Zwischen Schönhauser und Kastanie

22.05.03

Auf einem wilden Baulücken-Parkplatz, glücklich
überhaupt noch solch einen gefunden zu haben,
heute morgen, früh raus, viel zu tun.
Geldeintreiben, keine große Sache.

 

Parkplätze sind hier selten.
Und teuer.

 

Vielleicht war es ja auch ein Baugrundstück mit insolventem Investor.
Bürotürme sehen ähnlich scheisse aus wie ein Fünfzig-Auto-Haufen.
Sand-matschig, Pfützen, ein freier Platz, nicht ohne Grund.

 

Ein kleiner See.
Eine Riesenpfütze.

 

Mir egal,
ich hatte offene Rechnungen zu begleichen.
Und Gummistiefel im Kofferraum.

 

Beim Aussteigen, im Augenwinkel, ein verwirrter Blick.
Optische Täuschung,
kennt man ja.

 

Am Nebenauto. Erst: Wohl ein Spassgesellschafts-Spass.
Dann genauer. Zwischen Motorhaube und Kotflügel,
direkt vorne an der Ecke bei der Scheibe.

 

In diesem winzigen Spalt. Klemmte ein Fuß

kopfüber dran die Amsel.

 

Meine Kriege, unsere Kriege

05.05.14

Ach was, von wegen friedliche Zeiten:
Dummes Zeug von Menschen, die es besser wissen müssten.
Beschwören ihr Europa, hat ja so viel Frieden gebracht
und garantiert.

Als ich ankam in diesem Europa,
rüstete es sich gerade zum Einmarsch
zusammen mit dem großen Bruder
Leader of the free world
um die Wiege der Zivilisation
platt zu machen.

Aber das war ja weit weg.
Und trotzdem gingen wir auf die Strasse
statt in die Kasernen.

Ein paar Jahre Ruhe
und Ernüchterung später
tobten die Gräuel dort
wo ich als Kind glaubte,
das Paradies auf Erden
gefunden zu haben.

Jetzt rückten einige von uns
in die Kasernen ein: zivilisiert –haha!-
in ordentlichen Uniformen.
Arbeitsplatz sicher bis zum Tod,
Karrierechancen immerhin,
sowas wächst in der Provinz
nicht auf den Bäumen.
Andere zogen eher verwegen,
verschlagen  und verblendet
in die Schlacht,
als Handlanger und Handschar
der jeweiligen Nationalisten.

Eine bahnbrechende Wahl später
eröffneten dann die regierenden Friedensaktivisten
– wer waren denn die Guten, wenn nicht sie! –
drei Ecken weiter das nächste Gemetzel.
Begründung: Auschwitz.

Für einen weiteren Krieg reichte der Atem noch:
Wegen der Solidarität, wir waren jetzt schliesslich
alle Amerikaner.
Der nächste wurde dann aber ausgelassen,
wegen der Wahlen, und ausserdem
waren wir da doch schon mal.

Seitdem ist die Lage unübersichtlich,
erst wurde mit implodierenden Banken geschossen,
die in Europas Süden verwüstete Schlachtfelder hinterliessen.
Doch nun endlich wird auch wieder Platz gemacht
in den Munitionsdepots der Militärs,
um dem Russen zu zeigen,
was so eine richtige Harke ist.
Mitten im ach so friedlichen Europa.

Derweil gibt es immer mehr von denen,
die den Krieg erlebt, gesehen, erkannt.
Zurückgekehrt mit einer neuen Diagnose
für den alten Wahnsinn, dem man verfällt,
der einen schüttelt, für Jahre die Sprache
oder den Verstand raubt.

Weil das Töten so leicht und distanziert geworden ist,
wird es Zeit, dass denen,
die begeistert in den Krieg ziehen
oder andere hineintreiben
dieser Krieg entgegenkommt
und sie mal in ihren eigenen vier Wänden
besucht.

Seit Wochen rollen die Panzer
nun mitten durch Europa,
oder brennen aus, weil zu allem
Überfluss da genügend Leute
mit Panzerfäusten rumlaufen.

Seit fünfzig Jahren Garant
für Frieden und Sicherheit
my ass!

