Zitat No. 1

Wie angekündigt, nun das erste Zitat. Als Einstieg nichts von dem grossen Bücherstapel, sondern aus der aktuellen Klolektüre (generell ein unterschätztes Literaturgenre):

…doch glaube ich, unter anderem einen hoffentlich verzeihlichen Hang zur hoffentlich nicht allzu platten Gesellschaftskritik entwickelt zu haben, wobei ich Gesellschaftskritik nie mit System- oder Regierungskritik verwechseln wollte, denn Gesellschaftskritik, die das Grölen von Fußballfans in Bahnhöfen ganz unerwähnt läßt, ist keine.

Max Goldt: Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Vorredner, Majestäten, Exzellenzen, Freunde und Präsidenten, Fremde und Magnifizenzen! (Rede zur Verleihung des Kleist-Preises, 23.11.08, Titanic 1/09)

Wunschtraum

22.08.04

 

Manchmal würde ich gern ein Buch darüber schreiben,
wie es ist, ein Schriftsteller zu sein.
Oder wenigstens ein Gedicht.

Wie es ist, früh aufzustehen und
um zwölf schon drei Seiten
geschrieben zu haben.

Die werden dann am Nachmittag
verworfen.
So richtig als zusammengeknülltes Blatt
in den Papierkorb.
Und die Schreibmaschine wird neu bespannt.

Wenn mir die Inspiration fehlt,
gehe ich eine Runde
mit dem Hund spazieren
und atme frische Luft.

Abends werde ich der Frau
die mich liebt,
ohne Scheu und Scham
vorlesen, was vom Tage übrigblieb.

Nun bin ich allein.
Habe weder Frau noch Hund
noch Schreibmaschine
und sitze den ganzen Tag nur so rum.

Wenn, dann wird es wohl Wedding werden

Gemerkt, dass man nicht alles haben kann: lesen, schreiben und leben. Jedenfalls nicht, wenn noch täglich acht Stunden mit geregelter Tätigkeit verbracht werden, die zwingend frühaufstehen voraussetzt und anderthalb Stunden bahnfahren als Dreingabe bietet. Deswegen zieht das Lesen den Kürzeren, es reicht gerade mal, um morgens kurz den feedreader zu durchforsten und alles Interessante in die Lesezeichenliste zu packen. Sonntagmorgen fragt der Browser dann, ob ich wirklich 76 Tabs öffnen will. Ja, habe ich denn eine Wahl?!

***

Angesichts der morgendlichen Massen in der U7 war ich kurz davor, wieder mit den längeren Podcasts anzufangen, da ich nun wirklich nicht im Stehen und von allen Seiten bedrängt lesen mag. Doch dann probierte ich als Alternative die Ringbahn aus, und dort gibt es, entgegen dem schlechten Ruf der S-Bahn, immer einen Sitzplatz für mich. So konnte ich mit Kischs „Marktplatz der Sensationen“ anfangen, Aufbau Verlag, 1981 – damals 3,80 Mark (der DDR), letzte Woche blind für einen Euro gekauft. Läuft das schon unter Wertsteigerung?

Jedenfalls: Blind gekauft, wie gesagt, ich vermutete eine Sammlung bunt zusammengewürfelter Reportagen, doch eigentlich ist es eine Art loser Selbst- und Weltbeschreibung. Erinnert mich in Vielem an Zweigs „Erinnerungen eines Europäers“, das ich vor knapp einem Jahr las.

Was mir bei beiden Büchern durch den Kopf ging – und in ihrem Vergleich, ihrem Zusammenspiel noch mehr auffällt: Dass wir heute die deutschsprachige Literatur (und, gottbewahre, gar die deutschsprachige Kultur) jenseits der Landesgrenzen so gut wie komplett ausgeblendet haben. Wie Zweig das k.u.k.-Wien beschreibt, komplementär dazu Kischs k.u.k.-Prag, da bekommt man eine leichte Ahnung davon, wie vielfältig und reich die deutschsprachige Literatur mal war. Was wissen wir heute über die österreichische oder gar schweizerische Kulturszene? Eigentlich gilt nur noch Berlin – als Gegenstimme aus den Provinzen gibt es ein paar Krimis, das war es dann aber auch. Ansonsten: Frankfurt bzw. Leipzig, wenn mal wieder Messe ist (und ich mich, zumindest bei letzterer, wieder ärgere, dass ich es nicht dorthin schaffe. Aber immerhin hatte ich gestern Abend eine Messebesucherin im U-Bahn-Waggon, die in ihrem lautstark geführten Telefonat eine kostenlose lebensnahe Schilderung für alle Passagiere feilbot.)

***

Apropos Berlin: Ich meinte zu dem wankelmütigen, liebenswerten Hauptmieter-Mitbewohner, dass er sich doch mal entscheiden soll. Ich fürchte, er entscheidet sich für das Geld. Dann geht es wohl entweder in den Wedding, wo ich in letzter Zeit eh‘ relativ oft Bier trinken gehe, oder ganz weit weg. Ich wage nicht zu hoffen, in Kreuzberg bleiben zu können.

***

Einer der Höhepunkte dieser Woche: Meine Lieblingsfigur aus Breaking Bad (was ich, wie ich inzwischen festgestellt habe, viel zu schnell hintereinander schaute) – Mike Ehrmantraut – bekam beim Spin-off Better call Saul eine Episode nur für sich & seine Hintergrundgeschichte. Und mit dieser einen Folge hat er meiner bescheidenen Meinung nach alles an die Wand gespielt, was bisher aus dem BB-Universum zu uns vordrang.

Überbleibsel

Es ist ja so: Fängt ein Text mit „Es ist ja so“ an, dann erwartet man erst mal eine Ansage, etwas Konkretes. Tja.

Und ganz ähnlich ist das mit dem neuen Jahr und den ganzen Vorhaben, die man vor hat: Erst mal den Kater auskurieren, ausschlafen, halbwegs wieder in den Alltag zurückfinden, der genau der ist, den man dachte, mit dem vergangenen Jahr hinter sich gelassen zu haben. Tja.

