Gegensatz zu dem Bassin unten fast den ganzen Tag in der Sonne. Und sehr einsam. Gestern waren wir ganz allein dort oben. Wir tauften die Klippe, auf der wir kampierten, „Fanta Rock“, da eine Softdrinkdose gleichen Namens uns verriet, dass wir nicht die einzigen waren, die diesen wunderbaren Ort aufsuchten.
Heute allerdings wollte G nicht mitkommen, der Aufstieg schien ihm zu lang für den Genuss, in den man kommt, wenn man in dem kleinen Pool badet, mitten in der vermeintlich ungestörten Natur. Das war übrigens der zweite, unausgesprochene Grund, der ihn dazu bewog, heute in der Herberge zu bleiben: Die Natur. Wir hatten uns gestern leichtsinnigerweise mit den normalen Trekking-Sandalen auf den Weg gemacht, und zwar ganz untypisch für deutsche Touristen ohne weiße Tennissocken. Als wir dann abends am Grillfeuer darüber nachdachten, wohinein wir fast barfuss getreten wären, wurde uns schon etwas mulmig. Schließlich gibt es hier in der Gegend Kobras, die sich mal eben auf 1,80m aufrichten und einem ihr tödliches Gift über eine Entfernung von anderthalb Metern direkt ins Gesicht spucken. Da hilft zwar festes Schuhwerk auch nicht viel, aber trotzdem, schließlich bleiben ja noch ein paar gefährliche Spinnen und Skorpione übrig.
Also blieb G in der Stadt. Ich allerdings wollte noch mal zurück zum „Fanta Rock“, und so schnappte ich mir ein Fahrrad und fuhr zum Wasserfall. Und als ich dann den Aufstieg gemeistert hatte, lag Peter auf dem Felsen in der Sonne, das nasse gelbe Handtuch neben ihm verriet, dass er auch schon die Vorzüge des Pools genossen hatte.
Nach ein paar bruchstückhaften englischen Konversationsbrocken bemerkten wir, dass wir beide Deutsche waren. Als ich ihn fragte, was er so machte, antwortete er „Gras schmuggeln“. Ich weiß nicht genau, ob es mein Äußeres war, das ihn zu dieser unverblümten Antwort verleitete. Also fragte ich nach. „Das ist eine lange Geschichte mein Freund!“ antwortete er, und da er scheinbar davon ausging, dass ich Zeit hätte, bröselte er schon einmal ein bisschen Tabak in ein Blättchen. Weil der Tag noch frisch war, und mich die Geschichte interessierte, ging ich darauf ein.
„Es hat alles mit einer Home-Shopping-Sendung angefangen. Ich hatte gerade was geraucht, und danach schaute ich mir ganz gerne so einen Scheiss an, das war das richtige Niveau. Ich dealte ein wenig herum, so an Freunde, da kam nicht viel bei rum. Auf diesem Einkaufskanal jedenfalls vertickten sie gerade ein Vakuum-Einschweißgerät. Die Leistungsfähigkeit dieses Teils demonstrierten sie daran, dass sie circa 60-80 Coladosen in so eine Tüte steckten, und mit der Kraft der Vakuumpumpe wurden sie nicht nur luftleer versiegelt, sondern natürlich auch, mit einem Physik-Leistungskurs-Abitur sollte man das wissen, zerquetscht.“
Peter holte ziemlich weit aus, eigentlich wollte ich ihn fast unterbrechen, da ich ja hier her gekommen war, um zu baden, doch der erste Zug von seiner Tüte, die aus Manna-Gras zu bestehen schien, überzeugte mich, noch eine Weile (oder für immer, wieso eigentlich nicht….) auf der Klippe liegen zu bleiben, so dass ich ihm also noch gut weiter zuhören konnte.
„Das war jedenfalls das, was mir fehlte, es fiel mir wie Schuppen von den Augen.“ fuhr Peter fort. „Nach zwei Jahren Kleindealerei bekommst du schon irgendwie die typische Dealerparanoia. Es könnte ja doch mal passieren, dass die Bullen kommen und deine Wohnung durchsuchen, zumal du in einem stadtbekannten autonom verwalteten Hausprojekt wohnst. Ab einer gewissen Menge sollte man sich darüber mal einen Kopf machen. Und der tollste ZipLoc-Beutel kann eine Spürhundnase nicht täuschen. Aber so ein Vakuumpumpgerät, das 80 Coladosen zerquetscht und nur 230 DM kostet, das wär doch was. Weil ich bekifft war, dachte ich kurz darüber nach, ob dieses Angebot nur eine Falle der Bullen für paranoide Kiffer sein könnte, und die Staatsmacht dann bei jedem, der sich dieses Gerät kaufte, eine Hausdurchsuchung macht, die Adressen bekommen sie ja durch die Bestellung sozusagen frei Haus, aber diesen Gedanken verwarf ich ganz schnell. Schließlich hatte ich schon viel zu viel Geld rausgeschmissen, weil ich meine Elektropräzisionswaage aus verschwörungstechnischen Paranoia-Gründen im Fachhandel gekauft habe und nicht um die Hälfte billiger im Internet. Also bestellte ich das Vakuum-Verschweißgerät, und ein paar Tage später kam es dann auch per Post. Ich probierte es an allem möglichen aus, und natürlich auch gleich mit dem Gras. Und es funktionierte wunderbar. Ich hätte mir ein Kilo Gras umschnallen, zum Polizeirevier laufen und nach einer Besichtigung der Spürhundstaffel bitten können und mir wäre nichts passiert.“
Ich erinnerte mich daran, wie mein Dealer zu Hause immer mit endlos verpackten Plastiktütenbündeln ankam, die trotzdem zehn Meter gegen den Wind stanken, und konnte Peter nur beipflichten. Das wusste er zu honorieren indem er mir den letzten Rest der Tüte überließ und fortfuhr zu erzählen:
„Nachdem ich eine Weile ziemlich stolz auf meine neue Verpackungsmethode war, wurde ich ein wenig unzufrieden. Ja, ich machte dadurch auch ein bisschen mehr Kohle, weil ich jetzt risikofreudiger war. Deshalb konnte ich mir einen netten Urlaub leisten. Ein Freund von mir schwärmte mir von diesem Land hier vor, und da es sich ganz nett anhörte, spendierte ich ihm als eine Art Fremdenführergage den Flug, und wir hatten eine sehr gute Zeit. Vor allem, da das Gras hier so billig war. Ich meine, wenn es für uns als Touristen eine Mark kostete, damals vor der Euro-Umstellung, was würde es dann im Großeinkauf kosten? Eines Tages kamen wir hierher, und durch einen netten Einheimischen erfuhren wir, dass es schon ohne Touri-Aufschlag bei dreissig Pfennig für mittelkleine Mengen lag. Natürlich denkt jeder darüber nach, wenn er die Preise für die Drogen vor Ort erfährt, wie schön es doch wäre, wenn man das importieren könnte. Aber spätestens wenn man an die Grenzkontrollen denkt, verflüchtigt sich dieser Gedanke wieder. Spürhunde und Durchsuchungen.
Da ich dank meiner Vakuumpumpe vor den Spürhunden keine Angst mehr hatte, dachte ich weiter. Es ist ja allgemein bekannt, dass ein einfacher doppelter Boden nichts mehr hermacht. Ich habe Geschichten gehört, dass Leute von Holland Gras geschmuggelt haben, indem sie es in den Reifen ihres Autos versteckt hatten. Die Bullen, die hinter ihnen fuhren, fanden den Geruch nach einer Weile komisch und hielten sie an. Naja, und was passiert dann erst an Flughäfen oder per Schiff?
Ich überlegte eine Weile, wie man das Gras tarnen könnte, gut verpacken und so weiter. Ich dachte an Autos. Erst vor kurzem hatte ich zufällig einen Oldtimerhändler besucht, der die Karren unendlich billig und dazu durch das trockene Klima sehr gut erhalten verkaufte. Und da er hauptsächlich europäische Kunden hatte, kannte er sich ganz gut mit der Verschiffung aus. Also dachte ich, kauf ich mir einen Oldtimer und packe ein paar Kilo Gras rein. Aber da ich ja das Auto danach auch weiterverkaufen wollen würde, dürfte ich nicht viel dran schrauben. Von den unterschiedlichen Gewichten auf dem Papier und in real mal ganz zu schweigen. Wenn man näher drüber nachdenkt, ist Schmuggeln echt schwierig. Du musst ein gutes Versteck finden. Das ist so ein Auto nicht, trotz jeder noch so guten Vakuumpumpe.
Am nächsten Tag besuchte ich mit meinem Fremdenführer-Freund einen kleinen Markt. Dort gab es neben Obst und anderen Lebensmitteln auch den typischen Schnickschnack. Für Touristen angefertigte Kunstgewerbegegenstände, in den Townships hergestellt, meist aus Müll. Flugzeuge aus Coladosen zum Beispiel. Und diese Coladosen ließen mich wieder wehmütig an meine Schmuggel-Idee denken, die ich aufgrund der Unwägbarkeiten schon fast aufgegeben hatte. Fast. Denn beim Anblick der Propellerdinger aus Weißblech kam mir der entscheidende Einfall.
Ich konnte es kaum erwarten, wieder zurück nach Deutschland zu kommen und alles in die Wege zu leiten. Mein Begleiter war nicht ganz so euphorisch von der Idee, weil es ja doch ein gewisses Risikopotential barg, illegale Drogen zu schmuggeln, doch er war bereit, mitzumachen. Wir versicherten uns der Unterstützung unseres neuen Freundes, der meinte, er könne uns jede beliebige Menge besorgen, seine Familie sei seit Generationen sozusagen hauptberuflich in der Branche tätig. Wir recherchierten noch ein wenig, knüpften weitere Kontakte, notierten alles was wir brauchten, und nahmen den nächsten Flug zurück, in der Vorfreude auf unseren baldigen Besuch hier.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen stand Peter auf, nahm Anlauf und sprang in den Pool. Er verstand es, die Spannung zu halten, dachte ich. Als Antwort darauf und um die Spannung ein wenig rauszunehmen fing ich an, die nächste Tüte zu bauen. Als ich das Werk vollendete, ging ich zu dem Steinvorsprung, an dem sich Peter gerade hochzog, gab ihm sein Handtuch und den Joint samt Feuerzeug und sprang selbst ins kühle Nass. Ich tauchte eine Weile unter dem kleinen, in seinen Anfängen steckenden Wasserfall hindurch und paddelte dann langsam an den Rand des Beckens zurück. Als ich nah genug dran war, löste Peter sein geheimnisvolles Rätsel auf.
„Kunst! Wenn du keine geeignete perfekte Verpackung findest, musst du eben eine erfinden. Als ich in Deutschland ankam, gründete ich mit meinem Mitstreiter sogleich einen gemeinnützigen interkulturellen Kunstverein. Auf dem Markt kam mir nämlich die Idee, dass wenn die ganzen Touristen sich den Kram kaufen, dann würde es wohl auch nicht auffallen, wenn man einen Teil davon nach Europa ausführt. Das machen bestimmt auch ein paar andere Leute, sonst gäbe es ja die ganzen Dritte-Welt-Läden nicht.
Also nehme man ein klassisches Transportgefäß, einen Eimer, und packt vakuumverschweißtes Gras rein. Dann muss man die ganze Sache noch als Kunst tarnen. Deswegen bestellten wir bei der einheimischen Kunststofffabrik vor Ort Acryleimer. Durchsichtig also. Dort rein packten wir das Gras in ein extra am Boden befestigten Innengefäß. Und dann ließen wir einen Künstler, mit dem wir vorher Kontakt aufgenommen hatten, diesen Eimer mit buntem Sand füllen, so wie man es von den kleinen Glasgefäßen auf den Märkten jedes Urlaubslandes kennt. Diese Eimer arrangierten wir dann zusätzlich noch zu Kunstwerken, also etwa eine große Sonne.
Das war das erste Projekt. Eine Sonne, aus 10 kreisförmig zusammengesetzten Eimern, deren kunstvolles Innenmuster die Sonnenstrahlen symbolisierten. Über das Loch in der Mitte spannten wir noch eine Leinwand, die die Sonne selbst darstellte. Und fertig war das Kunstwerk. In jedem Eimer lagerten luftdicht versiegelt und unsichtbar fünf Kilo Dope. Insgesamt hatten wir zwei Sonnen à zehn Eimer, was zusammen hundert Kilo bestes Swazigras ergab. Im Einkauf haben wir dafür zusammengeborgte 15.000 Mark bezahlt, dazu noch mal hundert Mark pro Eimer, inklusive Herstellung und Befüllung, also zweitausend, und für Transport und Versicherung, es handelte sich ja schließlich um Kunst, noch mal so ein paar große Scheine. In Deutschland wurde uns das Gras zu einem unschlagbaren Preis von drei Mark fuffzig aus den Händen gerissen. Also blieb uns nach der ersten Tour abzüglich Tickets und Spesen locker eine Viertelmillion. Das war vor ungefähr vier Jahren. Also, wenn du mich fragst, was ich so mache, dann sage ich, ich bin Kunsthändler.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Peter und stieg den Berg hinab. Ich allerdings musste mich erst mal von dieser Geschichte erholen, legte mich in die warme Nachmittagssonne und schlief ein. Oder hatte ich die ganze Zeit geschlafen und das alles nur geträumt?