Sommersplitter, letzter Akt (nachgereicht)

Ich hab ihn letztens in der U-Bahn getroffen, als bei der U6 dieser blöde Pendelverkehr war und man vom Mehringdamm bis Tempelhof dreimal umsteigen musste und ne halbe Stunde gebraucht hat. Der sah ganz schön verpeilt aus und schien gar nicht klarzukommen. Meinte, er wäre schon zweimal in die falsche Richtung gefahren. Kifft wahrscheinlich immer noch zu viel. Hat erzählt, seine Frau hätte ihn sitzengelassen und er ist jetzt wieder in Berlin.

So ungefähr könnte C. es ihnen erzählen, es wäre ihm nicht zu verübeln. Ich war an diesem Tag wirklich schlecht drauf. Wieso also sollte ich das machen, in die alte Heimat fahren? Dort wohnt niemand mehr, der mir wichtig wäre. Oder andersrum. Eher. Und eben, C. meinte, O. würde jetzt wieder dort wohnen, im alten Haus der Eltern. Nur der Landschaft und des Meeres wegen zieht es mich nicht dort hin, da mag es noch so viel Sommer sein, das reicht nicht, das zieht nicht.

Heimat? Ich habe den Verdacht, es geht eher darum, in überzuckerten Erinnerungen zu schwelgen und zu recht verflossenen Gelegenheiten noch eine Chance geben zu wollen. Zeitverschwendung. Um die andere Heimat kümmerst du dich ja auch nicht, sagt das Teufelchen auf der rechten Schulter, eigentlich kümmerst du dich doch um so etwas nie, für gewöhnlich. Und die ist schliesslich um die Ecke, die andere Heimat, da könnte man mit dem Rad hinfahren. Was du ja auch mal gemacht hast, als noch jemand dort wohnte, im Familienstammsitz. Mal ganz abgesehen davon, dass da auch einige Gräber schon jahrelang auf deinen Besuch warten. Aber eben keine Verflossenen, deswegen denkst du da auch nicht mal ansatzweise drüber nach.

Das unverhofft auftauchende Boateng-Wandbild (Ach hier war das!) unterbrach dann zum Glück diese Gedankenspiele und setzte neue in Gang. Die WM war gerade mal einen Monat vorbei, besoffen von dem Titel war längst keiner mehr. Mit einer so schnellen Ernüchterung hätte ich nicht gerechnet, dieser unspektakulär schnelle Übergang zum Tagesgeschäft überraschte mich. Sollte es wirklich noch fünf Monate Ruhe geben, bis die ganzen ‘Schland-Idioten in den Jahresrückblicken wieder ins Bild dürfen?

Über das Boateng-Mural freue ich mich immer wieder, nicht nur, weil ich nie genau weiss, wo es ist und daher jedes Mal aufs Neue überrascht bin. Sondern auch, weil ich dabei immer leise skeptisch denke, das sind wirklich unsere Jungs, die kennen das dreckige, das Guten Morgen Berlin, du kannst so schön hässlich sein-Berlin. Und dass wenigstens einer von ihnen Weltmeister geworden ist, freut mich wirklich. Ebenso wie der Gedanke daran, dass er in 30, 40 Jahren als älterer Herr, mit kleinem Bierbauch vielleicht, ganz selbstverständlich im Aktuellen Sportstudio aus dem Nähkästchen der Erinnerung plaudern wird. Mit viel Glück werden die Zuschauer dann ungläubig den Kopf schütteln und sich denken: Bananen auf das Spielfeld geworfen? Wirklich?! Wie dumm ist das denn?!

Vom Schreiben I

Mein Großvater war schon tot, als ich mit dem Schreiben anfing. Und doch war er der Grund dafür. Ich weiss das noch so genau, weil es frühmorgens war. Ich schlich aus dem Haus, bevor Großmutter wenig später den Hof betrat, um die Hühner und Karnickel zu füttern. Das war vorher seine Aufgabe.

Vor dem Haus stand eine Haselnuss, die mir knapp zwei Jahrzehnte später eine veritable Allergie bescheren sollte. Gleich neben der Schaukel und dem Sandkasten, der eigentlich ein großer, alter Traktorreifen war. Dort stießen wir, wenn wir tief genug gruben, immer mal wieder auf verwitterte Nazimünzen. Was Großvater als kriegserfahrenen Kommunisten jedes Mal aufregte, wenn  er fand, was wir vor ihm verstecken wollten.  Von seinen Funden auf diesem Grund und Boden hat er uns zeitlebens nichts erzählt: Wir waren wohl noch zu jung für die Geschichten über Pistolen und Dolche mit eingravierten Hakenkreuzen, die er nach dem Hauskauf entdeckte, gar nicht mal so gut versteckt. Natürlich wurde er in dieser Angelegenheit sofort auf der Kreisleitung vorstellig und bereinigte sie.

