Nächster Halt Tempelhof

S-Bahn. Nächste Station: Tempelhof.
Rüstiger Rentner mit Rucksack: „Na, der bleibt uns ja jetzt noch eine Weile erhalten.“
Ich schau ihn an, neben dem Rucksack hat er noch einen grossen Koffer dabei. Ein Reisender. „Nein, das ist Tegel, was sie meinen. Hier fliegt schon eine ganze Weile nichts mehr.“
„Jaa, nee, schon klar. Ich meine das Feld, das bleibt uns erhalten.“
„Achso, ja. Zum Glück.“
„Tegel, klar, der bleibt.“
„Jo, den werden die nie zumachen. Von wegen: Schönefeld!“
„Genau, eher machen sie Tempelhof wieder auf.“
Allgemeines Gelächter im halben Waggon. Die Türen öffnen sich. Ich steige aus. Ick steh uff Balin.

(Stimmt, das Zitat ist von Annette Humpe, die ihr Berlin auch noch mal neu vertont hat. Aber gerade passt mir Pierre besser in den Kram. Der passt mir eigentlich immer in den Kram.)

NFS-Reminiszenz

22.08.03

Eines Tages, als es krachte,
ich mich auf die Socken machte.
Auf die Straße, Unfall gucken,
`n paar Teile warn noch am Zucken.

Mein Nachbar, wohl noch neu darin,
wurde etwas schmal ums Kinn.
Drauf gab ich ihm `nen weisen Rat,
wie man`s mit mir auch früher tat:

Schau lustiger,
Schaulustiger!

 

 

(* passt aber auch ganz gut zum Wahlausgang)

Ins Blaue

tür

„Und was blieb denn übrig, was haben Sie gelernt in ihrem Geschichtsstudium? Dass die Menschen nun mal so sind?“ fragte die weinende Frau, die aus dem Naziknast kam, die ihren Rundgang abbrechen musste.

„Ja, ich fürchte schon.“ sagte ich nach einigem Zögern.

*

Eigentlich wäre das doch eine tolle Sache: Europa. Eine zwingende sogar. Muss man nicht mal Zweig für bemühen. Doch ich bin es müde geworden: Letztendlich braucht es immer eine Bedrohung. Etwas, womit man den Leuten Angst machen kann, etwas Fremdes von aussen.

Es wäre also ein Leichtes: Einfach eine Gefahr konstruieren, die von so weit aussen kommt, dass sie schon nicht mehr von dieser Welt ist. Klappte mit Gott doch auch ganz gut. Es müssen ja nicht gleich Aliens sein, nicht unbedingt. Wäre auch unwahrscheinlich, leider: Denn das Argument, dass man besser nicht zu denen gehört, die entdeckt werden, sondern lieber zu denen, die entdecken, ist einfach zu schön, zu bestechend. Doch setzt man Zeit – unsere Wimpernschlagexistenz von bisher grob 100.000 Jahren (und nocheinmal so viele werden es schwerlich werden) verglichen mit den wahrscheinlich 7-10 Mrd. Jahren, in denen solch eine Existenz prinzipiell möglich wäre im Universum, ebenfalls bisher – in ein Verhältnis mit den ebenso gedankensprengenden Ausmaßen des  zu überwindenden Raums, dann ist eben der Kontakt mit außerirdischer Intelligenz leider sehr unwahrscheinlich.

Höchst wahrscheinlich ist dagegen, dass ein Stein-, Staub- oder Eisbrocken uns treffen wird. Uns wieder treffen wird, früher oder später. Das taugt also eigentlich, um klar zu machen, dass Grenzen, Wirtschaftskriege und diese ganze alberne Kapitalismus-Unterdrückungs- und Konkurrenzgeschichte jetzt mal langsam ausgespielt haben und es an der Zeit wäre, so nah es nur geht zusammenzurücken, alle Ressourcen gemeinsam zu nutzen, wirklich Wert auf Bildung zu legen. Weil es uns alle und jeden einzelnen treffen könnte, jederzeit und überall. Mutig, wagemutig zusammen in die Zukunft zu schauen, selbstbewusst, mit der Stirn im Wind, weil man eben zusammen auch so etwas meistern kann, das ginge schon. Mit all den Möglichkeiten, die wir haben. Also: Wäre eigentlich ein Klacks, das mit Europa. Da ist viel mehr drin, da müsste doch viel mehr drin sein, wie kann denn das sein, dass da nicht mal ein anständig vereintes Europa drin ist?