 

Abends auf der Fensterbank

13.09.03

Otto Sperber war Frührentner. Sein Rücken! Er hatte sich mal verhoben, und danach noch ein paar Stunden weitergearbeitet. Das ließ sich nicht mehr geradebiegen. Nach der Reha saß er noch einige Monate am Schreibtisch, aber das war nichts für ihn.
Jetzt sitzt er jeden Tag an der Fensterbank. Seine Frau hat ihm zu seinem letzten Geburtstag ein extra Fensterbank-Kissen geschenkt, inklusive selbstgenähtem Wendebezug. Damit war sein Fensterbank-Glück perfekt.
Doch ein Jahr später, inzwischen vollzog Otto Sperber schon drei Jahre seinen unentgeltlichen Spitzeldienst, täglich von 11-16 Uhr, wurde er unzufrieden mit seiner Ausstattung. Das Kissen war perfekt, aber mittlerweile konnte er vorhersagen, was als nächstes passieren würde. Es wurde ihm langweilig. Immer die gleichen schreienden Kinder, immer die gleichen schwangeren Frauen und immer die gleichen quietschenden Reifen. Er musste sein Aufgabenfeld erweitern. Sich eine neue Herausforderung suchen.
Da fiel ihm der letzte Urlaub ein, den er mit seinem Hildchen gemacht hat. Sie waren beide in Kenia, am besten gefiel ihnen die Safari. Davon hatte er noch diverse Mitbringsel auf Lager. Er ging in die Abstellkammer und schob den Vorhang vom Reiseutensilien-Regal zur Seite. Erst griff er noch nach der Flinte, die er auf der Safari ebenfalls dabei hatte, dachte dann aber, dass dies keine so gute Idee wäre, und nahm den Feldstecher in die Hand.
Da hätte er eigentlich schon viel früher drauf kommen können! Von nun an stand ihm endlich die Welt der nackt duschenden Studentinnen in der Wohngemeinschaft gegenüber offen, er konnte sehen, welchen Groschenroman Helga Schumpeter im 3. Stock schräg rechts las und wer in diesem Haus seine Kinder, Frauen oder Hunde schlug. Das dürfte Stoff genug für die Frühpensionärsbeschäftigung der nächsten drei Jahre geben, und dann könnte er sich ja immer noch eine Modelleisenbahn kaufen.
Zweieinhalb Wochen nachdem er damit angefangen hatte, sein Blickfeld mittels Fernglas zu erweitern, bekam Otto Sperber einen Schreck. Er konnte bisher einige nackte Brüste erspähen, auch ein paar fliegende Tassen, aber hauptsächlich doch geblümte Gardinen. An diesem Abend aber leuchtete ihn ein Fenster geradezu einladend an, völlig entblösst und ohne jeden Vorhang. Sein Hildchen hatte sich schon hingelegt, und so konnte er die Nachtschicht in Ruhe angehen. Er hatte inzwischen einen regelrechten Ablaufplan entwickelt, schließlich war er mal ein ordentlicher Angestellter, der jeden Plan einhielt, und eben, wenn kein Plan da war, schnell einen machte. Ordnung musste schließlich sein.
Also konnte er den Blick nicht gleich auf das einladende Fenster richten. Er musste das Haus gemäß seinem Plan von oben rechts nach links, dann die nächste Etage – und so weiter – absuchen. Und vorher natürlich noch schauen, ob Herr Schmidt heute den Hund Gassi führt oder seine Tochter. Die Fenster boten im Großen und Ganzen nur die üblichen Stoffmuster, und in der Studentinnenwohngemeinschaft duschte ein langhaariger Hippie. Ekelhaft, dachte er, als er erkannte, dass ihm keine wohlgeformten Brüste, sondern ein haariger Schrumpelpimmel beim Aussteigen aus der Duschkabine entgegenlachte. Doch langsam aber sicher näherten sich die verlängerten Sperber-Augen dem Ziel ihrer Begierde.
Das hell erleuchtete Fenster im vierten Stock links gegenüber gab den Blick frei auf einen nahezu leeren, weißgestrichenen Raum. Otto Sperbers erster Gedanke war, dass dort wohl gerade jemand einziehen würde. Diese Straße lag in einer zur Zeit sehr beliebten Gegend, es zogen andauernd neue Jungfamilien und Studenten hierher.
In dem Zimmer schien nur eine einzige große Palme zu stehen. Er erkannte, dass der Raum relativ groß war, vom Fenster zur gegenüberliegenden Wand ungefähr sechs Meter, schöner Altbau mit Stuck. Leute mit solchen Zimmern verhängen ihre Fenster meistens mit leinenen Bomull-Gardinen von IKEA. Das war jedenfalls Otto Sperbers Tip. Hildchen kaufte meistens bei Woolworth, aber die hatte ja auch sonst keine Ahnung.
Plötzlich bewegte sich etwas hinter der Palme. Ganz langsam, Stück für Stück, kam ein junger Mann auf einem Bürodrehstuhl hinter der Pflanze vorgerollt. Er hatte vor seinen Augen ein riesiges Armeefernglas, und in seiner linken Hand hielt er ein Schild mit der Aufschrift „Hallo Otto! Schön, dich zu sehen! Du hörst von mir!“. Otto Sperber war geschockt, er machte sofort das Fenster zu und löschte das Licht. Wer war dieser Kerl, und was wollte er von ihm? Woher wusste er seinen Namen?
Am nächsten Tag schlich Otto Sperber nachmittags ziemlich geduckt zum Supermarkt. Er hoffte, er würde diesem Typen nicht begegnen. Er hatte unruhig geschlafen, sich immer wieder gefragt, was er jetzt tun solle. Es ging ja hier nicht mehr nur um sein Hobby. Dieser Rowdy drang in seine Privatsphäre ein, er verhöhnte den anständigen Frührentner Otto Sperber einfach so mir nichts, dir nichts. Das geht ja nun nicht. Sein Steckenpferd würde er wegen so einem Vogel nicht aufgeben, mal sehen, wer hier von wem hört. Mit entschlossener Miene und gefülltem Einkaufsbeutel schloss er beschwingt seine Haustür auf. Irgendwas würde ihm schon einfallen, um diesem Bengel die Flausen auszutreiben.
Als er, oben angekommen, die Wohnungstür aufschloss, stürzte ihm auch schon seine Frau entgegen. Aufgeregt  erzählte sie etwas von einem Paket, das abgegeben wurde, und sie wüsste ja gar nicht, wer ihnen denn ein Paket schicken sollte, es ist doch nicht Ostern oder Weihnachten, und sonst bekommen sie doch nie Pakete. Ob das vielleicht von den Kindern wäre? Es war aber an ihn adressiert, und deswegen hat sie es noch nicht aufgemacht.
Otto Sperber öffnete das Paket, aber er drehte sich ein wenig zur Seite, damit das Hildchen nicht gleich sehen könnte, was sich unter dem Packpapier verbirgt. Er wühlte den Papierwust zur Seite und es kam ein Spielzeugfernglas zum Vorschein. Plötzlich hatte er einen Verdacht, von wem dieses Päckchen stammen könnte. Seine Frau schaute erstaunt. Was soll denn das nun? Wir sind doch keine Kinder hier! meinte sie, vermutete doch eine Fehlsendung.
Ihr Mann wusste allerdings genau, dass das Paket hier goldrichtig war. Er nahm das Kinderfernglas vor die Augen und beruhigte seine Frau. Ist schon gut Hildchen, dat is bestimmt bloss wieder son Scherz. Er selbst war alles andere als beruhigt. Denn was er durch das Kinderfernglas sah, war nicht unbedingt für Kinderaugen gedacht.
Otto Sperber war ein wenig aufgebracht. Solche Spässe trieb man nicht mit ihm. Er kramte noch ein wenig in der Kiste rum, auf der Suche nach einer Erklärung. Und siehe da, seine Finger ertasteten eine Karte. Er setzte sich seine Brille auf und las den Text: Hallo Otto, wie geht`s, altes Haus? Damit Du Dich nicht immer so über die Vorhänge ärgerst, hier ein kleines Geschenk für Dich. Wir sehen uns!
Auf der Vorderseite der Karte war ein Bild von dem Frührentner Sperber zu sehen, wie er auf der Fensterbank gelehnt mit einem Feldstecher seine Nachbarschaft ausspionierte. Dazu war noch handschriftlich vermerkt: Was meinst du, an wen ich diese Karte noch geschickt habe? Das gefiel ihm gar nicht. Er müsste diesem Bürschchen wohl mal eine ordentliche Lektion erteilen. Die Jugend von heute hatte eindeutig zu viel Zeit, dessen war sich Otto Sperber schon lange sicher.
Nachdem er den Kaffee, den seine Frau wirklich über die Jahre immer besser hinbekam, genüßlich geleert hatte, schritt er zur Tat. Erst versicherte er sich, dass das Fenster gegenüber auch erhellt war, auf ihn also gewartet wird. Die Dämmerung war bereits angebrochen und sein Hildchen schaute sich voller Hingabe Dieter Thomas Heck an, war also für die nächsten zwei Stunden abgeschrieben. Er hatte jede Zeit der Welt.
Sein Weg führte ihn wieder einmal in die Abstellkammer, zum Regal, und diesmal holte er die Flinte hervor. Wie es sich gehörte, war diese mit einem Zielfernrohr ausgestattet, das in etwa die Vergrößerung des Fernglases hatte. Otto Sperber war schon sehr auf das Gesicht seines Widersachers gespannt, wenn der mit seinem angeberischen Militärfeldstecher direkt in die Mündung einer etwas antiken, doch erkennbar funktionsfähigen und nicht zugeschweißten Flinte schauen würde.
Diesmal hatte sich der Halunke gar nicht erst hinter der Palme versteckt. Sie war im Übrigen immer noch der einzige Einrichtungsgegenstand in dem Raum. Er saß ganz bequem in seinem Drehstuhl und hatte die Hälfte des Gesichts schon wieder hinter dem Riesenfernglas versteckt. Jetzt machte es sich auch Otto Sperber gemütlich, der rüstige Frühpensionär und Hobbyschütze stützte seinen rechten Arm auf das Kissen und setzte das Gewehr an. Dann kniff er das linke Auge zu und schaute mit dem anderen neugierig durch das Zielfernrohr.
Der Typ von gegenüber schien nicht sonderlich geschockt, aber Otto Sperber sah, dass er wieder ein Schild in der Hand hielt. Er richtete das Gewehr auf das Schild aus und las: War nur ein Scherz, das mit der Karte. Der Junge schien bemerkt oder gesehen zu haben, dass sein Schild gelesen wurde, denn er drehte es um. Auf der Rückseite ging der Text weiter: Allerdings sind die Typen eine Etage unter mir kein Scherz.
Das verstand Otto Sperber nun gar nicht. Er senkte den Lauf ein Stockwerk nach unten, um nachzuschauen, was ihm das Schild bedeuten wollte.
Die Mitarbeiter des BKA fanden es gar nicht witzig, dass ein Frührentner in seiner Freizeit mit einer unregistrierten Waffe auf eine frisch eingerichtete konspirative Wohnung zielte.

*

„Nicht schlecht für den Anfang“ dachte sich der Star der diesjährigen Burgfestspiele, Kaspar Rautenberg, als er das Skript auf dem Weg in eine dieser unsäglichen Freitagabendtalkshows durchlas. Er würde es sich überlegen, ein engagiertes Filmprojekt könnte das werden, so in der Tradition des großen Tetzlaff. Eigentlich fand Kaspar Rautenberg, dass er sich solche Auftritte nicht antun sollte, diese Niederungen fand er zu tief für sich. Doch leider stand es im Vertrag der Festspiele, und Verträge hatte er immer erfüllt, auch das begründete seinen Ruf. Klappern gehört nun mal zum Geschäft. Und schließlich wurde er wenigstens von einer anständigen Limousine abgeholt, die zusammen mit ihm gerade in die Hofeinfahrt des Fernsehstudios einbog.
Knapp eine Stunde später fand er sich wieder inmitten einer Runde sogenannter illustrer Gäste. Es waren zwei Moderatoren, ein Mann, der bärtig war und mit seiner Brille scheinbar den putzigen Intellektuellen gab, und eine Frau, die auch als Schlagersängerin berühmt zu sein schien und sich ansonsten durch ihr tadelloses Äußeres und ihre unbefangen-anzügliche Art qualifizierte. Die Getränke hier waren wie es sich gehörte frei und reichlich vorhanden, was Kaspar Rautenberg ganz gut zu pass kam. Sein übermäßiger Drogenkonsum verursachte in letzter Zeit immer eine gewisse Trockenheit in der Kehle.
Er bestellte sich ein grosses Wasserglas voller Wodka. Weder die Moderatoren noch die Aufnahmeleitung zuckten auch nur mit der Augenbraue bei der Bestellung. Diese Sendung fing an, ihm zu gefallen. Er könnte eigentlich auch gleich noch Werbung für das neue Projekt machen, dachte er sich.
Die Sendung begann und der Burgfestspielstar Kaspar Rautenberg nahm an, dass ihm und den Zuschauern jetzt die anderen Gäste vorgestellt werden würden. Denn ehrlich gesagt kannte er hier kaum jemanden, und ihm fiel die Navigation in der Welt gerade sowieso zunehmend schwerer. Die hatten verdammt guten Wodka hier. Doch die Show schien auf Spannung zu bauen: es wurde, bevor die Klappe fiel, nur noch schnell die Reihenfolge festgelegt. Geplant war, dass Kaspar Rautenberg den krönenden Abschluss der Runde bilden würde, er könne sich aber auch gerne jederzeit früher in ein Gespräch einmischen, falls ihm danach wäre.
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Als der erste Gast, ein blonder, junger und ziemlich eingebildeter Schönling vorgestellt wurde, traute Kaspar Rautenberg seinen Augen und Ohren nicht. Scheinbar hatte irgendjemand diesen Bengel aus einem Cafe gezerrt und in eine billige Sperrholz-Kulisse gesteckt, ehe der sich wehren konnte. Und jetzt sitzt er hier und gibt den Eröffnungsgast, inklusive frisch aufgenommener CD. Nachdem der neunzehnjährige Mimendarsteller seinen zweiten Satz mit den Worten „Als Schauspieler ist das natürlich schwer zu beurteilen…“ begann, nahm Kaspar Rautenberg den Klappstuhl des Tonmanns in die Hand.
Der wohl bedeutendste deutschsprachige Theaterschauspieler zog den Blechklappstuhl zielgenau über den Scheitel des Sprechenden, noch bevor auch nur die ersten Silben des Wortes „Lee-Strasberg-Schule“ dessen Lippen verlassen konnten. Dabei brüllte der diesjährige Star der Burgfestspiele „Dafür habe ich nicht sieben Jahre bei Matschullak gelernt und vierzig Jahre an den besten Theatern gespielt, dass so ein dahergelaufener Taugenichts sagt, er ist ein Schauspieler!“
Das war das vorläufige Ende der Karriere des Kaspar Rautenberg. Sören Schelling trug lediglich eine leichte Gehirnerschütterung und einige Schürfwunden davon und begann schon drei Wochen später mit den Dreharbeiten an einem Film, in dem er einen jugendlichen Voyeur spielte, der einen Rentner zur Weißglut treibt.

Fundstück: Else

[Wenn ich wollte, was könnte ich mich weiter aufregen. Aber das sollte ja hier nicht passieren. Stattdessen wieder ein alter Text, aus einer Zeit, als noch Autos durchs Brandenburger Tor fahren durften. Doch, doch, das stimmt, das gab es mal. Und auch alles andere in diesem Text ist genau so passiert. Ischwöre.]