Noch vor Sonnenaufgang wollte ich auf der Astgabel des Haselnussbaums sein, meinem Lieblingsplatz. Von hier aus hatte man den besten Überblick über die Umgebung: Die Wiese vor dem Haus, links davon die Gemüsebeete, dahinter die Heuwiese. Die durften wir Kinder nicht betreten, dafür war sie bunt gefärbt von den vielen Blüten, bis Großmutter mit Sense und Sichel das Grünfutter erntete. Geradezu, hinter der Hecke und den Obstbäumen, führte der Weg an den Schuppen vorbei zur Garage und zur Werkstatt, bis er an den Ställen und vor dem Hühnerhof endete. Selbst die kleine Laube ganz hinten an der Grenze zum Uhrmacher-Nachbarn war von hier aus über die Kirschbäume hinweg gut zu erkennen. Rechts von dem Weg bildete eine Reihe Blumenbeete die Begrenzung zum anderen Nachbargrundstück, das so gross und auch ein wenig hügelig war, dass man das Haus nicht mal von meinem Ausguck aus sehen konnte.

Ich hatte einen Bleistift dabei und eines der grobfaserigen blassgrünen Schulhefte, blau liniert. Und konnte es gar nicht erwarten, dass die Natur im Gleichklang mit der Sonne aufwachte, was ich dann sogleich protokollieren würde, genau so, wie ich es in meinem damaligen Lieblingsbuch gelesen hatte. Dessen Titel habe ich längst vergessen, die meisten Tier- und Pflanzennamen, die ich damals aus dem Effeff beherrschte und zuordnen konnte, ebenfalls. Doch ich weiss noch, dass das der Moment war, in dem ich anfing, zu schreiben. Weil ich Bücher liebte, und Geschichten. Und die besten davon erzählte mein Großvater, einige schrieb er sogar für uns Enkel auf: Erst handschriftlich auf Briefpapier, dann tippte er sie mit der Erika-Schreibmaschine ab. In ihnen hörte ich zum ersten Mal von den Möwen und dem Meer, an dem ich bald darauf wohnen würde. Eine Zeit lang – die Seemannsgeschichten waren wohl schuld – dachte ich, mit den Schreibmaschinen sei das wie mit den Schiffen, was die Namensgebung betraf: Meine Großmutter hiess Erika, also benannte mein Großvater seine Schreibmaschine dementsprechend.

Er war also schuld daran, dass ich anfing, zu schreiben. Obwohl ich doch wegen ihm eigentlich Oberförster im Lieschenpark werden wollte. Trotz des Namens handelt es sich hier durchaus um einen Wald, in dem sich sogar ein kleiner Angelteich befindet. Als Revier für einen Oberförster wäre er aber wohl wirklich etwas klein gewesen. Ich weiss nicht viel von meinem Großvater, das wenigste davon aus seinem Mund: Er war der Sohn eines Melkers, geriet bei El Alamein glücklich in amerikanische Kriegsgefangenschaft (Huntsville, Texas) studierte Agrarwissenschaften, war LPG-Vorsitzender und starb, als ich sechs Jahre alt war. Mir ist er jedoch hauptsächlich als Geschichtenerzähler in Erinnerung, und viele seiner Geschichten spielten in den Wäldern um uns herum, in denen er als Jäger unterwegs war und wo er die unglaublichsten Sachen erlebte.

So hatte er sich beispielsweise einmal verlaufen, nach einigem Umherirren stieß er auf eine kleine Brücke, von der aus der Waldweg direkt zu einer Hütte führte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um das Haus des Weihnachtsmanns. Als wir Kinder leise Zweifel daran hegten, dass der nun ausgerechnet bei uns um die Ecke wohnen würde, nahm er uns eines Tages – wie so oft, aber doch viel zu selten – mit, um uns die Hütte zu zeigen. Es war leider Sommer, und der Weihnachtsmann samt Helfern im Urlaub. So las er es vor, von dem Schild, das in dem verstaubten Fenster der Hütte hing. Unsere Zweifel waren zerstreut, schliesslich standen wir vor der Hütte und konnten die Botschaft des Weihnachtsmanns mit eigenen Augen sehen, auch wenn wir noch nicht lesen konnten. Ich liebte diese Geschichten, liebte es, mich durch die Wälder und über Wiesen und Felder treiben zu lassen und die Tiere zu beobachten: Oberförster also, keine Frage.