Eigentlich schleppt man Jahr um Jahr mehr Ballast mit sich rum, und deshalb wird es Zeit, einiges davon loszuwerden. Neuer Ansatz, zwei Fliegen/eine Klappe: Eine Linkliste, willkürlich kombiniert mit den Analogfoto-Überbleibseln des letzten Jahres. Der Film war schon so lange im Apparat, dass sogar noch ein Gruß von der Hamburger Dachterasse drauf ist. Dabei ist diese Reise schon länger her, als noch Zeit vergeht bis zur nächsten, wenn alles klappt. Egal, Katzencontent:

Katzenstatue sitzend, ihr wurde ein Hut aufgesetzt

Beginnen wir mal ausnahmsweise am Anfang: Dort standen bei vielen westdeutsch sozialisierten Menschen oft drei Fragezeichen. Also: Die drei Fragezeichen. Sowas gab es bei uns im Osten natürlich nicht, da gab es nur Ausrufezeichen. Und im Satz, den sie beendeten, stand meist irgendwas von Sozialismus und Sieg und Solidarität. Trotzdem würde ich, hätte ich Kinder, wohl die gleiche Wahl treffen, die bei Perspektiefe mit all ihren Fährnissen anschaulich geschildert wird (& was für ein schöner Titel!). Vor allem, wenn ich so höre, was die Kinder in meinem Umfeld so hören. Meist geht es um reiche Mädchen und Pferde. Immerhin kann einer der Kleinen noch den halben Tag (wortwörtlich) total begeistert mit dem Mobiltelefon rumlaufen und die Egon-Olsen-Titelmelodie kreischend mitbrüllen.

Auf Die drei Fragezeichen stiess ich viel später und aus zweiter Hand, sozusagen: Diejenigen, die damit gross wurden, frönten ihrer Begeisterung für die Kinderhörspielkassetten ja grade auch als Studenten ausgiebig. Das machte sich eine Theatertruppe aus Wuppertal zunutze und füllte die Hallen quer durch die Republik. Selbst mit fehlendem Hintergrundwissen und der falschen Sozialisation war das stellenweise ganz unterhaltsam. Doch auch – wo wir schon mal beim Thema sind – aus ganz anderen, noch seltsameren Jugenderinnerungen mit zweifelhaftem kulturellen Background lässt sich ein krudes Theaterprojekt machen: Katholische Sexualaufklärung aus den Siebzigern? Warum nicht, ab auf die Bühne! Dorthin gehört auch Gregor Keuschnigs Schmierenkomödie Zapfenstreich, die es bisher nur in Textform gibt.

Weisse Wände, in einer Ecke hängt unter der Decke eine Maske, im Vordergrund ist ein Rehgeweihzack zu erkennen, darunter ein Aufkleber "Old Europe"

Ein harter Schnitt, da müssen wir jetzt durch: Bei den Nachdenkseiten wurde heute eine Leserin mit der Anmerkung zitiert: Der Wahlkampf 2017 wird eine Braune Schlacht. Mir graut es jetzt schon! Stimmt wohl, aber wer braucht eigentlich die AfD und Pegida, wenn Seehofer schon vor 3 Jahren „bis zur letzten Patrone“ gegen „Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme“ kämpfen wollte? Zauberlehrling usw.

Zur tagesaktuellen Situation enthalte ich mich, alles viel zu unklar, auch und vor allem in meinem Kopf, nur eins noch: Das Zusammentreffen unschöner Ereignisse kann zu einem unerwarteten Ausgang führen, sprich: Die Gunst der Stunde, oder der böse Zwilling von Kairos sprechen gerade vielleicht für die Islamhasser. Vielleicht aber auch im Gegenteil – ich bin nur etwas skeptisch, weil ich kürzlich die arte-Doku über Ishiwara Kanji gesehen habe: Eine von der Mehrheit nicht gewollte Militäroperation nationalistisch-konservativer Offiziere glückt dummerweise und macht aus der liberalen, modernen Demokratie der 20er Jahre einen von Nationalismus besoffenen Hitlerverbündeten. Platt ausgedrückt, aber so schnell kann es gehen.

Natürlich reicht es zur Erklärung aktuellen Geschehens nicht aus, nur in alte Bücher zu schauen. Aber es gibt da durchaus interessante, hochaktuelle Stellen, bei Foucault zum Beispiel, wie auf haftgrund zu lesen ist. Gemischt mit einigen der unzähligen Alltagsberichte – Keiner kommt hier lebend raus, ohne Zweifel – führt das unweigerlich zu gezielter Ignoranz. Manchmal reicht es aber auch schon, sich nur eine Statistik mal ganz genau durch den Kopf gehen zu lassen. Oder ein Taufregister zu lesen, das inzwischen wahrscheinlich schon jeder kennt, aber es passt so gut zu den nächsten beiden Bildern:

Graffiti-Schriftzug an einer Hauswand: Ein Kiez wehrt sich

Brandmauer eines Wohnhauses, mit großen Schriftzügen plakatiert zu Mieterhöhungen und Modernisierung

Berlin also, und die alten, leidigen Berlin-Probleme. Da es hier überraschend ruhig ist (die für spätestens zum 31.12. erwartete Modernisierungsankündigung lässt erstaunlicherweise noch auf sich warten. Wir reiben uns die Hände, nicht nur, weil die Kohlen langsam knapp werden…), ein paar nützliche Hinweise zum Berliner Winter von katjaberlin. Eine der blödesten Sachen am Winter in Berlin ist der November. Grübeln, Gedanken nachhängen, noch mehr Gedanken nachhängen und fotografieren. So ähnlich ging es mir auch, nur schaffte ich es selten bis an die Tastatur. Dann kam der Dezember und mit ihm, wenn man weihnachtsbedingt in die Heimat der Kindheit und Jugend fährt wie Thorge, auch die Erinnerungen. Auf melancholie modeste sind es die an den sonntäglichen Esstisch der Großeltern – und was dieser (nicht) mit Neukölln zu tun hat. Apropos Essen:

Street Art paste up eines kleinen Mädchens, das kniend eine Meise füttert, an einer Hauswand direkt neben einem Restauranteingang

Gleich nebenan – aufgenommen wurde dieses Bild im Herzen von SO36 – befindet sich ein Imbiss namens Curry 61. Während das aus Funk&Fernsehen bekannte Curry 36 im tiefsten Kreuzberg 61 liegt. Muss man nicht verstehen, dieses Berlin (es hat wohl mit der Hausnummer zu tun, aber psst!). Genausowenig wie die immer noch existierende Schlange vor dem Gemüsekebap. Doch ich schweife ab, eigentlich sollte es jetzt um schöne & gute Texte gehen.