Else

Manchmal, wenn gerade keine kulturelle Großveranstaltung in der Stadt ist, habe ich vor Langeweile ganz verrückte Ideen. So ähnlich wie nachts bei Rot über die Ampel gehen. Wenn kein Auto kommt. Wenn eins kommen würde, das wäre mir schon wieder zu crazy, wie man heute so sagt.

Einmal bin ich über den Kudamm geschlendert, also eher Kantstrasse, aber dit is ja allet Kudamm da, wa, und bin in den Beate-Uhse-Laden gegangen. Damit auch ein paar verklemmte Touris mal reinschauen, haben die noch ein Erotik-Museum da mit drin, aber das interessierte mich weniger. Die Touris, so ganz nebenbei, sehen das glaube ich ähnlich.

Ich bin schnurstracks auf die Gummipuppen drauf zu, und nach einer halben Stunde verlegen umherschauen habe ich mir dann endlich eine genommen und bin zur Kasse gerannt, habe bezahlt und nix wie raus.

Dann bin ich ganz schnell nach Hause. Ausgepackt und aufgeblasen und da war sie in ihrer vollen Pracht. Doch sie war noch nicht komplett, es fehlte noch etwas.

Vor zwei Wochen hatte ich einen Kumpel zu Besuch. Also eher einen flüchtigen Bekannten, der wie der Name schon sagt… Jedenfalls, der war Sprayer, und das hatten in der Nacht auch noch Leute mitbekommen, die es besser nicht wissen sollten. Er hat seinen Rucksack bei mir gelassen, weil er Angst hatte, dass sie irgendwo auf ihn warten und dann in seinen Rucksack schauen.

Ich kramte in dem Rucksack rum und richtig, nebst allen anderen Farben des Regenbogens war auch eine Dose Gold-Spray dabei. Ich nahm also die Else, so nannte ich sie schon liebevoll, und sprühte sie von oben bis unten ein, bis sie richtig glänzte. Am schlimmsten waren die zwei Stunden danach, die ich warten musste, bis Else trocken war. Dann packte ich sie ins Auto. Ich fuhr ein wenig durch die Gegend, und auf der Straße des 17. Juni parkte ich irgendwann. Nachts verirren sich wirklich nur ganz bestimmte Leute in den Tiergarten, das muss man mal sagen.

Ich stieg aus, nahm die Else aus dem Kofferraum und dann noch das extralange Seil, das ich vorsorglich mit eingesteckt hatte. Jetzt gab es kein zurück mehr. Es waren nur circa 500 Meter zur Siegessäule, kein Problem. Und, als Berliner müsste man das ja wissen, um auf die Siegessäule zu klettern, braucht man gar kein Seil, das geht auch anders, da gibt es eine Treppe. Die kletterte ich dann auch hoch, mit der Else in der einen und dem Seil in der anderen Hand. Als ich ganz oben war, nahm ich eine Tube Pattex, die ich glücklicherweise noch dabei hatte, und klebte meine Else an die Stelle, an der vorher dieser komische Engel stand. Den hatte ich vorher abgeschraubt und unter den Arm geklemmt. Auf dem Weg nach unten erzählte mir der Engel, dass er gar kein Engel ist und auch Else heißt, was ich enorm lustig fand.

Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, beeilte ich mich, ganz schnell wieder ins Auto zu kommen. Schließlich könnte ja jemand denken, dass diese goldene Engelsfigur unter meinem Arm geklaut ist. Ich packte sie in den Kofferraum und fuhr los, so knapp `nen Kilometer, bis ich wieder anhielt. Raus aus dem Auto, Else Zwei aus dem Kofferraum geholt und rauf auf`s Brandenburger Tor. Dort stellte ich sie hinten auf den Wagen der Quadriga, was die Else total toll fand, von wegen ganz andere Perspektive mal und so. Die Siegesgöttin, die dort sonst steht, habe ich auf einen Kaffee eingeladen, was sie bereitwillig annahm. Unter anderem auch wegen der Perspektive.

Als die Sonne dann irgendwann aufging, und die Siegesgöttin immer noch auf meinem Sofa schlief, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ob uns jemand zusammen gesehen hatte? Und selbst wenn nicht, das fällt doch bestimmt auf!

Doch nichts war, nach zwei Tagen hatte immer noch keiner was gemerkt, und die Siegesgöttin nervte mich langsam mit ihrer „Keiner-mag-mich-niemand-vermisst-mich“-Tour. Klar, irgendwie hatte sie ja recht, von wegen Wahrzeichen, es kümmerte die Stadt einen Dreck, was da oben auf dem Brandenburger Tor war. Aber mir wurde es zuviel. Ich fuhr nachts wieder zum Pariser Platz und brachte alles an selbigen, also seinen Platz. Vorher allerdings habe ich noch ein Foto geschossen, wie all die Berlin-Touristen tagsüber. Was die wohl denken, wenn sie ihre Bilder entwickeln, und das da oben auf dem Brandenburger Tor irgendwie anders aussieht als in den Reiseführern? Da werden sie bei ihren Diashows zu Hause mit enormen Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen haben.

Die Else Zwei freute sich übrigens auch. Sie fand es zwar ganz nett, aber es gefiel ihr besser, wenn die ganzen Autos und Busse um sie herum fuhren, statt unter ihr durch. Also wieder rauf auf die Siegessäule. Ich hatte nur noch ein Problem: meine Else. Ich musste sie schließlich wieder mitnehmen. Doch wo hin mit ihr? Zu Hause im Schrank verstecken und dann vergessen und wenn man dann irgendwann mal eine Frau zu Besuch hat und die den Schrank aufmacht…. Nee, nee.

Ich fuhr also wieder zum Kudamm (Kantstrasse, ihr wisst schon). Dort stieg ich in das Beate-Uhse-Haus ein und brachte die Else zurück. Gut, ich habe sie nicht unbedingt in das gleiche Regal gepackt, da war sie auch viel zu gross für, war ja immerhin aufgeblasen und durch den Goldlack relativ starr. Deswegen habe ich sie in das Erotik-Museum gestellt, da geht ja eh keiner hin.

Die nächsten Tage war ich schon ein wenig frustriert. All meine waghalsigen Aktionen waren für die Katz. Höchstens ein paar Japaner, die etwas davon mitbekommen haben, auf ihren Kleinbildkameras. Doch auch ich hatte ja ein paar Beweisbilder. Die entwickelte ich dann ganz fix (war immerhin bei FotoFix) und überlegte, was ich damit machen würde. Wenn man ein Bild an die wirklich ganz große Glocke hängen will, wo geht man da hin? Richtig, zur Bild-Zeitung, die heisst ja nicht umsonst so. Dort allerdings wurde ich rüde abgewiesen, beschimpft und als dilettantischer Fälscher bezeichnet. Wenn ich mal ein richtig spektakuläres Foto sehen wolle, dann sollte ich mir doch morgen das Blättchen kaufen und lernen, sagte man mir auf dem Weg nach draußen. Das war hart.

Nichtsdestotrotz kaufte ich mir am nächsten Morgen besagte Zeitung. Groß auf dem Titelblatt ein Jugendfoto des amtierenden Bundesumweltministers, vermeintlich ausgerüstet mit einem Schlagstock und einem Bolzenschneider. Naja, wenn das wichtiger ist als das Wohl der Berliner Denkmäler…

Auf der dritten Seite war übrigens etwas zu lesen über eine jüngst stattgefundene Ausstellungseröffnung im Erotik-Museum, auf der die Skulptur einer goldenen Gummipuppe für 80.000 Euro verkauft wurde.

PS. Wer glaubt, dass unter der Telekom-Werbeplane noch immer das Brandenburger Tor steckt, der täuscht sich gewaltig. Ihr wisst ja, ich war da. Aber dazu später mehr…

(2002)

Vom Wohnen (und Leben, und Lieben) in Berlin – Teil 2

[Teil 1 hier; aller guten Dinge sind drei, das Finale lässt noch auf sich warten]

Midtro:
Für das Wahre, Schöne, Gute
will jeder gerne bluten
und fühlen,
was es zu fühlen gibt…

– Alltag-

An dem Abend bei Charly in der Kneipe erfuhren wir auch, was es mit dem alten Mann auf sich hatte, der so gut wie jeden Morgen pünktlich um neun mit seinem Uralt-Kadett ankam und in dem kleinen Kabuff im Erdgeschoss verschwand. Er hatte dort mal einen Laden und wohnte bis nach dem Krieg auch in dem Haus. Er war locker über 80 und wurde mit der Zeit auch immer wackeliger auf den ohnehin schon durch Krücken verstärkten Beinen. Ab und zu kamen wir ins Gespräch und eines Tages brachte er diesen Riesenstapel Fotos und Postkarten mit – unser Kiez zwar, aber so kannten wir ihn nicht, dafür waren wir viel zu jung: Wasserwege, die längst zugeschüttet sind, Gasometer, die nicht mehr existieren und Kirchen, die zerbombt wurden. Irgendwann kam er dann allerdings nicht mehr so regelmässig, und dann gar nicht mehr.

Mit Kleingewerbe sah es auch sonst eher schlecht aus in unserem Block. Ein paar Häuser weiter gab es mal einen schlechten Pizza-Lieferservice, der schnell wieder zumachte. Einige Monate später eröffnete ein Videospielverleih in denselben Räumen, der sich erstaunlich lange hielt und von den ortsansässigen Jugendlichen begeistert frequentiert wurde, bis er einem Bäcker weichen musste. Dieser wiederum kam uns sehr entgegen: Wir konnten endlich mal ausprobieren, wie es aussehen würde, wenn der Hund wie im Klischee die Brötchentüte nach Hause trägt, es waren ja nur ein paar Meter. Dann wurde aber der Schwamm unter dem kompletten Häuserblock entdeckt, und eben auch im Gemäuer des Bäckerkellers, und das ging natürlich gar nicht. Dafür trat der Puff, der fünf Häuser weiter in der anderen Richtung lag und über den schon lange gemunkelt wurde, den offensiven Weg nach vorne an und hängte neben dem verstohlen blinkenden Herz im Fenster auch eine Leuchtreklame über die Tür. Die Geschäfte scheinen gut zu laufen, nur der  Kronleuchterladen, den es auch noch gibt, hält sich genauso lange.

So zogen die Jahre auch in unserer immer weniger neuen Kreuzberger Heimat ins Land und neue und alte Nachbarn ein und aus. Nach den Polen war es unser direkter Nachbar, der nach Connewitz zog, was eine zeitlang sehr angesagt war unter Berlinern, die Flucht aus der grossen, hässlichen Stadt nach Sachsen. Kurz darauf verschwanden dann wie schon erwähnt die Dealer aus dem Dritten. Dafür kam ein sehr angenehmer Münchener dazu, der später mit seinem kleinen Bruder dort eine WG aufmachte. Madame und ich holten die Hundegrosseltern aus der O-Strasse ins Haus, später zog noch ein weiteres befreundetes Pärchen in die Wohnung der Musiker-WG.

Wir studierten mehr oder weniger vor uns hin, machten mehr oder weniger gute Nebenjobs und genossen so gut es ging unsere besten Jahre. Der Hund war viel zu schnell erwachsen geworden und irgendwann fanden wir sogar – nach ein paar handvoll Versuchen – für den mindestens jährlichen Dänemark-Hundeurlaub im stürmischen Februar den idealen Ort im Nirgendwo inmitten der Dünen. Natürlich hatten wir den Fiesta inzwischen standesgemäß durch einen schönen alten eckigen Volvo ersetzt. Schon allein wegen dem Hund, ohne den bräuchte man in Berlin sowieso kein Auto (und keine Urlaube in Dänemark). „Oh, die Dame hat extra Lippenstift für mich aufgelegt!“ spottete der Tierarzt süffisant, als wir ihn im ersten Kohleofenwinter besuchten, weil der Hund unbedingt die heisse, gusseiserne Ofentür beschnuppern musste.

Die Kreise, in denen wir uns bewegten, wurden immer kleiner, der Kiez und auch Berlin sind irgendwann durcherkundet, was eher daran liegt, dass man genügend angenehme Orte gefunden hat, als dass es nichts Neues mehr geben würde. Jedenfalls lagen die Koordinaten unseres gedanklichen Stadtplans inzwischen zum größten Teil in Kreuzberg, aber auch die althergebrachten in Mitte und Prenzlauer Berg wurden noch regelmässig besucht. Ansonsten kamen auf dem Berlin-Plan in unserem Kopf nur noch sporadisch neue dazu: Der Kickermeister aus dem Bandito machte eine neue Kneipe drei Strassenecken weiter auf. Zwei andere Leute zogen noch drei Ecken weiter ihr „Wie verprass ich mein Erbe“-Experiment noch eine Nummer grösser auf. Der Eimer hatte dafür längst zu. Grunewald – wegen dem Hund und dem jährlichen Kistenrennen der Potsepunks. Durch Madames Job natürlich alles, was irgendwie mit dem wunderbaren alten Kino in der Nähe vom Zoo zu tun hatte, und das war eine Menge: Premierenfeiern hier und da, obskure Festivals und Privatvorführungen diverser cineastischer Raritäten, nicht zu vergessen der hundertste Geburtstag des Chefs, der noch jeden Tag ins Büro kam, und zum Leidwesen seiner Angestellten auch regelmässig ans Telefon ging.

Stattdessen fuhren wir in der Weltgeschichte rum, sobald sich die Möglichkeit dazu bot: Kuba wie gesagt war die erste gemeinsame Reise, Dänemark jedes Jahr nach der Berlinale, mindestens. Der Band, in der Madame Schlagzeug spielte, ging die Gitarristin in Richtung Südafrika abhanden, was uns ein paar schöne Zeiten in diesem tollen Land bescherte. Der ehemalige Mitbewohner aus der O-Strasse hatte sich und seinen berechtigten Ärger gefangen und arbeitete inzwischen in Amsterdam, was uns als Stadt ebenso begeisterte wie Tel Aviv. Kurz gesagt: Es war eine tolle Zeit, aber es war klar, dass es nicht ewig so weitergehen konnte.