Doch dann fing ich an diesem einen Morgen mit dem Schreiben an und habe bis heute nicht damit aufhören können. Vorher stieg ich allerdings nochmal von meinem Lieblingsplatz in der Astgabel des Haselnussbaums herunter und ging in den grünen Schuppen, den Futterschuppen. Von hier aus ließ Großvater ein paar Jahre zuvor einen selbstgebastelten Osterhasen an einer Seilwinde zum Hühnerhof laufen, er hatte sogar eine Weidenkiepe auf dem Rücken, wenn ich mich recht erinnere. Wir Kinder bestaunten dieses Schauspiel mit verschlafenen Augen vom Küchenfenster aus. Unser Großvater kannte also nicht nur den Weihnachtsmann persönlich, sondern sorgte auch dafür, dass wir die einzigen waren, die im Kindergarten stolz berichten konnten, den Osterhasen tatsächlich bei der Arbeit  beobachtet zu haben.

Meine Großmutter kippte gerade das Futter für die Hühner und die Karnickel zusammen. Ich half ihr immer wieder gerne beim morgendlichen Füttern, es war eine meiner liebsten Tätigkeiten im Haushalt: Die frische klare Luft um diese Zeit, besonders im Winter, noch unschuldig vom Dreck des Tages. Die gerade erwachende Sonne und die Ruhe, selbst die Hühner schliefen manchmal noch und mussten von uns erst geweckt werden. Meine Aufgabe war es, trockenes Brot mit Wasser und Getreide zu vermanschen und danach die gelegten Eier einzusammeln. „Weisst du noch, der Osterhase….?“ Fragte ich Großmutter, während wir vom Stall zurück Richtung Haus gingen. „Ist schon gut, mein Junge.“ Sagte sie. Ich kletterte zurück auf die Astgabel und schrieb eine Geschichte über den Eisvogel, der in den riesigen Birken des Nachbargrundstücks wohnte.

Ein Haus, vom Hof aus gesehen, davor ein Haselnussbaum, davor eine Schaukel auf der zwei Kinder klettern

Schrecken

Seit zwei Stunden saß er inzwischen auf gepackten Koffern. Und alle fünfzehn Minuten dachte er, dass das ja wohl totaler Quatsch wäre, nur wegen ein paar Heuschrecken.

„Das Heu kannst du weglassen“ hat Paul gesagt, „das sind Stabschrecken, so indische. Die haben es da wohl nicht so mit Heu.“

Er würde doch nie wieder hier in der Gegend was finden, jedenfalls nichts, was er sich leisten könnte. Und was sollte er erzählen, wenn ihn jemand fragt? Eine letzte Möglichkeit gab es noch, aber er hegte keine großen Hoffnungen, als er die Nummer aus dem Branchenbuch ins Telefon tippte. Reine Formsache, es sollte keiner sagen können, er hätte nicht alles versucht.

Nur ein paar Brombeerzweige und ein paar Wochen, mehr kostete es nicht, meinte Paul, als sie zusammen das riesige Terrarium die Treppen hochwuchteten. Die Zweige müssten allerdings regelmässig ausgetauscht werden und alle paar Tage sollte man mal ein bisschen Wasser zerstäuben. Kein Thema, eigentlich.