Erstmal die Theorie: In der NZZ schreibt Matthias Politycki darüber, was ihn zum Schreiben brachte. Aléa Torik setzt sich mit der zweifelhaften Notwendigkeit von Handlung auseinander und Jutta Reichelt mit der Leserperspektive. Ganz ähnlich, nur etwas weiter gesteigert (Lesen vor Publikum), in der angenehmen Reihe „Vielleicht später“ vom Suhrkamp-Blog: Bad Segeberg von Detlef Kuhlbrodt. Zum Schluss, aber immerhin, sei noch auf die Lyrik-Betrachtungen bei kleinedrei hingewiesen. Kommt ja sowieso meist zu kurz, die Lyrik.

Als Finale einige Praxisbeispiele, sozusagen. Tikerscherk lässt ungeschaffenes Licht strahlen, in Lencois, wie es der Kiezschreiber beschreibt, strahlt die Sonne etwas trostlos auf einen Säufer, Monsieur Manie beschreibt in mehreren Teilen Die Probe und Thibaud sagt etwas über eine Musikerin. Auch in diesem (einen von vielen, wie bei allen anderen Erwähnten und vielen Nichterwähnten ebenso) schönen Text von asal spielt Musik eine wichtige Rolle. Asallime, soviel Resumee muss sein, war neben Mikis Wesensbitters Mauerfall-Tagebuch meine Blog-Entdeckung des letzten Jahres.

Falls jetzt jemand angesichts des Jahresbeginns einen Ausblick erwartet hat: Da verweise ich auf Ahne, oder auf dieses Bild:

Blick über die Bahntrassen Richtung Potsdamer Platz, im Hintergrund der Fernsehturm

Vom Schreiben I

Mein Großvater war schon tot, als ich mit dem Schreiben anfing. Und doch war er der Grund dafür. Ich weiss das noch so genau, weil es frühmorgens war. Ich schlich aus dem Haus, bevor Großmutter wenig später den Hof betrat, um die Hühner und Karnickel zu füttern. Das war vorher seine Aufgabe.

Vor dem Haus stand eine Haselnuss, die mir knapp zwei Jahrzehnte später eine veritable Allergie bescheren sollte. Gleich neben der Schaukel und dem Sandkasten, der eigentlich ein großer, alter Traktorreifen war. Dort stießen wir, wenn wir tief genug gruben, immer mal wieder auf verwitterte Nazimünzen. Was Großvater als kriegserfahrenen Kommunisten jedes Mal aufregte, wenn  er fand, was wir vor ihm verstecken wollten.  Von seinen Funden auf diesem Grund und Boden hat er uns zeitlebens nichts erzählt: Wir waren wohl noch zu jung für die Geschichten über Pistolen und Dolche mit eingravierten Hakenkreuzen, die er nach dem Hauskauf entdeckte, gar nicht mal so gut versteckt. Natürlich wurde er in dieser Angelegenheit sofort auf der Kreisleitung vorstellig und bereinigte sie.

Noch vor Sonnenaufgang wollte ich auf der Astgabel des Haselnussbaums sein, meinem Lieblingsplatz. Von hier aus hatte man den besten Überblick über die Umgebung: Die Wiese vor dem Haus, links davon die Gemüsebeete, dahinter die Heuwiese. Die durften wir Kinder nicht betreten, dafür war sie bunt gefärbt von den vielen Blüten, bis Großmutter mit Sense und Sichel das Grünfutter erntete. Geradezu, hinter der Hecke und den Obstbäumen, führte der Weg an den Schuppen vorbei zur Garage und zur Werkstatt, bis er an den Ställen und vor dem Hühnerhof endete. Selbst die kleine Laube ganz hinten an der Grenze zum Uhrmacher-Nachbarn war von hier aus über die Kirschbäume hinweg gut zu erkennen. Rechts von dem Weg bildete eine Reihe Blumenbeete die Begrenzung zum anderen Nachbargrundstück, das so gross und auch ein wenig hügelig war, dass man das Haus nicht mal von meinem Ausguck aus sehen konnte.

Ich hatte einen Bleistift dabei und eines der grobfaserigen blassgrünen Schulhefte, blau liniert. Und konnte es gar nicht erwarten, dass die Natur im Gleichklang mit der Sonne aufwachte, was ich dann sogleich protokollieren würde, genau so, wie ich es in meinem damaligen Lieblingsbuch gelesen hatte. Dessen Titel habe ich längst vergessen, die meisten Tier- und Pflanzennamen, die ich damals aus dem Effeff beherrschte und zuordnen konnte, ebenfalls. Doch ich weiss noch, dass das der Moment war, in dem ich anfing, zu schreiben. Weil ich Bücher liebte, und Geschichten. Und die besten davon erzählte mein Großvater, einige schrieb er sogar für uns Enkel auf: Erst handschriftlich auf Briefpapier, dann tippte er sie mit der Erika-Schreibmaschine ab. In ihnen hörte ich zum ersten Mal von den Möwen und dem Meer, an dem ich bald darauf wohnen würde. Eine Zeit lang – die Seemannsgeschichten waren wohl schuld – dachte ich, mit den Schreibmaschinen sei das wie mit den Schiffen, was die Namensgebung betraf: Meine Großmutter hiess Erika, also benannte mein Großvater seine Schreibmaschine dementsprechend.

Er war also schuld daran, dass ich anfing, zu schreiben. Obwohl ich doch wegen ihm eigentlich Oberförster im Lieschenpark werden wollte. Trotz des Namens handelt es sich hier durchaus um einen Wald, in dem sich sogar ein kleiner Angelteich befindet. Als Revier für einen Oberförster wäre er aber wohl wirklich etwas klein gewesen. Ich weiss nicht viel von meinem Großvater, das wenigste davon aus seinem Mund: Er war der Sohn eines Melkers, geriet bei El Alamein glücklich in amerikanische Kriegsgefangenschaft (Huntsville, Texas) studierte Agrarwissenschaften, war LPG-Vorsitzender und starb, als ich sechs Jahre alt war. Mir ist er jedoch hauptsächlich als Geschichtenerzähler in Erinnerung, und viele seiner Geschichten spielten in den Wäldern um uns herum, in denen er als Jäger unterwegs war und wo er die unglaublichsten Sachen erlebte.

So hatte er sich beispielsweise einmal verlaufen, nach einigem Umherirren stieß er auf eine kleine Brücke, von der aus der Waldweg direkt zu einer Hütte führte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um das Haus des Weihnachtsmanns. Als wir Kinder leise Zweifel daran hegten, dass der nun ausgerechnet bei uns um die Ecke wohnen würde, nahm er uns eines Tages – wie so oft, aber doch viel zu selten – mit, um uns die Hütte zu zeigen. Es war leider Sommer, und der Weihnachtsmann samt Helfern im Urlaub. So las er es vor, von dem Schild, das in dem verstaubten Fenster der Hütte hing. Unsere Zweifel waren zerstreut, schliesslich standen wir vor der Hütte und konnten die Botschaft des Weihnachtsmanns mit eigenen Augen sehen, auch wenn wir noch nicht lesen konnten. Ich liebte diese Geschichten, liebte es, mich durch die Wälder und über Wiesen und Felder treiben zu lassen und die Tiere zu beobachten: Oberförster also, keine Frage.