Doch bevor es sich richtig änderte, wurde es erst noch mal richtig besser: Madam steckte mitten im Examensstress, als ich mich entschied, vielleicht doch zurück an die Uni zu gehen und die letzten Scheine zu machen, die Umstände boten diesen Schritt geradezu an. Das Problem war allerdings, dass wir recht schnell bemerkten, dass ein gemeinsam genutztes Arbeitszimmer keinem von uns gut tat, und uns zusammen erst recht nicht. Eigentlich – trotz all der Jahre und all der Veränderungen – mochten wir dieses Haus und diese Wohnung immer noch sehr.

Sicher, viele Leute waren ein- und ausgezogen in der Zeit, und zugegeben: es hat sich nicht unbedingt zum Besseren gewandt. Irgendwann hörten die Hofpartys auf, irgendwann zogen neue Nachbarn ein, die selbst wir „die Jugendlichen“ nannten. Von den ursprünglichen Bewohnern – denen, die da waren als wir hier einzogen – waren nicht mehr viele übrig, und vor allem wenige, die zu richtigen Freunden geworden sind. Darüber hinaus, wenn man ehrlich ist: Nach zehn Berliner Wintern, einige davon mit sibirischen Ausmaßen, reicht es auch mal mit der Kohlenheizung. Wobei es gar nicht die Öfen oder das Heizen oder das Kohlen-aus-dem-Keller-schleppen war – das Nervigste war die Asche, die überall rumfliegt. Die Kombination aus der flauschigen und unglaublich dichten Husky-Unterwolle des rekordverdächtig haarenden Hundes und der feinen Asche killte ungefähr einen Staubsauger pro Jahr. Und ausserdem wurde in der letzten Zeit ständig die Strasse aufgerissen und mindestens zur Hälfte gesperrt, oder ein geplatztes Wasserrohr aus dem vorletzten Jahrhundert erledigte diesen Job, oder die BVG erneuerte die Hochbahnschienen. Irgendwas war immer.

– Durchbrüche, Umbrüche –

Erstaunlicherweise gab es – wir sind irgendwo in der zweiten Hälfte der sogenannten 00er Jahre – selbst zu dieser Zeit Wohnungen, die unseren Vorstellungen von Grösse, Lage und Bezahlbarkeit entsprachen, sogar in der Nähe, denn den Kiez wollten wir nicht unbedingt verlassen. Allerdings schafften wir es nicht, auch nur einen einzigen Besichtigungstermin zu absolvieren, vielleicht hätten wir ansonsten damals schon die Vorläufer der inzwischen berühmt-berüchtigten Wohnungscastings hautnah erleben können.

Der Grund dafür war recht simpel: Wir blieben doch im Haus. Überraschenderweise zog die WG aus dem Musikerumfeld, die sich nebenan eingerichtet hatte, nachdem der Nachbar gen Sachsen aufbrach, in die ehemalige Drogenhölle. Der Münchner war dabei, der Frankfurter, der manchmal nachts auf dem Balkon Kontrabass spielte auch, insgesamt also alles nette Leute. So nett, dass sie uns fragten, ob wir nicht die Wohnung haben wollten – sie hatten von unseren Plänen gehört und sie nicht gerade goutiert. Nun hatte ihre Wohnung aber auch nur drei Zimmer und eine etwas größere Abstellkammer, ausserdem war der Grundriss eigentlich ziemlich ungünstig. Es war schlauchig, das Bad war auch nicht so dolle, bis auf die Wanne, die hätten wir schon ganz gerne wieder mal genossen. Von der Küche ganz zu schweigen, die war im Grunde nicht vorhanden.  Okay – zwei Arbeitszimmer wären drin gewesen, aber dafür auf unsere inzwischen optimal eingelebte und viel besser geschnittenere Wohnung verzichten?

Andererseits: Mit dem Budget, das wir für eine neue Wohnung eingeplant hatten, konnten wir uns auch beide Wohnungen zusammen leisten, wir würden damit sogar entscheidend unter der vorher festgelegten Schmerzgrenze liegen. Nachdem uns diese Idee kam, mussten wir nicht mal eine Nacht drüber schlafen – konnten wir vor lauter Begeisterung auch gar nicht – um eine Entscheidung zu treffen. Kurzerhand stellte mich die WG bei der Hausverwaltung als Nachmieter vor und wir begannen, im Kopf schon mal die neuen Räume aufzuteilen: Zwei Bäder können nie schaden, wir waren längst in der Beziehungsphase, in der man das sofort einsieht. Aus dem grossen langen Balkonzimmer würde die Bibliothek werden, mit den Flügeltüren zu meinem neuen Arbeitszimmer. Dahinter dann das zweite Wohnzimmer mit Kicker, und ganz hinten das Gästezimmer. Und als Krönung zwei Balkone! So standen meine Graspflanzen Madames Tomaten nicht mehr im Weg. Am nächsten Morgen klopften wir die Wand ab, um eine geeignete Stelle für den Durchbruch zu finden.

Allerdings leisteten wir uns diesen Luxus keine drei Jahre. Immerhin gab es so noch zwei legendäre Partys, eine zum Einzug und eine, als wir die zweite Wohnung wieder aufgaben und den Durchbruch wieder zumachten. Madame war mit dem Studium fertig und fing an, sich einen Referendariatsplatz zu suchen, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Berlin passieren würde. Und ich war mal wieder in einer veritablen Krise. Wie befürchtet ging es für sie ins tiefste Westdeutschland, während der Hund und ich zusahen, wie wir alleine in Kreuzberg und vor allem auch mit der Pendelei klarkamen. Es war keine Frage, dass der Hund erst einmal bei mir blieb, schon allein, weil ich viel mehr Zeit hatte, und die Ein-Zimmer-Einliegerwohnung irgendwo auf dem Acker kurz vor Holland wäre für die Hundedame auf Dauer auch nicht so toll gewesen. Obwohl ihr die frisch mit Mist und Gülle gedüngten Felder  ausserordentlich gut gefielen.

So richteten der Hund und ich uns neu in Berlin ein, aber trotzdem wurde ich den Eindruck nicht los, dass etwas fehlte, dass etwas weg war, dass das Leben in der halben, ganzen Wohnung ab und zu mal einen Phantomschmerz-Stich verteilte, wie es nach einer Amputation nun mal oft so ist. Und das lag nicht nur daran, dass uns ein paar Zimmer abhanden gekommen waren. Wir schlugen die Zeit in Kneipen und den wenig übrig gebliebenen Hausprojekten tot, gingen stundenlang am Kanal und fast täglich im Grunewald spazieren, aber eigentlich warteten wir nur darauf, dass Madame uns besuchen kam. Da dies immer seltener passierte, liess ich den Hund immer öfter übers Wochenende bei den Hundegroßeltern, die inzwischen längst in den Wedding gezogen waren, und fuhr mit der Bahn gen Westen. Berlin war selten so uninteressant für mich wie in dieser Zeit, obwohl ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Überhaupt etwas zu tun war aber in dieser Zeit das Schwierigste für mich, zum Glück war der Hund da, der seinen geregelten Tagesablauf einforderte, und ihren braunen Kindchenschema-Augen konnte ich selbst im dunkelsten Tal keinen Wunsch abschlagen. Als ich dann anlässlich irgendeines Jubiläums an die Uni geladen wurde, um von der guten alten Zeit zu erzählen, merkte ich, dass eine Veränderung jetzt vielleicht nicht das schlechteste wäre. Obwohl es mich natürlich freute, die ganzen anderen Veteranen mal wieder zu sehen.

Es wäre uns trotzdem nie in den Sinn gekommen, damals, die Berliner Wohnung aufzugeben. Aber sie hiess eben inzwischen auch nur noch „die Berliner Wohnung“. Nachdem Madame die Qualen des Referendariats hinter sich gelassen hatte und sogar übernommen wurde, machten wir uns wieder mal auf Wohnungssuche – oder besser gesagt: Mal wieder sie alleine, obwohl wir wenig später gemeinsam einziehen würden. Da Madame in Berlin Jahre auf eine Stelle hätte warten müssen, die dann auch noch viel miesere Konditionen gehabt hätte – dit is Balin – war klar, dass unsere Zukunft woanders stattfinden würde. Ich war zu dieser Zeit sowieso mal wieder viel flexibler als mir lieb war, und so suchten wir uns eine passende Grossstadt – das musste schon sein, das brauchten wir beide – in der Gegend aus, die Auswahl war hier zum Glück recht gross. Ausserdem konnten wir so aus Jux Briefköpfe mit zwei wichtig klingenden Adressen anlegen, genau wie diese ganzen wichtigtuerischen Jungliteraten der Jahrtausendwende, die wir halb verachteten und halb bewunderten.

In der Gitsch räumten wir zwei Zimmer komplett leer und packten alles, was übrig blieb, in das dritte, das ehemalige Schlafzimmer mit dem Podest, was nach hinten raus ging. Dazu holten wir noch ein paar Bohlen und Bretter von Holz-Possling und bauten ein Hochbett – ausreichend für ein paar (hoffentlich regelmässige) Stippvisiten in der alten Heimat, dachten wir. Ausserdem hatte ich noch einige Termine im nächsten Jahr in der Stadt zu absolvieren – aber unser neues, gemeinsames Zuhause war jetzt definitiv woanders. Es stimmte schon, tief im Westen, wo die Sonne schon lange nicht mehr verstaubt (und ausserdem um einiges später versinkt und es im Winter sehr viel milder ist), ist es viel besser, als man glaubt. Madame hatte grosse Freude daran, das Nest zu bauen: Es war alles perfekt aufeinander abgestimmt und kam ganz ohne Ikea aus. Selbst der Hund gewöhnte sich, trotz ihres Alters, erstaunlich gut an die vielen Treppen – dafür wartete oben ein schöner flauschiger Teppich, so was gab es in der Kreuzberger Studentenbude natürlich nicht.

Bei der machte sich wiederum der gute Schnitt bezahlt: Wir hatten zwei separate Zimmer, die wir untervermieten konnten, noch dazu mit guten Kachelöfen (in den meisten anderen Wohnungen im Haus waren die inzwischen mit preisgünstigen, blöden Allesbrennern ersetzt) und einer komplett eingerichteten Küche samt Geschirrspüler und Waschmaschine, natürlich ganz zu schweigen von dem trotz allem immer noch angenehmen Haus. Weil Madame in der Ferne den Neustart organisierte, übernahm ich die Hin- und Herfahrerei und das Casting. Dummerweise hatten wir die Entscheidung recht spontan getroffen und keiner unserer Berliner Bekannten hatte jemanden zur Hand, der gerade eine Wohnung suchte. Jedenfalls nicht so eine, wir waren schliesslich alle älter geworden und die Leute arbeiteten inzwischen zum Teil im Bundestag oder ähnliches. Da will man nicht mehr mit dem Ofen heizen, den hat man höchstens noch als nostalgische Reminiszenz in der Ecke stehen. Das ging uns ja nicht anders. Aber ich hatte ja keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte.

 – Neustart, abgewürgt, Neustart –

Sicher, auch wir hatten inzwischen im Freundes- und Bekanntenkreis hier und da mal eine Geschichte mitbekommen, die von absurden Wohnungsbesichtigungen handelte. Wo der Geruch der zuvor Verstorbenen buchstäblich noch in der Luft lag, während sich dutzende  Leute durch die Bude drängelten: So lange die Lage stimmte, konnte man sich so was scheinbar erlauben. Aber das waren doch irgendwie so Lagerfeuer-Schauergeschichten aus Mitte. Dachten wir. Schliesslich hatte Madame gerade erst eine mehr als passable Wohnung auf  einem der teuersten Pflaster Westdeutschlands gefunden. Teuer, das muss man zugeben, in Berlin bekommst du dafür doppelt so viele Quadratmeter. Dachten wir.

Am Mittwoch setzte ich die Anzeige auf, ich sass mit dem Laptop auf dem Balkon, in der Ferne blinkte der Rheinturm in der Abendsonne und ich überlegte noch, ob es wirklich reicht, nur auf einem einzigen Portal zu inserieren, und vor allem, ob der Besichtigungstermin am Wochenende nicht zu knapp gewählt war. Die nächsten Tage verbrachte ich dann damit, stündlich mein Postfach zu leeren und unzählige Mails zu beantworten, die meisten davon auf Englisch, aber nicht wenige waren auch nur in Spanisch geschrieben. Am Samstag durfte ich an die 50 hellauf begeisterte Interessenten durch die Wohnung lotsen und jedes Mal den gleichen Text aufsagen, obwohl ich die Anzeige schon nach einem Tag wieder aus dem Netz genommen hatte.

Die Auswahl war also recht gross, und am Ende ist es dann doch die sprichwörtliche  Schwäbin geworden, man mag es kaum glauben. Ihr Argument war – neben ihrer sympathischen Art an sich – allerdings auch schlagend, bei uns jedenfalls: Sie suchte schon seit Monaten, allein der Hund, dieser wirklich freche (sprich nicht erzogene) Australian Shepherd, den sie im Schlepptau hatte, machte es ihr recht schwer. Da wollten wir nicht im Weg stehen, Madame hatte ja auch einige Schwierigkeiten gehabt, unsere alte Hundedame in der neuen Heimat mit ins Boot zu holen. Die Sache wurde mit einem formellen Untermietvertrag offiziell gemacht, alle waren überglücklich und am Montag war ich wieder zurück am Rhein.

Das nächste halbe Jahr verbrachten wir damit, uns einzuleben und die neue Stadt – ach was sag ich – die neue Welt kennen zu lernen. Ein Ballungsraum ballte sich an den nächsten, von Ort zu Ort veränderte sich der Menschenschlag und die Grenzen der Nationalstaaten, die hier teilweise mitten durch die Dörfer verliefen, nahm man wirklich nur beiläufig wahr. Wir begannen, uns wohl zu fühlen und einzufügen. Gut, Karneval ging für uns Norddeutsche gar nicht, und das war ein grosses Hindernis bei der Assimilation. Aber ansonsten klappte es meistens ganz gut.

Doch ab und zu gab es einen empfindlichen Stich, vor allem, da ich in den ersten Monaten noch wirklich oft nach Berlin fuhr, zumal mittlerweile die komplette Familie hier wohnte, über die ganze Stadt verstreut. Was für eine Ironie: Endlich waren wieder mal alle zusammen, da ziehe ich so weit weg, wie es in diesem Land nur geht. Richtig schmerzlich bewusst wurde uns die Entfremdung von der alten Heimat, als wir einmal mit Auto und Hund herkamen für eine paar freie Tage – Pfingsten – und uns zuerst noch wunderten, dass wir keinen Parkplatz fanden und die Zufahrtsstrassen gerade abgesperrt wurden. Ist ja wie zum Karneval der Kulturen, dachten wir. Und genau so war es dann auch, das hatten wir nur absolut nicht mehr auf dem Schirm, die Verknüpfung Pfingsten-Karneval der Kulturen existierte schon nicht mehr.