„Das heisst die bewegen sich so gut wie nie?“ fragte er, „Nichts als schlafen, fressen, ficken?“ Paul lachte nur: „Von wegen, nicht mal das! Das sind alles Mädels. Klone. Die gibt es seit 17 Jahren, die haben schon auf der ersten Fusion getanzt. Also, ihre DNA jedenfalls.“

Sie bestückten das Terrarium großzügig mit den erstaunlich stacheligen Zweigen und gestatten sich nach getaner Arbeit ein gut gefülltes Pfeifchen. Er fand, dass diese Viecher und ihr beschaulich eingerichtetes Gehege etwas ungemein Beruhigendes hatten, auch wenn sie sich inzwischen – es war längst dunkel geworden draussen – für seinen Geschmack doch fast etwas zu schnell bewegten. „Und vergiß nicht“ meinte Paul, „das sind Insekten. Da kann ruhig mal was kaputt gehen, ich hab die jetzt nicht nachgezählt. Also, keine Sorge! Und Tommi soll sich so viele rausnehmen, wie er will.“

Tommi war sein Teilzeit-Mitbewohner und als solcher den größten Teil der Zeit nicht da. Bei seinem letzten Besuch in der Stadt fand er die Schrecken so toll, dass ihm Paul jetzt ein paar zum Geburtstag schenken wollte, samt eines weiteren, etwas kleinerem Terrariums.

„Eigentlich kann er auch das Riesenteil mitnehmen, ich hab zu Hause eh noch ein anderes Grosses. Und du packst die, die übrig bleiben, in das Kleine…“ Er konnte es Paul nicht verdenken, dass dieser den schweren Glaskasten nicht noch einmal all die Treppen hoch- und runtertragen wollte. „Mir egal“ antwortete er und begann, das Fitzelchen Hasch in seine letzten Brösel aufzulösen.

Nachdem alles aufgeraucht war, brachte ihm Paul die Umsiedlung – bzw. das Umsetzen, wie er belehrt wurde – bei. Einige der Viecher waren schon ziemlich groß, und ihre Beine ganz schön widerborstig, oder besser -hakig. Mit etwas Übung klappte es jedoch ganz gut, zur Not half man mit einem kräftigen Pusten nach, um die Tiere von der Kleidung zu bekommen. Er sah eigentlich ein paar unkomplizierten Wochen entgegen.

***

„Boah, sind die garstig!“ Tommi weigerte sich beharrlich, auch nur eine Nacht mit den Monstern alleine in einem Zimmer zu verbringen. Er legte mit den Drogen gerade eine Pause ein und begann, sich wieder an seine Träume zu erinnern. Und hatte Angst vor den Ängsten in ihnen, da passten die Schrecken nicht gut rein. Soviel dazu.

Was bei Pauls weisen Ratschlägen zur Insektenhaltung nicht zur Sprache kam, war, dass sich die Viecher häuten. Kann man sich denken, sicher, aber als er eines Morgens das erste Mal eine abgestreifte Schrecken-Hülle fand, geriet er leicht in Panik. Denn nachhaltig, wie die Natur nun mal ist, knabberten die Tiere ihre abgelegte Haut gern auf. Er befürchtete natürlich sofort, die Schrecken wären dem Kannibalismus anheimgefallen.

In den folgenden zwei Wochen pendelte sich alles einigermassen ein: Er kannte inzwischen sämtliche Brombeer-Reviere in der näheren Umgebung und war erstaunt, wie viele grüne Blätter noch an den Pflanzen waren, obwohl sich der Winter schon dem Ende zuneigte. Noch erstaunter war er allerdings, als die ersten warmen Frühlingssonnenstrahlen das wahre Potential der Brombeeren entfalteten; selbst abgeschnitten im Wassereimer auf dem Balkon trieben die Zweige aus, was das Zeug hielt. Ungefähr zu dieser Zeit bemerkte er auch erstmals die Veränderungen an den Schrecken: Nach und nach färbten sie sich rot.

Zuerst stellte er noch die Klon-Theorie in Frage und vermutete, dass sich vielleicht doch ein Männchen eingeschlichen hätte, oder geschlüpft war. Dann kam er aber relativ schnell auf die Möglichkeit einer Mutation. Überhaupt schienen sich die Insekten ziemlich wohl zu fühlen, oder es lag am Frühling, jedenfalls wurden sie mehr und mehr. „Die schmeissen ihre Eier einfach ab, keine Ahnung, wie viele da rumliegen.“ Mehr war aus Paul zu diesem Thema nicht herauszukriegen. Die Zweige boten längst nicht mehr genügend Platz, so dass die Schrecken jetzt hauptsächlich aufeinander sassen. Und bei dieser Gelegenheit liessen sie es sich nicht nehmen, sich gegenseitig die Beine abzufressen. Jetzt war er da, der Kannibalismus. Das Terrarium war eindeutig zu eng geworden.