Doch dann fing ich an diesem einen Morgen mit dem Schreiben an und habe bis heute nicht damit aufhören können. Vorher stieg ich allerdings nochmal von meinem Lieblingsplatz in der Astgabel des Haselnussbaums herunter und ging in den grünen Schuppen, den Futterschuppen. Von hier aus ließ Großvater ein paar Jahre zuvor einen selbstgebastelten Osterhasen an einer Seilwinde zum Hühnerhof laufen, er hatte sogar eine Weidenkiepe auf dem Rücken, wenn ich mich recht erinnere. Wir Kinder bestaunten dieses Schauspiel mit verschlafenen Augen vom Küchenfenster aus. Unser Großvater kannte also nicht nur den Weihnachtsmann persönlich, sondern sorgte auch dafür, dass wir die einzigen waren, die im Kindergarten stolz berichten konnten, den Osterhasen tatsächlich bei der Arbeit  beobachtet zu haben.

Meine Großmutter kippte gerade das Futter für die Hühner und die Karnickel zusammen. Ich half ihr immer wieder gerne beim morgendlichen Füttern, es war eine meiner liebsten Tätigkeiten im Haushalt: Die frische klare Luft um diese Zeit, besonders im Winter, noch unschuldig vom Dreck des Tages. Die gerade erwachende Sonne und die Ruhe, selbst die Hühner schliefen manchmal noch und mussten von uns erst geweckt werden. Meine Aufgabe war es, trockenes Brot mit Wasser und Getreide zu vermanschen und danach die gelegten Eier einzusammeln. „Weisst du noch, der Osterhase….?“ Fragte ich Großmutter, während wir vom Stall zurück Richtung Haus gingen. „Ist schon gut, mein Junge.“ Sagte sie. Ich kletterte zurück auf die Astgabel und schrieb eine Geschichte über den Eisvogel, der in den riesigen Birken des Nachbargrundstücks wohnte.

Ein Haus, vom Hof aus gesehen, davor ein Haselnussbaum, davor eine Schaukel auf der zwei Kinder klettern

Wenn es hochkommt

28.10.08

Du denkst,
du hast zu wenig Gras,
um was zu schreiben.
Nämlich gar keins.

Du schaust dir
diese verdammte neue Serie
mit Mulder an.
Der jetzt Hank heisst.
Natürlich, wie sonst.

Du denkst,
die Sache mit dem Schreiben
ist vorbei.
War nur eine Phase.
Ist vorbei.

Hast es verpasst.
Hast zu viele gute Bücher,
Filme,
Musik,
verpasst.

Wenn es hochkommt,
liest du die Wochenzeitung
zur Hälfte durch.

Machst deinen Job,
liebst deine Frau,
(doch du fickst sie nicht mehr)
gehst am Wochenende saufen.

Wenn es hochkommt
verliebst du dich mal kurz.

Doch du streitest es ab:
Du küsst sie nicht,
du schreibst nicht,
du kündigst nicht.

Du lebst dein braves Leben,
träumst deinen wilden Traum,
und denkst
es ist eh
zu spät.

Du bist zu alt,
du bist zu schlecht,
du bist doch
ganz zufrieden.

Und sitzt dann trotzdem nächtelang
wach.
(Schaust dir diese verdammte Serie
mit Mulder an.)
Du schreibst, du säufst, und du weißt,
dass es nicht stimmt.

Jetzt ist halt kein passender Zeitpunkt,
erst in zehn Jahren
oder so,
wenn du noch viel selbstmitleidiger bist.

Bis es dir hochkommt,
irgendwann.
Irgendwie aus aktuellem Anlass.

Mehr Farbe, Vielfalt und Abwechslung

…bei den Links und in der Rolle da rechts (und überhaupt!). Schliesslich ist ja auch Frühling. Denke ich mir immer wieder. So quasitechnische Überlegungen machen sich besonders gut, wenn man eigentlich dabei sein sollte, sich den Kopf über die inhaltliche Ausrichtung zu zerbrechen. Aber das nur nebenbei.

Also: Zu Recht hatte tikerscherk vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass in Blogs zwar dieses und jenes steht, aber selten was zur Erotik. Natürlich gibt es da Ausnahmen (und vielleicht ja höchstwahrscheinlich auch eine komplette, unerschlossene Welt), deshalb gehört sunflower22a eigentlich schon längst in die Blogroll. Auch, weil sie immer wieder überrascht. Und wo wir schon dabei sind, gleich die volle Link-Breitseite zum Thema: Eine weitere mir ziemlich unbekannte Welt wurde dank eines Beitrags bei kleinedrei gerade etwas aufgehellt: BDSM. Wie es der Zufall wollte, las ich kurz vorher eine komplett andere Perspektive auf die Sache, was sie um so interessanter, weil anscheinend noch um einiges vielschichtiger, macht.

Eines meiner Vorhaben habe ich in der letzten Zeit ja fast eingehalten: Politik spielt hier oberflächlich kaum noch eine Rolle. Wenn, dann ist das Politische auf das Private, auf das Kleine, runtergebrochen. Natürlich juckt er mir ab und an in den Fingern, der große Rundumschlag, das Ewiggleiche. Und ab und an muss das natürlich auch sein. Aber es ist eben ein trauriges, ewiggleiches Sisyphos-Geschäft. Die Trottel werden immer da sein. Umso wichtiger ist differenzierter, guter Journalismus. Und schon wieder muss ich dazu auf einen Text aus dem Schweizer Das Magazin-Blog verweisen. Das macht glatt die schlimmen Tatorte wieder wett. Doch auch in den Onlineversionen deutscher Holzmedien – Berliner zumal – findet man den einen oder anderen guten Beitrag. Selten – das mag aber auch daran liegen, dass ich da selten reinschaue.