Nach nicht einmal sechs Monaten wurde unserer schwäbischen Untermieterin dann langsam bewusst, dass sie das Berliner Nachtleben, was sie in vollen Zügen auskostete, am Ende viel zu vieler Nächte meist im Trinkteufel, ihre Verantwortungen als Hundebesitzerin und ihren Hammeraltenpflegejob nicht unter einen Hut bekommen würde und leider wieder zurück ins beschaulich-ländliche Baden-Württemberg gehen müsste. Was wir komplett einsahen. Da war es uns – gerade nach den Erfahrungen des letzten Castings – auch egal, dass wir eigentlich eine Kündigungsfrist von drei Monaten und eine Mindestmietdauer von einem halben Jahr ausgemacht hatten. Also spielten wir das Spielchen einfach noch mal durch, die Schwäbin hatte auch drei Interessenten an der Hand und so wurden wieder dutzende Leute durch die Wohnung bugsiert. Madame deutete an – es war ja ihre Wohnung, immer noch – dass sie im Hinblick auf die Auswahl der neuen Untermieter hoffte, dass wir uns jetzt nicht alle halbe Jahre einen Kopf um die Kreuzberger Wohnung machen müssten. Denn um ehrlich zu sein, wenn wir wieder nach Berlin zurück gehen würden, was immer noch vage im Raum stand, dann bei aller Liebe wohl nicht zurück in diese Wohnung. Sagte sie.

Von den beiden Münchenern wohnte keiner mehr wirklich im Haus, aber sie hatten es so gemacht wie wir und noch ein Zimmer in der Hinterhand behalten. Der Frankfurter wohnte inzwischen im Vierten zusammen mit einer Kanadierin und erzählte davon, dass er nach Uruguay auswandern wollte. Wir hatten eine neue Nachbarin, die wir nicht kannten und die tagelang scheinbar selbst ihre Wände verputzte, so hörte es sich an. Der Bauarbeiter wohnte immer noch über uns und lebte inzwischen ein befreites, offen schwules Leben samt Rockerkumpels. In der Wohnung der Hundegrosseltern wohnte die nächste Musiker-WG, allerdings aus einer Generation, für die Nirvana das ist, was für uns Janis Joplin und Bob Marley waren: Hätte man gerne noch selbst erlebt. Dafür kehrten die mittlerweile halbwegs berühmt-erfolgreichen Musiker aus dem vierten ab und zu wieder zurück, oder wenigstens ein paar angenehme, altbekannte Gesichter aus ihrem Umfeld. Die hatten die Wohnung also auch noch gehalten. Die Neuigkeiten aus dem Hinterhaus waren gemischt: Einiges blieb ganz beim Alten, der Juraprof mit dem alten Benz war leider gestorben und die Antifa war mit dem Studieren fertig und schwanger. Das war der Stand der Dinge, als ich mich nach einem neuen Untermieter umsah.

Auch Berlin hatte sich verändert. Das lag nicht nur daran, dass ich jetzt quasi von aussen kam und mir der Dreck und die Hundescheisse wirklich auffielen. Denn auf der anderen Seite sah es so aus, dass die halbmeterdicken Plakatschichten in den Hauseingängen in der O-Strasse inzwischen noblen Granitschildern gewichen sind, auf denen „Plakate ankleben verboten“ eingemeisselt war. Bei uns in der Strasse hatte neben dem Puff eine recht populäre und stark frequentierte Ferienwohnung aufgemacht. Und das, was da auf der Admiralsbrücke und im Görli, in den ganzen kleinen Seitenstrassen jenseits des Kanals passierte, damit hatten wir nichts mehr zu tun. Vor Jahren kannten wir die Leute hier noch und feierten zusammen mit dem Musikschrauber-Haschplattenverkäufer-Nachbarn die Eröffnung seines T-Shirt-Ladens (seine neue Berufung!), den er sich mit einem buddhistischen Kumpel teilte, der dort Räucherstäbchen, Bambuskerzen und Batikklamotten vertickte. Ihre Ladeneröffnung hatten sie günstig auf das Graefestrassenfest gelegt, so fanden sie vom ersten Tag an eine treue Kundschaft. Der Laden ist dann später in den Osten gezogen, irgendwo am Eingang vom Mauerpark lief er noch eine ganze Weile ganz gut.

Wir machten uns einen Spass daraus, die Gegend neu zu erkunden, so als ob wir auch Touristen wären, vom Kanal über die kanadische Pizzeria in der keiner Deutsch spricht bis hoch zum frisch eröffneten Tempelhofer Feld. Hätte ich noch ernsthaft studiert, wäre das eine lohnende Feldstudie wert gewesen. Dazu kamen im Stadtbild merklich mehr offensichtlich arme Menschen, übrigens selbst an den noblen Ufern des Rheins in unserer neuen Heimat. Flaschensammler. In Berlin konzentrierte sich das alles wie unter einem Brennglas. Auch wenn einige althergebrachte Ecken nicht mehr existierten: Die Abkürzung entlang der S-Bahn-Bögen, die Madame vom Zoo zu ihrem Kino immer nahm und die von den ansässigen Junkies zur Verrichtung aller möglichen Geschäfte genutzt wurde, die gab es längst nicht mehr. Dafür hatten wir jetzt ein Flüchtlingscamp vorm Brandenburger Tor und eins auf dem O-Platz.

Vom Wohnen (und Leben, und Lieben) in Berlin – Teil 1

[Ich hab den Text dann doch aufgeteilt…an Teil 2 wird noch gefeilt].

Intro: Und Berlin war wie New York…

Es war irgendwann im August 1997, kurz vor  Ferragosto, als mich im heissen Süditalien die Nachricht erreichte: Berlin! Jetzt!

Der Zivildienst war gerade beendet, der Studienplatz an der Humboldt-Uni zugesagt und mit der damaligen Freundin, die nach dem Abi schon zwei Semester Kunst hinter sich hatte, fuhren wir nun endlich durch Italien: Die klassische nicht ganz so grosse Grand Tour deutscher Abiturienten, schon irgendwie. Dafür hatten wir so Sachen wie Ferragosto gelernt, ganze drei Tage in den Vatikanischen Museen verbracht und uns wie in Arkadien gefühlt. Es war toll und der kleine blaue Fiesta namens Ozzy hielt trotz mautvermeidenden Apenninenserpentinen tapfer durch. Und jetzt schien das mit der Wohnung im Prenzlauer Berg also auch geklappt zu haben! Wir hatten drei Tage, um von dem Fährableger statt nach Griechenland wieder zurück nach Hause zu fahren. Was ab jetzt Berlin hiess.

Vor dem Mauerfall war Berlin für mich – ausser Hauptstadt der DDR natürlich – ein Ausflugsziel, um mit der von dort stammenden Verwandtschaft in den Tierpark zu fahren, einzukaufen, noch entferntere Verwandte zu besuchen und die große, weite Welt zu bestaunen. Später, als wir mal wieder umzogen, diesmal richtig weit und nicht nur ins nächste Dorf oder unter der Woche ins Studentenwohnheim, wurde Berlin Durchfahrtsort auf der Strecke zum Familienstammsitz. Oft fuhren wir dran vorbei, aber wenn die Eltern gute Laune und Zeit hatten, ging es auf der langen Fahrt längs durch die Republik auch mal nachts quer durch die glitzernde, blinkende grosse Stadt. So viele Lichter auf einmal gab es sonst nirgendwo in der ganzen Republik zu sehen. Ich sprang vor lauter Begeisterung auf der Rückbank des alten Skoda hin und her. Noch eine Weile später, immer noch Kind, war Berlin für ein paar Sommer lang der Ort, von dem mich die Iljuschins in den grossen Ferien zu den Eltern brachten.

Da war es nur naheliegend, nicht nur geographisch, dass das erste Westgeld natürlich auch in Westberlin abgeholt und ausgegeben wurde: Doppelkassettenrekorder. Später dann soviel skurrile Klamotten, wie wir uns im Basement kaufen konnten: Kilopreise! Der Zufall wollte es, dass wir kurz darauf ein paar Berliner kennenlernten, wegen denen wir in den nächsten Jahren auch immer wieder so oft wir konnten zurück kamen. Sie waren gerade dabei, eine Band zu gründen, die ebenfalls Basement im Namen trug. Ausserdem schaffte es der grosse Bruder des  besten Freundes, der uns all die verbotenen und spannenden Sachen, Substanzen  und Gedanken nähergebracht hatte, nach Weissensee. So waren wir fast jedes Wochenende in der Oberstufe hier, und wenn nicht, dann in Hamburg, was ungefähr gleich weit weg, aber nicht  ganz so aufregend war. Dafür aber norddeutsch, was uns wiederum vom Gemüt und der Sprache eher lag.

-Ankommen-

Trotzdem keine Frage, dass es für’s Studium die HU sein sollte – also Berlin. Was hatten wir inzwischen hier in den letzten Jahren schon alles erlebt, ausprobiert und kennengelernt! Die wilden 90er, manchmal sogar mit elektronischer Musik, da kam man kaum drum rum zu dieser Zeit. Und wie toll würde das erst werden, wenn man hier ganz und gar wohnte! Die Konzerte, die Partys, die illegalen Wochentagsbars irgendwo im Hinterhof, im Keller oder in einer leeren Wohnung. Das Bandito! Die Köpi! Der Eimer! Das Acud! Die Fehre! Der Schokoladen! Das Tacheles!

Wo wir lebten gab es dagegen – trotz Fachhochschule und laut DDR-Statistik festgestellten 77.000 Einwohnern – ganze zwei halbwegs passable Kneipen. Zum Tanzen fuhr man in die nächstgelegene Uni-Stadt (also Rostock oder Greifswald), weil: Man wollte ja keine Chartmusik hören, sondern mindestens Indie. Es wurde also höchste Zeit für die Metropole: Kindheit in Lausitzer Heidewäldern, Jugend an der Küste, und nun endlich Berlin – das war nur logisch.

Der grosse Bruder wohnte in der Senefelder, so wurde dieser Kiez unser Basislager. Grenze zu Mitte, Klo auf der halben Treppe, ein Zimmer mit Hochbett und Ofenheizung. Deshalb wollte ich auch unbedingt die Wohnung in der Christburger haben, wegen der wir die 2200 Kilometer von Brindisi in die alte Heimat und die 300 Kilometer von dort zurück nach Berlin gern in einer Drei-Tage-Monstertour abrissen: Mir war die Gegend sehr vertraut, ich fühlte mich hier schon heimisch, bevor ich es überhaupt war. Zwei Zimmer Altbau, Wannenbad, Gamat-Aussenwandheizkörper. Die Vormieter aus Moskau sagten, sie hätten eine Greencard gewonnen und wollten weiter gen Westen ziehen. Ich liess mich mit 1.500 Mark Abstand für ein paar Möbel und anderen Kram über den Tisch ziehen, aber es war immerhin die erste eigene Wohnung und dank der Zivi-Abfindung samt rund-um-die-Uhr-ISB-Zuschlag konnte ich das problemlos verschmerzen. Also machten wir uns ans Renovieren. Beim Stuckabpinseln und Malern wurden dann die Modalitäten für die zukünftige Fernbeziehung festgelegt: Sie wollte von Anfang an nicht in Berlin studieren – zu gross, zu viel los und nicht zuletzt kein passender Studiengang.

Dann der Semesterstart: Ausgestattet mit jahrelanger Berlin-Besucher-Erfahrung, einer wunderbar dilettantisch hergerichteten Erstsemesterwohnung im Prenzlauer Berg und unbändiger Vorfreude stürzte ich mich von den Einführungsveranstaltungen direkt in das Zentrum des Aufstands. Was mich bis heute versaut hat.

Schon bevor mit dem Streik alles Übel seinen Lauf nahm, fand sich recht schnell ein kleines Grüppchen zusammen, dank der verschiedenen Magisterteilstudiengänge bunt gemischt. Einige hatten Wohnungen oder WGs in Mitte, andere im Prenzlauer Berg, nur wenige in Kreuzberg, weil sie schon länger in Berlin wohnten. Selbst Avantgardisten aus Friedrichshain waren dabei, und es gab schon damals nur verschwindend wenige Urberliner. Anfangs waren die Freundeskreise noch in Bewegung – gerade auch durch die ganze Streik-Geschichte – aber bestimmte Kerne bildeten sich doch recht schnell und blieben sehr lange bestehen. Wir eroberten Berlin auf so vielfältige Art und Weise:

All das Wissen, was die Uni zu bieten hatte, selbst und gerade in den autonomen Seminaren des Streiksemesters. All die Kultur an jeder vergammelten Strassenenecke, an denen damals noch der alte Ostberliner Putz abbröckelte (Lesebühnen! Schlingensief!). Die Menschenmassen überall, mal als Beobachtungsobjekt, mal als ein Etwas, dem man selbst angehörte. Interessante neue Menschen und Begegnungen allerorten. Und auf einmal ist man mitten im Geschehen und meint – euphorisch wie man ist – einen Hauch von Anarchie und Revolution zu spüren, der sich hartnäckig an einem festsetzt. Tagsüber dem Politgeschäft nachgehen und nachts dann die Tour runter vom Prenzlauer Berg, über die Sredzki-, Ryke- und Kollwitzstrasse bis zur Zionskirchstrasse oder Senefelder Richtung Mitte, und in jedem dritten Hinterhof tat sich eine neue Welt auf. Zum Schluss landete man immer irgendwie beim Imbiss International.

Die Wohnung in der Christburger hielt nicht lange, aber immerhin länger als die  Fernbeziehung. Die war im Frühling vorbei: Die Verlockungen waren zu gross, die Strecke zu weit und das neue Leben zu fordernd. Wie ich später herausfand, wurde auch schon im Herbst bei einer der ersten Vollversammlungen ein interessierter und folgenreicher Blick auf mich geworfen. Irgendwann im neuen Jahr, nach der verhängnisvollen Silvesternacht, in der ein Stuhl in der Heckklappe des Fiesta landete und dessen langsamen Untergang einläutete, kam dann die Nachricht von der WIP: Meine Wohnung wird – zusammen mit tausenden anderen – von der kommunalen Genossenschaft verkauft. Sanierung und so weiter wahrscheinlich, man sollte sich mal unterhalten. Nach gerade mal einem knappen halben Jahr Mietdauer.