Die Roten schienen sich dabei am besten zu schlagen, irgendwann waren sie in der Überzahl. Ab da wurde auch das Tauschen der Zweige und des Wassers ungleich komplizierter: Nicht nur, dass die Tiere generell viel zu viele waren inzwischen, sondern sie schienen auch aktiver und fluchtwilliger zu werden. Die graubraunen Schrecken, die er vor zwölf Wochen bekommen hatte, wackelten auf ihren dünnen Beinchen ein paar Mal vor und zurück, bevor sie überhaupt einen Schritt machten. Von den Roten entwischten ihm immer ein oder zwei Exemplare, sobald er nur den Deckel anhob. Und obwohl es in der einschlägigen Literatur hiess, dass Temperaturen deutlich unter 18 Grad Celsius tödlich wären, sah er den einen oder anderen Ausreisser noch Tage später auf dem nachts weiter winterlich kalten Balkon.

Da Tommi sehr deutlich gemacht hatte, dass er keinerlei Wert auf sein Geburtstagsgeschenk legte und Paul auf der Mailbox die Nachricht hinterlassen hatte, dass sich seine Rückkehr erheblich verzögern würde, musste er sich langsam was einfallen lassen, um der Überbevölkerung Herr zu werden. Zwischenzeitlich hatte er sämtliche verfügbaren Informationen geprüft, aber einen Fall wie seinen nirgends auch nur annähernd beschrieben gefunden. Viele andere interessante Fakten, das ja, aber nichts zu der Verfärbung. Könnte am Futter liegen, war die generelle Vermutung. Doch mit dem flammenden Rot und einer spontanen Mutation konnte niemand etwas anfangen. Allerdings waren die meisten seiner Gesprächspartner auch eher Reptilienzüchter und weniger am Leben der Schrecken interessiert als an ihrem Nährwert.

Er müsste sie umsetzen, soviel war klar. Gerade, als er dabei war, das kleinere Terrarium zu präparieren – die Brombeeren sprossen nur so, überall, und er wunderte sich noch, warum ihm die unzähligen Büsche in seiner unmittelbaren Umgebung bisher entgangen waren – hörte er die Stimme zum ersten Mal: „Du bist ein guter Mensch. Du solltest besser gehen.“

„Da wär ich mir nicht so sicher.“ Murmelte er, bevor sich ihm die Frage stellen konnte, wo diese Stimme auf einmal herkam. Er entfernte das Tuch vom großen Glaskasten, keine einzige Schrecke bewegte sich. Das war schon komisch, da sie in der letzten Zeit ja immer so flink unterwegs waren, aber auch darauf achtete er nicht weiter. Die Frage nach dem Modus der Aufteilung beanspruchte in diesem Moment seine ganze Aufmerksamkeit, er hatte darüber vorher gar nicht nachgedacht: Groß und klein zusammen, bunt gemischt? Oder nach Alter und Größe sortieren? Einfach das nehmen, was ihm zuerst unter die Finger kam? Und wie viele sollte er überhaupt in das kleine Terrarium packen, um nicht in ein paar Tagen wieder den Kannibalismus das natürliche Gleichgewicht herstellen lassen zu müssen? Er müsste sich schnell entscheiden, bevor die Hälfte der Viecher von alleine wer weiss wohin auswandert, überlegte er noch. Doch dann bemerkte er die Ruhe, die Bewegungslosigkeit, die komplette Erstarrung jedes einzelnen Tieres. Ungewöhnlich, dachte er, was ist denn jetzt schon wieder los?

„Geh!“

***

Der Kammerjäger war anfangs etwas ratlos, dann griff er zum Telefon.
„Ja, Kurt, icke. Hier, hörmal, bin grad in der Weser 13, komische Sache, dit. Deine Frau arbeitet doch inner Klappse, oder?  Sach ma, jibt dit da so ‘ne Art Notruf? Oder soll ick da den normalen Krankenwagen rufen?“

„Ja, nee, Folgendet: Der Typ sitzt hier direkt neben mir, dit is dem vollkommen ejal, allet. Aber is eben ooch nich agressiv oder verwirrt uff den ersten Blick, deswejen dachte ick, da wär’n paar Spezijalisten jebraucht, vastehste? Wenn dem so erstma nüscht fehlt, nimmt den doch keener mit, dacht ick mir. Polizei, meenste?“