Ebenfalls zum wiederholten Male setzte ich mir bookmark-Sternchen bei Frau Haessy, die oft schöne Texte schreibt – deswegen landet die jetzt auch da rechts. Und wo wir schon mal dabei sind: Dort in der Leiste ist die Politik ja durchaus erlaubt. Also rein mit Kritik und Kunst. Rein mit che, der da eigentlich schon immer war, hatte ich nur kurz vergessen. Rein mit den Punkgebeten, auch oder gerade weil man sich dort gar nicht so wirklich klar über die Richtung ist. Und die Brücke von der Politik zur Poesie schlägt Klaus Baum, für dessen Platz in der Randleiste dasselbe gilt wie für che. Dank seines Hinweises kam mir Schlingensief wieder in den Kopf, und zusammen mit ihm ein geschätzter ehemaliger Kollege (bis zum Genossen hat es dann doch nicht gereicht), der einfach auch gut schreibt und fotografiert.

Der Vielfalt und der Realität angemessen ist es eigentlich auch längst, englischsprachige Berlin-Blogs in die Rolle aufzunehmen (Wer weiss, wieviel großartige spanische oder russische Blogs zu Berlin man so verpasst…?). Was hiermit geschieht: Durch einen Kommentar von pethan35 stiess ich auf Kreuzberg’d. Was ich bisher dort sah und las, hat mir sehr gut gefallen, deshalb rein in die Leiste. Eine weitere englischsprachige Seite zum Thema, die dort ebenfalls reinkommt, ist gleichzeitig Ersatz für ein anderes Blog in der Blogroll, das wohl leider erst mal brach liegt.

Weiter geht es (wiedermal) in der Sparte Literatur oder was Sie gerne dafür halten wollen. Mit Volker Strübing bin ich in meinen frühen Berliner Jahren im Grunde genommen groß geworden, und ausserdem habe ich ihn ja auch schon ein paar Mal verlinkt, vollkommen zu recht natürlich. Und wo Volker Strübing ist, da ist Ahne manchmal nicht weit, das war in oben angesprochener Zeit schon so. Wieso also nicht auch in der Blogroll, nicht zuletzt wegen kleiner Preziosen wie diesem Text hier. In der Kategorie lohnt es auch, auf Kaminer hinzuweisen, der zu seinen Texten oft sehr passende Bilder findet. Glumm sowieso, der sitzt in meinem Kopfkino längst zusammen mit Fauser und Fallada auf einer Leitersprosse und lässt dort die Beine baumeln. Apropos, diese Chance kann ich mir eigentlich nicht entgehen lassen: Candy Bukowski – die genauso in die Blogroll wandert wie rocknroulette – scheint den Termin für meinen nächsten Hamburg-Besuch gesetzt zu haben…

Dass ich viel zu wenig Glumm lese, stellte ich fest, als ich von seiner Bekanntschaft zu Airen erfuhr. (Den Text hab ich schon mal verlinkt; wir wollen es mal nicht übertreiben damit…). Ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung habe, was er derzeit macht, habe aber vor einiger Zeit einen interessanten Artikel von ihm bei spon entdeckt (obwohl spon  eigentlich schon weit jenseits der Vielfalt-Schmerzgrenze liegt). Da nehme ich gleich die Gelegenheit wahr und mache noch kurz einen Abstecher Richtung Geschichte, auch zur Wiedergutmachung: Michael Schmalenstroer hatte ich vorher auch schon in der Blogroll, wenn ich mich recht erinnere, und da gehört er auch hin. Ein letzter Hinweis aus diesem Genre noch, nicht zuletzt weil zwei Personen daran beteiligt sind, die ich mehr und weniger kenne.

Fauser darf nie zu kurz kommen, sagte ich ja bereits. Aber ich kann die Blogroll auch nicht nur mit Schriftstellern zupacken, leider: die Vielfalt fordert ihren Tribut. Zu einem Bekannten Fausers (den er in Rohstoff verewigte & in dessen Archiv ich mal ausführlich stöbern durfte – der HU-EE sei dank, ich sprach es schonmal kurz an) gab es gerade ein großartiges … sagen wir mal Requiem bei den Ruhrbaronen.

Last but not least werden das Begleitschreiben und der Kiezschreiber (dem der Underdog kiezneurotiker unlängst vollkommen zutreffend einen Lauf bescheinigte) in die Blogroll aufgenommen. Ansonsten: FernwehHeimweh.

Wie dem auch sei, so ganz genau hab auch ich den Kurs immer noch nicht raus, auf dem dieses Experiment hier weiter segeln soll. Aber Experiment sagt es eigentlich: Ich werde wohl etwas mehr rumprobieren; für die einen ist es der Salon, für mich gerade eher die Spielwiese. Oder der Hobbykeller mit Drechselbank. Dazu fällt mir glatt eine Geschichte aus der dunklen Vergangenheit ein…

Zum Schluss, weil der Sommer bestimmt kommt und der erste Mai vor der Tür steht: Die Ohrbooten. Ein guter Freund sagte unlängst: Naja, kann man schon mal hören. Aber die Texte sind eigentlich echt nicht so dolle. Wie es aussieht, fährt dieser gute Freund demnächst in Sachen Musik nach Brasilien, wo ein paar clevere deutsche Gute-Laune-Reggaebands die Fussballfans abgreifen wollen, oder so ähnlich. Sowieso: Ein Festival in Brasilien! FTW, wie man hier so sagt. Aber das ist auch wieder eine andere Geschichte. Ohrbooten also (haarscharf vorbei an der Gotteslästerung, und eben – es ist ja auch bald 1. Mai…) :

 

 

[Inzwischen ist dieser Beitrag 5 Tage im Entwurfsordner, es ist Sonntagabend und ich habe schon wieder genau abgezählte 54 offene Tabs, die allesamt toll sind. Was ist nur aus dem heiligen Tag der Ruhe geworden. Aber eben: auch ziemlich toll, dieses Internet. Eine weitere kontextlose Information: Wie ich bemerkte, hatte ich gar keine Suchfunktion. Wie unpraktisch!]

Die Muse

Anfangs dachte der junge Dichter, er hätte Glück gehabt. Er wurde vom Arbeitsamt offiziell als beschäftigungsloser Schriftsteller anerkannt. Das verschaffte ihm zwar weder Geld noch Ruhm, aber immerhin: ihm stand eine Muse zu.
Und die tat nun auch schon seit gut drei Jahren ihre Dienste. Gut – es war eine vom Arbeitsamt gestellte Muse, die brachte jetzt nicht von heute auf morgen den Literatur-Verdienstorden, aber sie sorgte für einen kontinuierlichen Schaffensprozess, was ja für das schriftstellerische Selbstwertgefühl auch nicht unwesentlich ist.