Würde ich irgendeinen roten Heller auf Herkunft legen (was ich natürlich mache), dann hätte ich bestimmt längst Zigeunerblut zwischen den ganzen Kommunisten, Sorben, Juden und Franken in der Ahnentafel ausgemacht. Schon bevor ich die erste eigene Wohnung in Berlin bezog, bin ich gut ein Dutzend Mal umgezogen. Einerseits lag das an dem unsteten Lebenswandel der Mutter, doch auch die dörferfressenden Braunkohlebagger trugen dazu bei, genau wie die Sportkaderförderung der DDR, die ich kurzzeitig am eigenen Leib erfahren durfte, und der Auslandsaufenthalt der Eltern. Deshalb war der anstehende Umzug eigentlich kein Problem für mich. Über politische Theorien zum Thema Verdrängung machte ich mir damals noch keine grossen Gedanken, wenn dann nur am Rande und ohne das, was um mich rum passierte, konkret in diese Überlegungen einzubeziehen. Ich war jung, und Jugend braucht Veränderungen, auch räumliche. Ärgerlich war lediglich die Arbeit, die wir liebe- und mühevoll in Bad und Küche, Stuck, Dielen und Türen gesteckt hatten. Als Trostpflaster gab es immerhin 2.500 Mark, womit das nächste halbe Jahr Miete und Leben gesichert war.

– Kreuzberg!-

Inzwischen – das nahm noch in der Christburger seinen Anfang – war ich mit besagter Blicke werfenden Frau zusammen gekommen, ohne viel eigenes Zutun. Sie, ein radfahrverrückter halbniederländischer Friese und ich bildeten die eingeschworene norddeutsche Aussenstelle, später kamen noch ein Schweriner und ein Bremer dazu.

Dieses Mal war ich auf Kuba – der erste grosse gemeinsame Urlaub – als uns die Nachricht erreichte, dass der Friese eine sehr schöne, sehr grosse, sehr preiswerte und etwas ungünstig geschnittene Wohnung in der O-(ranien)Strasse aufgetan hatte. Zwar direkt über einer Kneipe, aber was soll’s, wir waren Studenten, es gab ein paar interessante gewerblich genutzte Hinterhöfe samt ständig präsentem Haus-Hof-Meister mit Schnauzer und eben: Kreuzberg!

Madame wohnte damals noch in Moabit, Beusselkiez. Ihre Berliner Verwandtschaft, die irgendwo tief im Westen neben Grönemeyer residierte, hatte das organisiert. Zu dieser Zeit war diese Gegend ein grauer Fleck auf allen Stadtplänen, die man als frischer Student so im Kopf hatte – abgesehen von den Nazis der gleichnamigen Kameradschaft, von denen hatte man sehr wohl schon was gehört. Es war nicht ganz so billig wie im Prenzlauer Berg, dafür irgendwann in den 80ern saniert, halbwegs zentral zu allen drei Unis gelegen und mit vernünftiger Heizung.

Wenn ich mir (was ich oft tat) spätnachts von der Uni, aus der Christburger oder irgendeiner Kneipe in der Nachbarschaft auf wackeligen Rädern den Weg Richtung Westen bahnte und der Morgen irgendwo zwischen Tiergarten und kleinem Tiergarten zu dämmern begann, dann konnte ich mir, trunken und liebestrunken, nicht vorstellen, glücklicher zu sein. (Manchmal stieg ich vom Rad – manchmal fiel ich – und legte mich einfach auf den taunassen Rasen zwischen die vorsichtig aus ihren Löchern lugenden Kaninchen, blickte in den Himmel, war überrascht, dass die Siegessäule an einer ganz anderen Ecke im Blickfeld auftauchte als gedacht und genoss den Moment, die Gegenwart, das Leben und den ganzen Rest.) Bis sie mir die Tür öffnete.

Und nun also Kreuzberg. Der Weg nach Moabit war ähnlich weit, der zur Uni sogar kürzer und überhaupt: Es war fantastisch. Als ich in die Christburger einzog, ging in der gesamten Strasse nur das Haus direkt gegenüber als saniert durch. Als ich nach einigen Jahren dort wieder vorbei schaute, gab es noch ganze zwei unsanierte Häuser. In Kreuzberg dagegen schien die Zeit mehr oder weniger stillzustehen seit den 80ern. Sicher, es war viel passiert – und es würde noch viel mehr passieren! – aber als wir hier ankamen, schien es sich nur sehr, sehr langsam zu verändern. Ausgehen, falls man das denn so nennen kann, fand jedenfalls noch lange überwiegend eher in Mitte, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg statt.

Allerdings hatte auch Madame langsam, aber sicher Gefallen an dem Bezirk gefunden; jenseits der Legenden und des stetigen Studentenzuflusses war es hier auch einfach sehr schön: Bunt, grün, zentral, Kanal. Und immer mehr Bekannte, die in der Gegend wohnten. Ein paar Häuser die O-Strasse rauf zum Beispiel zwei, die bald zu unseren engen Freunden zählen sollten, erstaunlicher- und erfreulicherweise beides geborene Westberliner und keine Studenten. Dafür aber in der Punk- und Skinkultur grossgeworden und dort noch tief verwurzelt. Wieder so viele neue Erfahrungen und Einblicke! Und ein Hund: Wie sich das für ordentliche Potse-Punks gehörte, hatten die beiden einen Hund. Besser gesagt eine Hündin, eine wunderbare. Und die sollte geplanterweise die Berliner Hundebevölkerung um weitere anarchistische Racker bereichern. Was ich wieder viel zu spät registrierte war, dass Madame auch hier schon längst was ins Auge gefasst hatte.

Lass uns doch einfach mal ganz unverbindlich die Welpen angucken gehen, meinte sie. Es bedurfte aber ehrlich gesagt auch keiner grossen Worte, mich davon zu überzeugen, diesem kleinen, braunen, erst ein paar Tage alten Fellknäuel zukünftig ein zu Hause zu bieten. Das sollte Madames neue Kreuzberger Wohnung werden: Knapp ein halbes Jahr nach unserer WG-Gründung, wieder war es Sommer, begab sie sich auf Wohnungssuche in 36 und 61, was damals noch gemütlich war, wenn man die heutigen Zustände betrachtet. Keine 15 Minuten entfernt fand gerade die letzte Loveparade des Jahrtausends statt und wir machten uns auf zur ersten Wohnungsbesichtigung, gleich um die Ecke lag der geographische Mittelpunkt Berlins. Zu dieser Zeit gingen wir noch davon aus, dass ich erst mal in der O-Strassen-WG bleiben würde, trotzdem suchten wir, gerade auch wegen der niedrigen Preise, grosszügig. So rutschte die eigentlich für eine Person zu grosse 3-Raum-Wohnung in die Auswahl: Vorderhaus, Ofenheizung, Balkon mit Blick auf die Hochbahn.

-Das Haus-

Die Vormieter, eine Kleinfamilie, wollten wegen des demnächst anstehenden Schulbeginns ihres Kindes dann doch in eine eher ruhigere Gegend ziehen. Sie hatten immerhin ordentlich selbst Hand angelegt: Küche und Bad sahen ganz passabel aus, erstere recht gross, letzteres in der üblichen Altbau-Schlauchform, aber zumindest gekachelt und mit vernünftiger Duschkabine. Die Öfen störten nicht weiter, kannten wir ja von vielen Bekannten – eigentlich waren wir damals eher die Aussenseiter: Studenten, die nicht mit Kohlen heizten. Dadurch, dass ich aber auch früher schon längere Zeit in der Wohnung des grossen Bruders in der Senefelder zubrachte, war ich mit Kohleöfenbefeuerung recht vertraut und versprach, dass ich ihr das gerne beibringen würde.

Als wir bei der Besichtigung dann schliesslich auf dem schönen grossen Balkon standen (von dem wir bei dieser Gelegenheit erfuhren, dass er eigentlich Loggia heisst), sahen wir direkt unter uns ein paar recht punkig daherkommende Nachbarn das Haus verlassen. Sie bekamen trotz des Strassenlärms mit, wie die Mitbewerber und wir uns über die Brüstung gebeugt laut unterhielten, und schauten zu uns nach oben, wobei sie freundlich grüssten, indem sie mit den Äxten winkten, die sie in den Händen hielten: „Willkommen, neue Nachbarn, wir gehen jetzt zur Loveparade!“ Das gefiel uns.

Nachdem die Besichtigung vorbei war, gingen wir Richtung U-Bahn, unten am Kanal lang. Sie sagte, sie müsse sich erst mal auf eine der Bänke setzen und durchatmen, zur Ruhe kommen. Sofort hätte sie sich in die Wohnung verknallt, sie müsste sie unbedingt haben. Das wunderte mich dann doch ein wenig: Sicher, wir waren in den gleichen Kreisen unterwegs, und sie war mir in manchen Belangen, nicht nur mit ihrer Bongsammlung, weit voraus. Trotzdem steckte ihre wohlbehütete westdeutsche Obere-Mittelschicht-Herkunft tief in ihr drin, wozu sie auch stand und was unsere Beziehung ab und an recht interessant machte. Deshalb überraschte es mich, dass ihr weder die über die letzten Jahre gesammelten und im Hausflur angeklebten Revolutionäre-Erste-Mai-Aufrufe noch die sonstigen, teilweise durchaus sehr ansprechenden Kunstwerke an den Hauswänden etwas ausmachten, ganz zu Schweigen von der Ofenheizung, der Sperrmüllsammlung im Hinterhof oder der aufgerissenen, notdürftig mit einer Hühnerleiterkonstruktion ersetzten Treppe im Vorderhaus. Das Haus hatte nämlich Schwamm, wie wir später erfuhren. Ach was, das Haus – der gesamte Block! Doch ganz im Gegenteil, es gefiel ihr sehr, gerade auch weil es von aussen daherkam wie eins der damals noch existierenden besetzten Häuser. Ich hatte noch viel über sie zu lernen, das begriff ich langsam.

Gut einen Monat später war es soweit. Madame hatte gegen die für damalige Verhältnisse riesige Anzahl von sieben Mitbewerbern den Zuschlag bekommen. Am Tag der Sonnenfinsternis war der Umzug, beides gute Anlässe für die Party danach. Auf den obligatorischen „Es könnte etwas lauter werden, ihr könnt gerne vorbei kommen“-Zettel hin fand sich – bis auf wenige Ausnahmen – die gesamte neue Nachbarschaft ein. Die nächste gute Überraschung, die das Haus barg, auch wenn sie uns zuerst ein wenig überforderte. Partys sollte es in den nächsten Jahren hier noch unzählige geben: Komplette Hauspartys, das jährliche Hoffest mit Livebands im Sommer, Silvester auf dem Dach, Grillpartys ebenda, und natürlich die obligatorischen Privatfeiern in den Wohnungen, geplante zu Geburtstagen oder ähnlichem wie auch spontane, weil plötzlich so viel Besuch auf einmal da war oder die ganzen guten Clubs und Kneipen schon geschlossen oder zu weit weg waren.

– Einleben –

Wir fühlten uns alle drei sehr wohl in der neuen Wohnung: der rasant wachsende kleine Hund, Madame und auch ich. So war es kein Wunder, dass die gemeinsame WG mit dem Friesen für mich nach und nach nur noch die Funktion einer Abstellkammer hatte. Das war auf die eine Art unschön, da unsere gemeinsame Zeit wohl vorbei war. Andererseits hatten Madame und ich in der Gitsch gut zusammen gefunden und auch so viele neue Leute kennen zu lernen – da lagen alte Kontakte durchaus mal eine Weile brach.

Der Balkon wurde bepflanzt, die Wände gestrichen und die Zimmer eingerichtet. Wir waren begeistert von dem professionell gezimmerten Podest im Schlafzimmer und genervt von den kindersicheren Steckdosen. Als Überraschungsgeschenk zur Einweihung besorgte ich zusammen mit dem Schweriner nach durchzechter Nacht noch eine spezielle Hängematte: Er wohnte noch im Prenzlauer Berg und dort sprossen auf nahezu jedem freien Stück Land Kinderspielplätze aus dem Boden, die oft mit sehr grossen und stabilen Kletternetzen ausgestattet waren. Eins davon hing dann – nachdem ich lange die dicken Holzbalken in der Decke gesucht habe – mitten in unserem Kreuzberger Wohnzimmer. Als nächstes galt es, die Nachbarschaft zu erkunden, ehrlich gesagt konnten wir nach der Party kaum einen Namen oder ein Gesicht zuordnen, es war einfach ein zu grosses Gewusel.

Der Nachbar direkt nebenan war mit allerlei Technik ausgestattet: Zum Musikschrauben, wie er es nannte. Sein Hauptberuf bestand aber darin, Haschplatten mit dem Zug in die westdeutsche Provinz zu schaffen. Manchmal, wenn er zu faul war, schickte er sie auch einfach per Post. Dank dieser Tätigkeit konnte er sich auch das ganze Equipment leisten, ein Apple-Fanboy der ersten Stunde. Wir lernten uns näher kennen und schätzen, als ich kurz nach Madames Einzug in seinem Studio – die guten alten Zeiten – von den auf VHS-Bändern gesammelten Simpsons-Episoden alle Itchy-und-Scratchy-Parts rausschneiden wollte.

Bevor wir uns an die Arbeit machten, musste er erst einmal auf Betriebstemperatur kommen: Die Rechner wurden hochgefahren und die schlichte, doch trotzdem imposante Glasbong gestopft. Aus falschem Stolz heraus lehnte ich sie nicht ab und nahm auch einen tiefen Zug. Madame berichtete mir später, dass sie etwas überrascht war, mich mitten am Tag im Tiefschlaf auf der Couch zu finden, auf die ich mich wohl noch irgendwie hinüber gestohlen hatte. Die beiden lachten sich über mich kaputt, als der Nachbar nach ein paar Stunden mit dem fertigen Zusammenschnitt bei ihr an der Tür klingelte. Immerhin hatte ich jetzt eine vorzügliche Haschquelle.