„Jut, danke dir, dit is jut, der Rudi, klar. Da wär ick jar nich drauf jekommen. Dachte, der wär längst in Rente. Ick meene, wie soll der den bitteschön die Türkenbengels jagen mit sein kaputtet Knie und den zweieinhalb Zentnern? Naja, soll mir ejal sein, wa. Sach ihm, er soll sich beeilen. Tschö.“

„Es ist gut, dass Sie die Polizei gerufen haben. Hoffe ich.“ Er schaute den Kammerjäger traurig an. „So wird es wenigstens aktenkundig, wissen Sie? Aber Sie müssen schon zugeben, dass sich diese Tiere seltsam verhalten, oder?“

Dem Kammerjäger war deutlich anzumerken, dass er in diesem Moment lieber woanders wäre. Schaben, Ratten, Motten, das waren seine Gegner. Mit verwirrten Menschen, die friedlich in ihrem Gehege hockende Heuschrecken für eine Bedrohung hielten, konnte er dagegen nicht viel anfangen. „Müssen muss ick jarnüscht, damit dit schon mal klar is. Und wo wa schon ma dabei sind: Ooch wenn ick jetzt hier nüscht ausrichten kann, die Anfahrt muss bezahlt wern, sonst reisst mir meen Chef den Kopp ab.“

„Herr König, nehme ich an?“ Der Polizist nahm seine Mütze ab und streckte die Hand aus, er machte einen netten, offenen Eindruck. Etwas ausser Atem, aber nett.

„Nein, Caesar. Aber das ist jetzt nicht so wichtig…“ Nach einem kurzen Händedruck fingerte der Beamte Block und Stift aus der Jackentasche. „Für mich ist erst mal alles wichtig, leider. Also Cäsar, so wie der aus Rom, ja?“

„Genau der.“ antwortete er. Der Kammerjäger hustete kurz auf, kratzte sich am Kopf und hielt dem Polizisten die Hand hin: „Rudi, ick bin wech, wenn dit ok is. Is ja wohl nich mehr meen Metier hier…“

„Sicher. Also, Herr Cäsar, was genau ist hier das Problem?“

„Wissen Sie, wie man den Hunger in der Welt bekämpfen kann?“ Er schaute dem Polizisten in die fragenden Augen, erwartete aber keine Antwort. „Insekten! Stabschrecken, insbesondere. Reines Protein. Es gibt erstaunliche Studien, der Energiebedarf, die Kosten für die Erzeugung von einem Kilo Rind und einem Kilo Stabschrecken verglichen, das ist ein Riesenunterschied!“

„Das mag ja sein, aber ich glaube nicht, dass uns das hier weiterbringt, Herr Cäsar. Und ich möchte mir auch ungern einen Teller voller Insekten auf dem Mittagstisch vorstellen…“

„Uns wird gar nichts anderes übrigbleiben, über kurz oder lang.“ Unterbrach er den Beamten. „Das Dumme ist nur, die Schrecken wissen das jetzt auch, und ich bin schuld. Ich wollte das alles nicht…

Immerhin haben sie mich gewarnt. Sie organisieren sich. Sie haben ein kollektives Bewusstsein aufgebaut. Sagt ihnen der Begriff Hive Mind etwas? Es sind verdammte mutierte Klone, und sie haben schon im ganzen Haus Eier gelegt, sie sind mir entwischt, das tote Treppenhaus ist bestimmt schon voll von ihnen. Am Besten, das ganze Haus wird komplett abgerissen, oder ausgeräuchert, was weiss ich. Vielleicht bringt das noch was. Wenn es schnell genug geht. Ansonsten werden sie uns mit ihrer schieren Masse erschlagen, das haben sie mir verraten. Sie sagten, ich solle weit weg von den großen Städten versuchen, zu überleben. Dort würden sie nämlich ihr leichtestes Spiel haben, nur ein wenig die Infrastruktur überlasten und die Menschen würden sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Verstehen sie jetzt, wie dringend es ist?!“

Der Polizist schien unbeeindruckt, steckte den Schreibblock wieder in die Tasche und öffnete den Knopf des Handschellentäschchens an seinem Gürtel. „Wir bringen Sie jetzt wirklich besser gleich zu Bonnies Ranch, Herr Cäsar, spart auch ‘ne Menge Papierkram, wenn‘s Recht ist. Gut, dass Sie ihre Tasche schon gepackt haben. Und um die Heuschrecken brauchen Sie sich keine Sorgen mehr machen, um die kümmern wir uns schon!“

„Es sind Stabschrecken, so indische. Werden Sie schon noch sehen.“ Sagte er matt und liess sich umstandslos mitnehmen. Vielleicht war er da draussen wirklich sicherer.