Doch mit der Zeit begann der junge Dichter, sich in eine Richtung zu entwickeln, die der Muse nicht gefiel. Sie war, wenn man ehrlich ist, ein wenig herrisch und selbstgerecht. Am liebsten wäre sie eigentlich Literaturkritikerin geworden, doch das Arbeitsamt hatte nun mal bloß eine Stelle als Muse frei. Und diese lyrischen Verirrungen, die ihr Schützling da in letzter Zeit beging, die passten ihr gar nicht.

Das ließ sie den jungen Dichter auch deutlich spüren. Nachdem er ihr sein jüngstes Werk vorgetragen hatte, setzte er zur Erklärung an: „Weißt du, die Idee dazu entstand, als ich an diesem Laden vorbeiging, dessen Name so lustig war…“ – „Ach halt doch die Klappe“ blaffte sie, „das war eindeutig Schrott! Wenn du anfängst, ein Gedicht erklären zu müssen, ist es Schrott.“

Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Der eigentliche Plan des jungen Dichters war, in Kürze ein Lyrikband herauszugeben. Er hatte auch schon alles Nötige in die Wege geleitet, größtenteils. Ihm fehlte nur noch ein Verlag. Er hatte die Schnauze voll von dem ewigen Prosa-Geschreibe. Diese Gattung kam ihm inzwischen so banal vor. Jedenfalls, wenn man wie er ständig übers Ficken schrieb. Das wirkte bei Lyrik irgendwie angenehmer. Er konnte es jetzt gar nicht haben, dass ihm die Muse da in die Quere kam und sein Schaffen misskreditierte.

Sie musste weg.

Am nächsten Morgen ging der junge Dichter in eine Drogerie, die ihm aus dunklen Kanälen heraus empfohlen wurde. Dort bekam er unter dem Ladentisch die Pillen, die er brauchte. Er nahm ein paar von den bunten Dingern, und für 48 Stunden war er jeglicher Kreativität beraubt.

Der junge Dichter wusste, dass die Muse diese lange Versorgungsunterbrechung nicht überstehen würde. Und wirklich, als er danach das erste mal wieder einen kreativen Gedanken fasste, hörte er keine Stimme mehr, die ihm dazwischen redete. So konnte er in den nächsten Wochen unbesorgt seinen lyrischen Trieben freien Lauf lassen. Er schaffte es sogar, von dem Lektorat eines mächtigen Verlags vorgeladen zu werden.

Nachdem er ein paar Kostproben vor dem Gremium rezitiert hatte, baten ihn die Herren, noch einen Bewerbungsbogen auszufüllen. Gefragt waren Standards a lá „Geburtsort“ oder „Datum der ersten Inspiration“. Der junge Dichter machte alle verlangten Kreuzchen und Angaben und bedankte sich bei den Selektoren.

Zu seiner großen Überraschung kam bereits nach fünf Tagen ein Schreiben: „Sehr geehrter junger Dichter, wir freuen uns sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass wir beabsichtigen, Sie in unser Programm aufzunehmen. Wir sind der Meinung, dass damit nicht nur Ihnen, sondern unserem gesamten Gemeinwesen gedient ist. Um den Vertragsabschluss komplett zu machen, müssen Sie lediglich an den angekreuzten Stellen unterschreiben und den letzten Quartalsbericht ihrer Muse anheften. Mit freundlichen Grüssen!“

Da war sie wieder. Der junge Dichter hatte sie längst erfolgreich verdrängt, er wusste schon gar nicht mehr, dass er mal eine Muse hatte. Jetzt aber holte sie ihn wieder ein. Gleich am nächsten Morgen ging er pflichtbewusst zum Arbeitsamt, um einerseits eine Muse als vermisst zu melden, und anderseits den nahezu perfekten Vertragsabschluss anzuzeigen. Dort würden sie ihm bestimmt auch einen Musen-Ausfallsschein ausstellen können.

„Junger Mann, so geht das aber nicht!“ begann die Dame hinter dem großen Schreibtisch ihre Predigt, „Sie hätten den Verlust ihrer Muse schon vor zwei Monaten anzeigen müssen! Wir stellen ihnen ja hier nicht die Mittel zur Verfügung, damit sie sie nach Belieben verschleudern. Dafür opfert sich das Gemeinwesen nicht auf, damit die Künstler dann so leichtsinnig mit ihrer Aufgabe umgehen! Den Vertragsabschluss können sie vergessen, dafür gebe ich ihnen keine Ausrede-Dokumente.“

Nach dieser Standpauke drückte die Verwaltungsbeamtin einen Knopf und der junge Dichter mit dem blumigen Namen wurde abgeführt und dem zuständigen Steinbruch übergeben.

(2003)

Flache historische Vergleiche und ein Haufen Links

Als ich vor knapp zwei Wochen mit einem alten Freund bei mehreren Bieren saß, kam das Gespräch irgendwann natürlich auch auf die aktuellpolitische Lage: Die Krim war gerade annektiert worden/ hatte gerade abgestimmt. Wir theoretisierten, wie es denn weitergehen würde, und mir rutschte beim Thema „Was wird aus der Ukraine“ das Wort „Rest-Tschechei“ raus.

Auch in dieser Woche konnte ich nicht vom Kneipenbesuch lassen, und siehe da: Die Ukraine drängte sich wieder  auf. Ich berichtete meinem Gegenüber von dem Mord am „Weißen Sascha“, woraufhin ihm spontan ein „Ach, die Nacht der langen Messer?!“ entfleuchte.

Solche flachen historischen Vergleiche sind allerdings nur in vernebelten rauch- und bierdunstschwangeren Lokalitäten zulässig. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht, weder als Farce noch als Tragödie.  Aber ein Vergleich lohnt sich allemal, um Grundmuster und -mechanismen zu erkennen, denn davon gibt es, wie der Name schon sagt, nicht allzu viele. Allein die Umstände führen zur Varianz.

So schrieb Friedrich Kellner am 22. Juni ’41, dem Tage des Überfalls auf die Sowjetunion, in seiner hessisch-ländlichen Zuflucht:

Mit was auch unser Vorgehen begründet werden mag, die Wahrheit wird einzig und allein auf dem Gebiete der Wirtschaft zu suchen sein. Rohstoffe sind Trumpf. […] Die Armee sucht Futterplätze, und die Herren von der Industrie wollen billige Rohstoffe.
(Friedrich Kellner: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne.“ Tagebücher 1939–1945.  Göttingen 2011, S.156)

Man könnte hier also ein Grundmuster ausmachen und einen Vergleich ansetzen. Eine Gleichsetzung, beispielsweise des Freihandelsabkommens und des Assoziierungsabkommens mit folgendem Kellner-Zitat (immer noch zum gleichen Anlass, vom 28. Juni ’41) wäre zwar naheliegend, aber … :

Endlich ist es soweit, daß die Großkapitalisten aller Länder – getreu dem Rufe ihres Führers Hitler – dem verhaßten Regime in Rußland den Garaus machen wollen. (S.163)

Ein weiterer kleiner geschichtswissenschaftlicher Exkurs sei noch gestattet: Aus der Крим ist also (wieder) die Крым geworden. What’s new?