Direkt über uns wohnte der einzig normal scheinende Typ, er war circa zehn bis fünfzehn Jahre älter als wir und arbeitete seinem Äußeren nach auf dem Bau. Man bekam ihn selten zu Gesicht, die Tagesrhythmen waren doch sehr verschieden. Die Wohnung neben ihm stand leer. Im dritten Stock lebte eine Architektin, die eine Gasetagenheizung und häufig sehr lauten Sex hatte. In der anderen Wohnung auf dieser Etage befand sich die Drogenhölle.

Ich war nicht oft dort, letztendlich aber doch zu oft. Von hier bezog der Nachbar seine Platten, und meine paar Krümel bekam ich wohl fast zum Einkaufspreis von ihm. Die aus dem Dritten wollten mit solchem Kleinkram nichts zu schaffen haben, ihre Dimensionen waren, schon alleine wegen ihres Kokskonsums, ganz andere. Ab und zu verirrte man sich dann aber doch mal in die Ticker-WG: Wenn es mal etwas Besonderes und Seltenes zu verkosten gab, wenn eine Party gegeben wurde oder wenn man dem Notarzt mit dem Ersatzschlüssel die Tür öffnen musste, weil man einen panischen Anruf von oben bekommen hatte („Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen, da muss irgendein Scheiss drin gewesen sein…!“).

Meist waren es allerdings die Gäste, die Grauzone, die um diese Wohnung herumwaberte, die dringend ärztlicher oder psychologischer Hilfe bedurften. Mickey Mouse zum Beispiel. So stellte sie sich debil grinsend vor, als sie mal versehentlich bei uns, zwei Treppen zu tief, klingelte. Und so stand sie in der Tür, bis wir sie auf die Idee brachten, mal weiter zu suchen, wo sie hier doch falsch war. Ein paar Wochen später flog nachts um drei die komplette Kücheneinrichtung aus dem Fenster der Drogenhölle in den Innenhof. Erst der Inhalt des Kühlschranks, dann der Kühlschrank. Erst das Besteck, dann die Besteckschubladen und der klapprige Schrank. So ging das eine halbe Stunde: Wenn die zierliche, apathische Mickey Mouse Ärger mit ihrem Freund, einem der drei Höllenbewohner, hatte, wurde sie auf einmal sehr kräftig und agil.

Zusammen genommen waren das allesamt recht traurige und fahle Gestalten dort oben, sowohl die Kundschaft als auch die Bewohner. Trotzdem wuchsen sie uns mit der Zeit ans Herz, denn es waren eigentlich recht nette Zeitgenossen, keine Gangster-Dealer, eher welche von der Hippie-Fraktion. Deshalb war es auf eine Art auch schade, dass sie irgendwann ganz in ihre umgebauten alten Mercedesbusse und mit diesen dann gen Marokko zogen. Als sie ein paar Jahre später wieder auftauchten, zeigte ihre gesunde Gesichtsfarbe allerdings, dass das eine gute Entscheidung war.

Ganz oben, im Vierten, über der Drogenhölle, wohnten die – im Gegensatz zu unserem direkten Nachbarn – richtigen Musiker. Wie das in der Branche so üblich ist, gingen auch hier viele Leute ein und aus: Groupies, Freunde, Fans und Kollegen. Aus dieser Masse schälte sich dann ein Kern von vier, fünf Leuten, die, als die Drogenhölle frei wurde, auch in das Haus zogen. Die WG im Vierten bestand aber eigentlich nur aus zwei Typen: Das verpeilte Genie mit dem markanten Lachen und der Keyboard- und Synthiebastler. Wir kamen gut miteinander aus und hofften für die damals mehr oder weniger erfolglos, aber enthusiastisch aufspielenden Freaks, dass sie irgendwann den Erfolg haben würden, den sie dann Jahre später auch hatten. Mindestens. Neben ihnen wohnte eine weitere alleinstehende Frau, Künstlerin, die das halbe Jahr über in Goa oder auf Gomera oder sonst wo verbrachte. Sie war gut befreundet mit der Architektin aus dem Dritten, zu deren Schreiorgien sie auch gerne dazu stiess.

Abgesehen von uns im Vorderhaus gab es noch zwei Hinterhäuser – für uns hiessen sie Nummer eins und Nummer zwei, im Berliner Vermieterdeutsch aber wohl Quergebäude und Gartenhaus. Wie auch immer. Die allgemeine Pauschalisierung lautete: in Nummer eins wohnt die aktuelle Revolutionärsgeneration, in Nummer zwei die, die sich aufgrund der anstrengenden Kämpfe der 80er Jahre bereits in den Vorruhestand begeben hatte. Letztere bekam man auch seltener zu Gesicht – aus den Augen, aus dem Sinn – aber doch mindestens einmal im Jahr zum von ihnen ins Leben gerufenen und immer noch organisiertem Hoffest.

 In Nummer eins hatte, wie bereits angedeutet, der örtliche Antifavorstand in einer heruntergekommenen WG mit unüberschaubarem Mitgliederbestand seine Zelte aufgeschlagen. Wenn man die Leute aus Nummer zwei sehen wollte, ging man zum alljährlichen Hoffest. Bei denen aus Nummer eins brauchte man nur die Pressekonferenzen nach den 1.Mai- oder sonstigen obligatorischen Kreuzberger Demos anschauen und schon sah man sie auf dem Podium, da half auch kein Dreieckstuch vorm Gesicht, selbst mit der Sonnenbrille und dem Basecap waren die Nachbarn gut zu erkennen. Vor allem, da sie das Haus auch fast immer derart gekleidet verliessen.

Unter den Antifas wohnte die Säuferin, und zum Erstaunen aller lebt sie (dort) noch immer. Auch in ihrer Wohnung gab es ein reges Kommen und Gehen, zwangsläufig wechselte man ein paar Worte, wenn man sich im Hof beim Müll- oder Asche-Runtertragen begegnete. So lernten wir also auch die lokale Alkoholiker-Gang kennen, die sich meist vorne am U-Bahn-Kiosk draussen auf den Bänken traf und dort ihrem Tagesgeschäft nachging. Sie soffen so lange es ging unter freiem Himmel und immer in einer großen Gruppe.

Irgendwann wurde offensichtlich, dass der Typ, der gleichzeitig in zwei Richtungen schaute, und das fast immer mit einem irren Blick, wohl mehr mit der Säuferin teilte als nur den Klaren. Dummerweise gehörte auch bei diesen Alkoholikern Gewalt zum Habitus, die Säuferin schwankte jetzt öfters mit einem blauen Auge durch den Hof. Wir schauten uns das eine Weile mit an, befragten sie in ihren seltenen lichten Momenten und als es einmal im Flur kräftig krachte – er schlug wohl erst sie, und dann vor lauter Wut die Glasscheibe der Hoftür aus dem Rahmen – sprinteten wir runter und machten ihm klar, dass er mit dieser Attitüde hier nichts mehr zu suchen hat.

Anschliessend nahmen wir sie erst mal mit nach oben, setzten einen Kaffee auf und unterhielten uns eine Weile mit ihr. Dabei stellte sich heraus, was sie uns mehrfach wortreich bestätigte: Ihr ist sowieso nicht mehr zu helfen. Sie war vor Jahren zum Kunstgeschichtsstudium nach Berlin gekommen und eben leider in falscher Gesellschaft gelandet. Bei ihr war es halt der Teufel Alkohol, von dem sie nicht loskam, ebenso wenig wie von den falschen Typen. Ihre Saufkumpane begaben sich auch gerne mal in die Wattewelt, die Schore einem so vorgaukelt. Therapien hatte sie einige erfolgreich abgebrochen. Nach zwei Stunden aufwärmen und Kaffeetrinken liess sie sich immerhin darauf ein, uns wirklich Bescheid zu geben, wenn es brenzlig werden würde. Erschüttert und irgendwie hilflos mit der Einsicht in die Ausweglosigkeit des Säuferdaseins liessen wir sie wieder gehen.

Last but not least gab es dann noch den sympathisch durchgeknallten Polen und seine Freundin, die in Nummer eins unter dem Dach wohnten: Er war einer von den Axtträgern, die uns schon bei der ersten Wohnungsbesichtigung positiv auffielen, und sie waren vom Äußeren her vielleicht Punks – die polnischen Punks waren damals in Berlin eine nicht zu unterschätzende Gruppe – aber musikalisch eher in der Elektroecke unterwegs. Das betrieben sie auch aktiv irgendwo im RAW-Tempel-Umfeld im Friedrichshain. In unserem Haus bauten sie sich irgendwann die ehemaligen Kugellager-Lagerräume aus und versuchten, mit einem Verein die Kids aus der Nachbarschaft von der Strasse und vor die Drumcomputer zu bekommen. Meistens war deren Terminkalender aber schon mit Drogen nehmen und verkaufen, Leute in der U-Bahn abziehen und im Familienunternehmen aushelfen ausgebucht.

Eines der denkwürdigsten Ereignisse in der Hausgeschichte hat aber unmittelbar mit der Wohnung der Polenpunks zu tun:

Eines Tages wachte er mal wieder nach einer langen Partynacht auf, vielleicht war sein Hund schuld – den hatte ich ja noch gar nicht erwähnt, ein sehr netter Schäferhundmischling namens Albert, soweit ich mich erinnere, der für unseren Nachwuchs gern mal den grossen Bruder spielte. Jedenfalls tropfte etwas auf seinen Arm. Nun war das Haus wie gesagt ziemlich runtergekommen und genau in der Ecke direkt unter dem Dach ergoss sich bei kräftigem Regen sowieso immer veritabler Wasserfall in den Innenhof. Es hätte also auch einfach Regenwasser sein können. War es aber nicht. Das merkte er spätestens, als die Stelle, auf die die Tropfen gefallen waren, sich rot verfärbte und heftig anfing zu jucken. Er rief sofort Hausverwaltung, Arzt und schliesslich auch die Feuerwehr an.

Als ich an diesem Tag nach Hause wollte, war an der Strassenecke erst mal Schluss. Ich muss  mit der U7 gekommen sein, sonst wäre es mir schon vorher aufgefallen: die U1 fuhr nämlich schon längst nicht mehr. Erst als ich dem Polizisten hinter dem Flatterband meinen Ausweis zeigte und schon allein wegen dem Hund, der alleine in der Wohnung war, unbedingt darauf bestand, noch mal ins Haus zu gehen, sagte der nur kurz „Na gut, aber schnell“ und schien wirklich besorgt dabei. Ich durfte den Spruch noch an drei weiteren Sperren aufsagen, bevor ich schliesslich vor unserer Tür stand. Dort war mit Kreide ein weisses Kreuz draufgemalt, dazu noch das Wort „Hund“ mit Ausrufezeichen.

Ich packte den Hund und ein paar willkürlich für wichtig erachtete Unterlagen und ging in die Eckkneipe, die es damals noch gab. Vorher gab ich noch Madame bescheid, die auch arbeiten war und bei der es wie immer (Kino!) spät werden würde. Wie sich herausstellte, war die komplette Hausgemeinschaft erst mal für einen Schnaps auf den Schreck bei Charly gelandet, selbst der Bauarbeiter. Der erzählte uns an diesem Abend, der noch sehr lang werden sollte, einige interessante alte Geschichten aus dem Haus – er war hier in den 80ern eingezogen, es war seine erste Wohnung.

Zu dieser Zeit gab es gerade in dieser speziellen Ecke von Kreuzberg wohl ein paar komische Nazi-Gestalten. Und wie es der Zufall so wollte, legten die ihr Waffenlager auf unserem Dachboden an: Granaten, Schwarzpulver aus Weltkriegsmunition, Batteriesäure oder ähnliches, was dem polnischen Punk schliesslich auf die Arme tropfte.

Irgendwann durfte die U-Bahn dann wieder fahren, das Sprengstoffräumkommando machte seinen Job und kurz nach Mitternacht konnten wir endlich nach Hause. Die Wohnung der Polen wurde notdürftig saniert, die Hausverwaltung machte nie mehr als sie musste, aber sie nervte halt auch nicht: Das Glück einer seit Jahrzehnten zerstrittenen Erbengemeinschaft. Die beiden Polen suchten sich was im Friedrichshain und standen bei der alljährlichen Gemüseschlacht auf der Warschauer Brücke jetzt eben auf der anderen Seite. Die Friedrichshainer konnten die Verstärkung gut gebrauchen.

Wallraff zum Wochenende

Günter Wallraff ist ein tragischer Held. Nicht als Hauptfigur seiner Bücher, sondern in dem, was reales Leben genannt wird. Stellt man sich die Frage, ob es seit Kriegsende einen Journalisten in Deutschland gegeben hat, der mehr bewirkte als er, kommt man ins Grübeln. Stellt man sich die Frage, ob Günter Wallraff ein Journalist ist, ebenfalls.

Mit seinen Reportagen von den Rändern der bundesdeutschen Gesellschaft schrieb er Geschichte, keine Frage. Immerhin – und dieser Umstand wird beim Thema Wallraff mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stets zur Sprache gebracht – wurde in Schweden ihm und seinem Arbeitsstil zu Ehren ein neues Wort kreiert: wallraffa.

Im Wikipedia-Artikel zu seiner Person wird einem nochmal klar, was diesem Mann alles zu verdanken ist: Aufdeckung bzw. Aufklärung über Portugal- und Griechenlandfaschistenputsche, das Elend des Industriearbeiters, speziell des zugewanderten, und das Böse in persona – die Bild-Zeitung und der Springer-Konzern. So kann man Wallraff ohne Bedenken in eine Traditionslinie mit Kisch und Lania stellen. Hat der Mann eigentlich ein Bundesverdienstkreuz? Nein? Aber die hier alle schon?

Allerdings findet sich bei Wikipedia auch die dunkle, tragische Seite des Günter Wallraff dokumentiert: Skandale und Skandälchen, von Vorwürfen zum Thema Sozialbetrug über Urheberrechtsstreitigkeiten, Ghostwriter, Stasi bis zum Anti-Islamismus. Nicht zu vergessen das Blackfacing – mit „Schwarz auf Weiß“ bewies Wallraff, dass er längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit war, was die aktuellen intellektuellen Diskurse betraf. (OT: Ich habe gerade vor kurzem erst gelernt, dass die populäre Sitcom „The Big Bang Theory“ nichts als „Nerd-Blackface“ sei – bis jemand kommt und auf reddit verkündet, dass mit dieser unbeholfenen Analogie das Blackfacing relativiert würde).