Gespräch mit meinem Hund

„So, jetzt bist du also zwei Jahre alt. Das ist ja für ein Hundeleben sozusagen volljährig. Wie fühlt man sich denn da so?“

 „Ich hab Hunger.“

 „Ach, du hast immer Hunger. Mach dir mal lieber ’nen Kopf um deine Zukunft. Kannst jetzt ja schließlich den Hundeführerschein machen. Und Alkohol trinken, Hundebier und so. Aber nicht zusammen. Nicht betrunken fahren, das ist doof!“

„Ich will gar nicht Auto fahren, ich habe Hunger. Außerdem kannst du mir ruhig weiter die Ohren kraulen.“

„So leicht geht das nicht. Und sowieso, du könntest ruhig mal für dein Futter selbst sorgen. Such dir doch einen Job! Als ich in deinem Alter war, da konnte ich mein Brot schon selbst bezahlen!“

„Mit zwei Jahren? Das glaube ich kaum. Ich habe übrigens immer noch Hunger, komm schon, wenigstens ein Leckerli!“

„Nein, mit zwanzig. Hör auf zu betteln, so etwas macht man nicht. Andere Hunde sind Filmstars und retten Leben, Bernhardiner zum Beispiel. Nimm dir mal an denen ein Beispiel!“

„Du willst also, dass ich tierisch haare und sabbere? Kannst du haben. Außerdem fressen Bernhardiner auch viel mehr. Und sie stinken!“

„Jetzt lenkst du vom Thema ab. Hier hast du eine Kaustange. Mal ehrlich, soll das die nächsten 10, 15 Jahre so weitergehen? Wozu waren wir denn bei der Hundeschule?!“

„Ich wollte da nicht hin! Mich hat ja keiner gefragt. Mich fragt ja sowieso nie jemand! Es heißt immer nur sitz, platz, pfui. Und ich finde es nett, dass du schon festlegst, wann ich zu sterben habe. Wieder werde ich nicht gefragt.“

„Nun sei nicht gleich wieder eingeschnappt. Ich weiss, dass du super gut beleidigt tun kannst. Geh doch zum Fernsehen!“

„Jetzt lenkst du aber vom Thema ab! Hast du dir denn auch schon Gedanken darüber gemacht, was du dir für einen Hund nach meinem Tod anschaffst, he? Einen Bernhardiner vielleicht?! Mit denen kannst du so was machen, die sind nicht nur fett, sondern auch blöd!“

„Entschuldige bitte vielmals, Sauertopfgesicht! Aber im Ernst, meinst du nicht das könnte dir Spaß machen? Da triffst du dann auch andere Hunde, mit denen du spielen kannst.“

„Ey weißt du wie mich das nervt?! Immer soll ich mit anderen Hunden spielen. Ich will meine Ruhe haben und den ganzen Tag pennen, verstehst du?! Und weißt du was, Hunde können gar nicht sprechen. Du solltest dir mal `nen Kopf machen, und zwar über deinen Drogenkonsum. Und jetzt lass mich in Ruhe!“

(März 2002)

Irrtum

06.07.14

Im Wald unterwegs.
Ein Bier mitgenommen
& aufgemacht:
Die Hitze!

In der inzwischen pubertären
Kiefernschonung
mich dann die ganze Zeit gewundert
was das für seltsame Tiergeräusche sind:

Vögel eher nicht, es summt mehr,
als es zwitschert.

Vielleicht ein Moskitoschwarm,
oder andere komische Insekten,
man weiss ja nie, heutzutage.

Es flog nur nichts,
schon gar nicht im Zusammenhang
mit den Geräuschen,
die mich konstant begleiteten.

Bevor ich kirre wurde,
wollte ich dem auf den Grund gehen;
vorher aber noch
ein kräftiger Schluck.

Und siehe da, der schiefe Kronkorken
war schuld:
Er ließ ein paar Schaumbläschen durch,
die ihre Freiheit besangen,
ehe sie zerplatzten.