Fast alle europäischen Grenzgebiete sind mehrfach kodiert, fast alle Städte und Orte in diesen Übergangs- und Gemengelagen haben Doppel- und Dreifachnamen. Das ist mehr als ein Hinweis auf politisch korrekte Zitierweise, es ist vielmehr eher die Spur in eine Geschichte, die komplexer ist, als daß sie auf den Nenner eines Namens gebracht werden könnte.
(Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt/M., 2006, S.227.)

In seinem 2003 erstmals erschienem Werk („Dieses Buch glüht von innen.“ Die Zeit. Naja…) behandelt Schlögel unter anderem ausführlich die Rolle von Karten verschiedenster Art. Dass dies auch und gerade heute wieder hochaktuell ist, darauf weist Michael Schmalenstroer zu Recht hin. Nochmal Schlögel:

Im Zeitraffer betrachtet, ist die ganze europäische Geschichte eine ununterbrochene Geschichte der Macht- und Grenzverschiebungen … (S. 145)

Wieso also sollte sich das ändern? Schon vor elf Jahren konstatierte er:

Das neue östliche Europa ist gekennzeichnet von einem krassen Nebeneinander, einer „Gleichzeitgkeit der Ungleichzeitigkeit“, wie sie im Buche steht: das 21. neben dem 18. Jahrhundert. Das sind die Konfliktzonen der Zukunft, in denen sich der Haß auflädt und militant entladen wird, weit mehr als jener clash of civilizations, der von den Unterschieden der Kulturen und Glaubensbekenntnisse ausgehen soll. (S.469)

Klar, für die Arbeit des Swoboda-Politikers und stellvertretenden Vorsitzenden des Ukrainischen Komitees für Meinungsfreheit im Kiewer Parlament, Igor Miroschnitschenko, braucht man nicht bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen. Ein ähnliches Verhalten fand und findet man regelmäßig, auch in Europa, nicht nur unter Goebbels oder Stalin. Doch selten gab es so deutliche Bilder davon. Aber genug der Geschichte, dazu hat Tucholsky eigentlich schon alles gesagt (der übrigens auch schon was über Gentrifizierung zu berichten wusste, und zwar aus deren Mutterland).

Und eben: What’s new? Über Hipster haben in den 1950ern schon Eric Hobsbawm, Jack Kerouac und Norman Mailer geschrieben.  Gut, es waren andere Hipster, und in Texten über sie steht heute vielleicht weniger rassistisch-esoterischer Quatsch als bei Mailer und der deutschen Rezeption dazu, trotzdem hat dieser Text mehr zu bieten als das plakativ-ironische „What Berliners don’t say“ (was trotzdem für den einen oder anderen kurzen Lacher gut ist): eine Facebook-Seite, deren Top-Beiträge jüngst von dem „The Hundert„-Magazin zusammengetragen wurden, was den Freitag dazu verleitete, die Magazin-Seite abzufotografieren und das Foto dann bei Facebook hochzuladen.  (Eigentlich schon wieder viel lustiger als die Zusammenstellung an sich: auf dem bei fb hochgeladenen Freitags-Foto von dem Magazin-Beitrag ist die dort abgedruckte originale fb-Adresse zu lesen). Womit wir mal wieder beim Journalismus wären, dem es ja derzeit an die Kapuze geht.

Die einen beschäftigen sich mit Hoodies oder den Schuhen des Internetministers, die anderen mit der Branchen-Zukunft. Wobei die besseren Artikel der letzteren Kategorie meist nicht hierzulande geschrieben werden. Wie man guten deutschsprachigen Journalismus machen kann, zeigen – wer hat’s erfunden? – die Schweizer. Das ist aber lang, und lange Texte liest doch eh kaum jemand. Hier kehrt man lieber vor fremden Türen: Wenn mal nicht die Blogger dran sind, dann eben die Literaten. Dabei kann schon ein Blogtext zur Aktualität Büchners den Großteil des auf Zeitungspapier gedruckten Feuilletons in den Schatten stellen. Vermute ich mal, ich habe lange keine Zeitungen gelesen, zugegeben.

Wie absurd diese Distinktionsversuche zwischen Journalismus, Blogs und Literatur sind, zeigen auch die großartigen (literarischen) Beiträge auf unzähligen Blogs immer wieder. Natürlich muss Glumm hier an erster Stelle genannt werden, der gerade mit den „Geplant war Ewigkeit„-Fortsetzungen wahrscheinlich nicht nur mich beeindruckt und sprachlos zurücklässt. Er kennt „den Literaturbetrieb“ durchaus auch von der anderen Seite, konnte dort aber eben (noch) nicht landen. Was mehr über „den Literaturbetrieb“ sagt als über Glumm.

Via sunflower22a (die auch längst hätte erwähnt werden müssen, obwohl ich mir über sie noch nicht einig bin – doch wie auch, wenn sie selbst „I am a mystery“ schreibt) bin ich auf einen weiteren tollen Text gestossen: Bemerkenswerterweise spielen auch hier A&P (kein Link, dafür ein Erinnerungsfetzen: Ein alter Jugendfreund spielte mal in einer Punkband, die so hiess, benannt nach einer Supermarkt-Hausmarke) wieder eine Rolle – wenn das Internet diese Seite aushält, kann uns nichts mehr etwas anhaben. Auch tikerscherk darf nicht unerwähnt bleiben, bei der gerade Themenwoche ist, nicht nur kubanische, wenn ich das recht verstehe. Und täglich kommen so viele gute, neue Texte dazu. Bücher natürlich ebenso, auf die ich aber auch vermehrt durch BlogRezensionen aufmerksam werde.

Wer hier noch etwas zum Thema „Kreuzberger Wohnverhältnisse“ oder „Geschichten von früher“ erwartet hatte: bittesehr. Das war’s dann aber für heute, irgendwann muss ja auch mal Schluss sein!

[Falls wer fragt: Ich mache das nur, damit ich die Links auch irgendwo habe und die Lesezeichenliste frei für Neues ist. Sonst geht es mir gut. Sagen die Stimmen in meinem Kopf.]