Wallraff kann, rein biologisch bedingt, nicht mehr das machen, was er vor Jahrzehnten tat: abtauchen, undercover recherchieren, sich als Mittdreissiger ausgeben, der beim Stahlkocher im Pott die Knochenarbeit macht. Sein letzter großer Wurf könnte eine Reportage über die Missstände in Altersheimen werden, dieses Thema drängt sich auf so vielen Ebenen geradezu auf.

Stattdessen hat Günther Wallraff letzte Woche scheinbar der dpa ein Interview gegeben. Von wem die Initiative dazu ausging, ist nicht klar, auch das Interview selbst habe ich bisher nirgends gefunden. Allerdings wurde die Hauptaussage in mehreren Medien zitiert, und das war wohl auch der einzige Sinn und Zweck der Aktion (neben dem Umstand, dass Wallraff mal wieder in der medialen Öffentlichkeit auftaucht): Im Koalitionsvertrag, egal ob es den geben wird und wer ihn schliesst, muss laut Wallraff festgeschrieben werden, dass Edward Snowden in Deutschland politsches Asyl zu gewähren sei.

Warum? Also nicht, warum Snowden Zuflucht in der Bundesrepublik geboten werden soll, sondern: Warum kommt Günther Wallraff jetzt mit dieser Wortmeldung? Es ist richtig und nötig, auf die Brisanz des Themas hinzuweisen, es weiter am Köcheln zu halten, so schwer das auch sein mag. Wie schwer es ist, kann man daran erkennen, dass Wallraffs Forderung kaum Widerhall gefunden hat. Doch auch die schon angesprochene Gestrigkeit der Autorenlegende zeigt sich hier: Mit dem festen sozialliberalen Moral-Kompass der 70er-Jahre-Bundesrepublik ausgestattet mal einfach eine naive Bedingung für den Koalitionsvertrag aufstellen. Mit dem Namen wird man dann wenigstens kurz in der Presse zitiert, auch wenn es viele besser geeignete und informiertere Experten zum Thema gibt.

Die zum Beispiel wissen, dass man Edward Snowden dringend davon abraten müsste, in Deutschland Asyl zu beantragen. Selbst wenn es ihm – von mir aus auch per Koalitionsvertrag – zugesichert werden würde [Süddeutsche-Interview mit Prof. Joseph Foschepoth]:

Der NSA-Whistleblower Edward Snowden hat unter anderem in Deutschland um Asyl gebeten. Manche Politiker wollen ihn gerne als Zeugen vorladen. Wäre Snowden gut beraten, in die Bundesrepublik zu kommen?

Auf keinen Fall. Aufgrund des Zusatzvertrags zum Truppenstatut und einer weiteren geheimen Vereinbarung von 1955 hat die Bundesregierung den alliierten Mächten sogar den Eingriff in das System der Strafverfolgung gestattet. Wenn eine relevante Information im Rahmen eines Strafverfahrens an die Öffentlichkeit gelangen könnte, heißt es in Artikel 38, „so holt das Gericht oder die Behörde vorher die schriftliche Einwilligung der zuständigen Behörde dazu ein, dass das Amtsgeheimnis oder die Information preisgegeben werden darf“. Gemäß der geheimen Vereinbarung wurde sogar der Strafverfolgungszwang der westdeutschen Polizei bei Personen aufgehoben, die für den amerikanischen Geheimdienst von Interesse waren. Stattdessen musste die Polizei den Verfassungsschutz und dieser umgehend den amerikanischen Geheimdienst informieren. Dann hatten die Amerikaner mindestens 21 Tage lang Zeit, die betreffende Person zu verhören und gegebenenfalls außer Landes zu schaffen. Was nicht selten geschah. Im Übrigen hat natürlich die Bundesregierung keinerlei Interesse, sich auf einen neuen Kalten Krieg, dieses Mal mit den Vereinigten Staaten, einzulassen.

Was also bleibt übrig von Wallraffs Forderung? Hat er nicht genügend recherchiert, bevor er den Mund aufgemacht hat? Oder wurde auch hier die Wahrheit wieder nur verkürzt per dpa-Schnipsel wiedergegeben? Leider ergibt sich daraus auch, dass die eigentlichen Probleme – Geheimverträge etc. – gar nicht erst thematisiert werden. Der Wallraff hat da ja schon so was schön griffiges zu gesagt.

PS. Da heute schon wieder Wochenende ist, gibt es als Bonus-Track einen Text, den ich vor über zehn Jahren (2002) schrieb. Er kam mir durch das Thema wieder in den Sinn, ich kramte ihn hervor und stell ihn jetzt hier rein, kommentarlos, roh und ungeschliffen, wie ich ihn fand:

Die letzte Fahrt des Hans Esser

„Ich möchte mich nicht in Köpfen befinden, zusammen mit Gedanken, die unter Einfluss vom Axel-Springer-Verlag enstanden!“     Jan Delay

( Eine fiktive Annäherung)

Es war sowieso alles egal. Sein ganzes Leben. Sollen sie doch kommen, die Wellen. Alle Tsunamis dieser Welt konnten ihm nichts mehr anhaben. Zerstört hatten ihn ganz andere Sachen, sehr viel früher.

Dieser alte graue Mann befand sich auf seiner letzten Tour. Er wusste es irgendwie, doch nicht bewusst. Berühmt war er, berüchtigt und streitbar. In seinem Haus in Köln steht eine Tischtennisplatte, die mehr erzählen könnte als der Teppich vor dem Schloss Bellevue.

Damals hatte er an dieser Tischtennisplatte Wolf Biermann so was von in den Boden gespielt. Der wohnte nach seiner Ausbürgerung kurzzeitig hier und die Welt schien so klein, dass man sie in einem Tag erobern könnte. Sie wollten es jeden Tag auf`s neue probieren, aber irgendwie blieben sie immer an der Tischtennisplatte oder einem neuen Buch oder einer Marihuana-Zigarette hängen. Härtere Drogen nahmen sie nicht. Nicht wegen irgendeiner Moral, sondern aus Protest. Kurz zuvor hatten sie die verschriftlichten  Rauschberichte von Ernst Jünger gelesen, und mit diesem Kriegsverherrlicher wollten sie nun gar nichts gemein haben.

Aber nicht nur Wolf Biermann bespielte diese Tischtennisplatte, auch Salman Rushdie und andere wirklich bedeutende Menschen des letzten Jahrhunderts.

Doch Köln war wirklich weit, weit weg. Der alte Mann befand sich mitten auf dem Mittelmeer. Er war oft hier. Nicht genau an diesen Koordinaten, genau genommen wusste er überhaupt nicht, wo er war. Das Mittelmeer brachte ihm immer irgendwie eine Art Entspannung. In Deutschland war er schließlich ein bunter Hund. Die Menschen erkannten ihn, obwohl er dadurch berühmt wurde, sich zu tarnen und zu verkleiden. Er war die letzte Ikone der Sechziger Jahre, die noch nicht in der Regierung saß.

 Wenn heute in Berliner Parlamenten über die Integration von so genannten türkischstämmigen Jugendlichen debattiert wird, dann kann er nur müde lächeln. Das konnte er schon immer gut. Müde, wissend und bedauernd lächeln. Man hat ihn noch nie lauthals lachen sehen. Der „Journalist“ Tiedje behauptet sogar, dass der alte Mann nicht lachen könne, zumindest aber dafür in den Keller gehe.

Dabei war er es doch, der die umgekehrte Integration an sich selbst testweise vollzog. Und dies dann journalistisch dokumentierte, dass dem deutschen Volk (gemeint ist natürlich, historisch korrekt, das westdeutsche Volk) hören und sehen vergingen. Denn er führte ihnen vor, dass sie wegsahen und weghörten, wenn es um ihre ausländischen Mitbürger ging. Dieser arme Türke Ali, der rackte und schaffte und seinen Körper verkaufte, er wurde ausgebeutet. Bei ihm schien der alte Marx doch recht gehabt zu haben. Wie schlimm und unmenschlich doch selbst die soziale Marktwirtschaft sein konnte!

Dann kam ein tiefes Loch voller stürmischer Begeisterung für ihn, der ein neues Genre im deutschen Journalismus geschaffen hat. Er war schon immer Extremsportler. Da ist dieser junge Spund von dem irischen Hausboot-Familienclan gar nichts gegen. Er kletterte aus dem tiefen Loch locker heraus, und das was danach kam, war zu vergleichen mit der anschließenden Besteigung des Mount Everest. Schließlich war er es, der alte Mann, der sich mit der mächtigsten Kraft anlegte, die es damals gab. Gegen wen richteten sich denn die Studentenproteste der sechziger Jahre? Wer wurde für den Mordanschlag auf seinen alten Freund, den größten Studentenführer den Deutschland je hatte, verantwortlich gemacht? Und war es auch? Genau! Und er wagte sich damals in die Höhle des Löwen. Es war Krieg in Deutschland, so kalt, dass es heißer nicht ging. Und er stieg direkt hinab in die Hölle. Natürlich hatte jeder einen gewissen inneren Groll gegen diese gigantische Meinungsmachereimaschinerie, aber er war es, der die Beweise lieferte. Er war Teil des Systems. Einer, der vorgab sich in das Borg-Bewusstsein zu integrieren, aber eigentlich ein verdeckter Ermittler in eigener Sache war. Und danach wieder – Begeisterung, Bewunderung, Erstaunen und eine Prozesslawine. „Viel Feind, viel Ehr“ – er konnte sich nie für die militaristischen Parolen seiner Elterngeneration erwärmen, aber hier stimmte es.

Doch das Loch was sich dann auftat, war zu tief, um wieder herauszukommen. Es passierte zu viel, und leider war er nicht am Geschehen beteiligt. Sein Land veränderte sich. Doch er wollte sich nicht verändern. Er hat den Absprung verpasst. Alle anderen Intellektuellen aus seiner Generation standen auf der Jublerliste für die SPD, waren tot oder im Untergrund. Die „Antje-das-Walross-Lookalikes-Gang“, die er mal zusammen mit Wolf Biermann und Günther Grass gebildet hatte, war auseinandergebrochen. Von ihm wurde erwartet, so weiter zu machen wie bisher. Er hatte sich in irgendeinen verdeckten Job hineinzubegeben, abzutauchen und ein halbes Jahr später wieder mit sensationellen Meldungen aufzutauchen. Sowohl seine Freunde als auch sein Verlag und Stefan Aust, der für den Spiegel die Vorabdrucksrechte gesichert hatte, erwarteten das von ihm. Doch er wollte und konnte nicht mehr. Er spielte Tischtennis und fuhr Kajak.

Der Wassersport entwickelte sich immer mehr zu einer Leidenschaft. Sein letztes Experiment scheiterte. Er wollte er selbst sein. Doch in seinem täglichen Leben stellten sich immer wieder die detektivischen Momente ein. Er beobachtete sich selbst und versuchte, die passenden Formulierungen für sein Handeln zu finden. Nicht zu drastisch, aber auch nicht zu harmlos. Doch dann bemerkte er, dass sich wohl keiner dafür interessieren würde, wie seine Tochter morgens ihr Müsli zubereitete. Das Projekt „Leben als Günther W.“ war gescheitert.

Er fing an, noch mehr Sport zu treiben. Und, was viel schlimmer war, Steine zu sammeln. Sein ganzes Haus war vollgestapelt damit. Seine Frau hasste ihn dafür. Von überall her brachte er sie mit. Egal ob klein wie ein Stecknadelkopf oder groß wie ein Wagenrad, er musste sie haben. Er hatte von seinen Eltern ein Haus in Köln geerbt und durch Honorare und weitere Erbschaften genug Geld, um weitere Häuser zu kaufen. Eine Ruine erstand durch seine Hand zu neuem Leben, um eine Steinsammlung zu beherbergen. „NaturSkulpturen“ – das war seine neue Berufung. Er verehrte Hans Arp, doch dachte er, dass er mit seinen Steinen den alten Meister übertreffen, ja vollenden würde. Schließlich ist diese Kunst Jahrmillionen alt, von der Natur, der Schöpferin, selbst modelliert.

Der alte Mann bekam vor zwei Wochen zwei Anrufe kurz hintereinander. Der erste Anruf kam aus einer französischen Kneipe. Man hörte im Hintergrund das Gemurmel alter Fischer und das des Meeres. Die Stimme am anderen Ende der Leitung schien mehr als dubios, und außerdem nicht mehr ganz nüchtern. Es war ein scheinbar etwas verwirrter Mann, der ihm mal so nebenbei vom perfekten Stein erzählte. Der alte Mann wusste schon lange, dass es den perfekten Stein geben musste. Und sein Gefühl sagte ihm auch stets, dass er irgendwo im Mittelmeer liegen würde. Nicht umsonst zog es ihn seit Jahren hierher. Die weintrunkene Stimme am anderen Ende beschrieb im schweren, fischertypischen Proletenfranzösisch eine Insel, nur beschwerlich vom Festland zu erreichen, an deren Strand der Stein liegen sollte. Dann wurde das Gespräch unterbrochen.

Der zweite Anruf war von seinem alten Freund Rüdiger. Der gelernte Bäcker aus Hamburg ist durch waghalsige Aktionen berühmt geworden. Rüdiger fragte, ob der alte Mann gewillt sei, ein wenig Geld zu verdienen. Ein Fernsehsender plane eine Serie, in der „normale Menschen“ vier Wochen lang unerkannt durch Deutschland reisen sollten. Rüdiger, Survival-Spezialist von Südamerikanischen-Indianer-Götter-Gnaden, hatte den Vertrag schon unterschrieben. Er sollte den „Kandidaten“ das Überleben in der mitteleuropäischen Wildnis inklusive Verzehr heimischer Insekten beibringen. Und den alten Mann wollten sie für das unerkannte Überleben in der Großstadt haben. Von der RAF wollte keiner mitmachen, deswegen sind sie auf ihn gekommen.

Der alte Mann packte seine Sachen zusammen und flüchtete ans Mittelmeer. Er schnappte sich sein Kajak und paddelte auf`s Meer hinaus. Er wusste, dass er sterben würde, aber er wusste auch, dass er den Stein sehen würde. Und er wollte lieber den Stein sehen und sterben, als auch nur einen Fuß auf vermeintlich journalistisches Gebiet setzten, das auch nur irgendwie nach Endemol roch.

Als die große Welle gegen den Bug seines Bootes schlug, verwandelte er sich ein letztes Mal. Er wurde wieder zu dem egoistischen, energiegeladenen und menschenverachtendem Arschloch Hans Esser, der alles tat, um weiter zu kommen. Doch diesmal half es nichts.