Hatte ich was von Punk gesagt?

 

Gestern und heute; Klowände, Internet und Schreiben

Ich glaube, es war Klaus Baum, der vor Wochen oder Monaten diesen Schnipsel verbreitete.  Geändert hat sich Vieles in den Wochen, Monaten und Jahrzehnten – nicht aber der Gehalt dieses Interviewfetzens, dem habe ich eigentlich nichts weiter hinzuzufügen.0906_efa8

In der Geschichtswissenschaft gilt der Krim-Krieg als der erste moderne Krieg. Damit sind eher die Mittel gemeint (Eisenbahn, Waffen, Telegraphie), das Denken hinter der Kriegsführung war weniger modern und geprägt durch Fehlplanungen und -einschätzungen auf allen Seiten. Ob das, was sich derzeit in dieser Region entwickelt (der Auslöser – die Ereignisse auf dem Maidan – ist inzwischen wohl zur Fussnote verkommen; Entscheidungen werden nicht mehr von einer souveränen Ukraine getroffen, sondern in Brüssel, DC oder Moskau), ähnliche weltpolitische Konsequenzen zeitigen wird, müssen Historiker späterer Epochen bewerten. Wenn es denn dann noch welche gibt. Das Potential dazu ist jedenfalls vorhanden, ich traue einigen Akteuren durchaus zu, einen grossen Drang danach zu haben, das Ventil mal wieder richtig aufzudrehen. Sewastopol als nächstes Sarajewo, nichts ist unmöglich. Aber lassen wir das Spökenkieken und beschäftigen uns lieber mit naheliegenderen (oder näherliegenden?) Sachen. Mit Klowänden zum Beispiel.

Der Werbefuzzi von Matt bezeichnete vor acht Jahren Blogs als solche, genauer: als die Klowände des Internets. Ausgerechnet übrigens in Verteidigung der „Du bist Deutschland“-Kampagne, die mit ihrer Sloganwahl – um mal im Bild zu bleiben – ja auch kräftig in die Schüssel gelangt hat.

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Ich mag Klowände, da gibt es immer was Interessantes zu lesen, selbst bei denen im Real Life. Pure Ablenkung davon, dass man eigentlich selbst die Wände vollschreiben sollte.  Erst einmal „die Anderen“ – auch Journalisten machen Fehler: Manchmal grosse, indem sie die grundlegenden Prinzipien ihrer Branche vernachlässigen. Manchmal kleine, indem sie einfach das Thema verfehlen. Manchmal gedankenlose, die ihnen hätten auffallen müssen, es aber zu unserer Belustigung nicht taten.

Und jetzt „wir“: Unsere Klowände sind oft dazu da, einfach mal den Unmut über den ganzen verdorbenen Mist in der Welt rauszulassen. Doch bei genauem Hinsehen kann man erkennen, dass ebenso häufig Selbstzweifel (statt Kritik an anderen) thematisiert wird, nicht immer so laut, aber dafür um so intensiver und berührender.

Eine kleine Ausrede, die mir gerade hilft: Es gibt auch etwas über das Schreiben zu lesen, noch dazu mit einem treffenden Titel. Die Quintessenz: Wir können uns nicht aussuchen, was sich in unserem Kopf einnistet – oder welche Geschichten darauf warten, von uns erzählt zu werden.  Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist der Hinweis auf den richtigen Umgang mit Autoren. Den liefern Katrin Passig (Journalistin? Bloggerin? Autorin? Take your pick…) und Ira Strübel. Eigentlich müsste ich den Artikel in Gänze hier zitieren, aber so greife ich wahllos eine Passage heraus:

Vermeiden Sie auch die Frage, wie die Arbeit am nächsten Buch vorangeht. Selbst wenn der Autor täglich acht Stunden damit zubringt, in eine leere Datei zustarren, und sich den Rest der Zeit betrinkt, wird er auf Ihre Frage nur «achja, ganz gut» antworten. Jetzt sind Sie nicht klüger als zuvor, der Autor aber ist an seinen schweren Beruf erinnert worden und bekommt schlechte Laune. Für den Rest des Gesprächs hadert er damit, keine Schreinerlehre gemacht zu haben.

Wenn es gar nicht mehr geht, mit den Klowänden und dem, was dort so zu lesen ist – auch das kann passieren – wenn es einem also hochkommt: Manchmal gibt es dafür eine Lösung, nur ein paar Schritte weiter. Ich war begeistert, als ich auf einer Hochzeit in Friesland folgende lebenspraktische Installation entdeckte. Jahrelange Erfahrungen mit der Landjugend und ihren Hinterlassenschaften im Mehrzweck-Veranstaltungssaal führten wohl zu diesem sanitären Pragmatismus:

( Dieses Becken befindet sich auf Waschschüssel-Höhe, so umgeht man das unwürdige Knien. Auch schön & praktisch: Die Griffe.)

Sprachlos, irgendwie…

Mir fehlen gerade die Worte. Sie sind da, sie gehen durch meinen Kopf, ständig, aber sie wollen zur Zeit einfach nicht raus. Das ist nicht unüblich bei mir, zumal in dieser Jahreszeit: writers block plus Winterdepression, was davon jetzt was verursacht, ist so verworren wie diese ganze wirre Welt. But nevermind. Apropos:Kurt Cobain Mug Shot

(via alter boy ignored prayer)

Die Gedanken zu den Worten sind da, zuhauf: Wenn ich erst mal anfangen würde, über Journalisten, über „Journalisten“ und dieses ganze absurde Theater zu fabulieren, was sich da draussen abspielt, so leicht fände ich kein Ende. Später vielleicht. Dieses Jahr noch, bestimmt, der eine Text. Obwohl ich schon wieder zweifle, auf zwei Dritteln der Strecke: Zu persönlich? Will ich das, will ich damit an die Öffentlichkeit, wenn auch an die kleine hier?

Einstweilen nur das hier, zur Verdeutlichung, wie es einem die Sprache verschlagen kann: Bayern – sprich die CSU – wird nun doch keine historisch-kritische „Mein Kampf“-Ausgabe erarbeiten: Das Buch sei volksverhetzend. Wenn Verlage das Buch in Zukunft veröffentlichen wollten, werde die Staatsregierung Strafanzeige stellen.

Nun, Hauptsache sie haben die Maut für Ausländer durchgesetzt. Mehr will der CSU-Wähler nicht, schon gar nicht mit diesem österreichisch-böhmischen Gefreiten behelligt werden. Verbieten, ganz einfach verbieten und Strafanzeige stellen.