Es ist eben so. Sicher ist jeder Einzelne, dem nahegebracht werden kann, dass Menschen prinzipiell und überhaupt gleich sind, ein Gewinn. Wo stehen wir denn heute? Es ist nämlich auch so: Genau wir, jetzt und hier – wir hätten doch die Möglichkeiten. Bei uns stapeln sich nicht die Leichenberge am Straßenrand, gerade mal nicht. Es kommt näher, keine Frage, und es war wohl immer irgendwo da. Doch es geht darum: Dass wir wirklich was machen könnten, schon seit Jahren was hätten machen können, aber es eben nicht tun, meistens, seit Jahren. Von aussen betrachtet kann das doch nur eine haarsträubende Absurdität sein: Nicht diese Wahl jetzt, nicht diese Politik, nicht diese Wirtschaft und nicht diese Landschaftszubetoniererei – sondern wirklich unsere gesamte Existenz. So ist es, und da kann man dann gerne noch mal 300, 500 oder 3500 Jahre drüber philosophieren, aber letztendlich ist es so. So einfach. Von daher ist es ganz gut, dass diese bisherigen 100.000 Jahre – und von mir aus auch noch mal 100.000 drauf – aber eben mit großer Wahrscheinlichkeit viel weniger – wirklich nur ein Wimpernschlag sind. Höchstens eine Fussnote wert, wenn man mich fragt.

Subjektiv betrachtet mag das anders sein. Trotzdem. Wozu noch mehr Argumente, genügend Phantasie reicht vollkommen aus. Und überhaupt: Wo ist denn da eigentlich der Unterschied, bitteschön?

 

Du bist Beute, leg dir schon mal ein schickes Nervenkostüm zurecht.
Pollesch (aus unzureichender Erinnerung zitiert)

Andererseits war es großartig, vorgestern Abend im Biergarten zu sitzen und gestern Abend am Kanal. Zu erkennen, dass es drei Reiher sind, mindestens, und nicht nur einer, wie von mir naiverweise gedacht. Und unglaublich viele Schwäne inzwischen auch, von den Menschen ganz zu schweigen. Dass mindestens zwei von den Reihern sichtlich die Show genossen, die sie abzogen, während sie tief und gemächlich ihre Runden drehten. Dass es also schon so magische Abende gibt. Nebensächlichkeiten. Wenn ich liege, dann liege ich.

PS. Es spricht natürlich nichts dagegen, eine Rede zu halten. Eine gute zumal, eine wirklich gute, kluge und wohl auch wichtige Rede. Wenn aber der Gegenstand ebendieser tagtäglich in Abrede gestellt wird, an so vielen und immer mehr Stellen nicht mehr existiert: Dann ist das auch eine Totenrede. Kaddish.

Abends auf der Fensterbank

13.09.03

Otto Sperber war Frührentner. Sein Rücken! Er hatte sich mal verhoben, und danach noch ein paar Stunden weitergearbeitet. Das ließ sich nicht mehr geradebiegen. Nach der Reha saß er noch einige Monate am Schreibtisch, aber das war nichts für ihn.
Jetzt sitzt er jeden Tag an der Fensterbank. Seine Frau hat ihm zu seinem letzten Geburtstag ein extra Fensterbank-Kissen geschenkt, inklusive selbstgenähtem Wendebezug. Damit war sein Fensterbank-Glück perfekt.
Doch ein Jahr später, inzwischen vollzog Otto Sperber schon drei Jahre seinen unentgeltlichen Spitzeldienst, täglich von 11-16 Uhr, wurde er unzufrieden mit seiner Ausstattung. Das Kissen war perfekt, aber mittlerweile konnte er vorhersagen, was als nächstes passieren würde. Es wurde ihm langweilig. Immer die gleichen schreienden Kinder, immer die gleichen schwangeren Frauen und immer die gleichen quietschenden Reifen. Er musste sein Aufgabenfeld erweitern. Sich eine neue Herausforderung suchen.
Da fiel ihm der letzte Urlaub ein, den er mit seinem Hildchen gemacht hat. Sie waren beide in Kenia, am besten gefiel ihnen die Safari. Davon hatte er noch diverse Mitbringsel auf Lager. Er ging in die Abstellkammer und schob den Vorhang vom Reiseutensilien-Regal zur Seite. Erst griff er noch nach der Flinte, die er auf der Safari ebenfalls dabei hatte, dachte dann aber, dass dies keine so gute Idee wäre, und nahm den Feldstecher in die Hand.
Da hätte er eigentlich schon viel früher drauf kommen können! Von nun an stand ihm endlich die Welt der nackt duschenden Studentinnen in der Wohngemeinschaft gegenüber offen, er konnte sehen, welchen Groschenroman Helga Schumpeter im 3. Stock schräg rechts las und wer in diesem Haus seine Kinder, Frauen oder Hunde schlug. Das dürfte Stoff genug für die Frühpensionärsbeschäftigung der nächsten drei Jahre geben, und dann könnte er sich ja immer noch eine Modelleisenbahn kaufen.
Zweieinhalb Wochen nachdem er damit angefangen hatte, sein Blickfeld mittels Fernglas zu erweitern, bekam Otto Sperber einen Schreck. Er konnte bisher einige nackte Brüste erspähen, auch ein paar fliegende Tassen, aber hauptsächlich doch geblümte Gardinen. An diesem Abend aber leuchtete ihn ein Fenster geradezu einladend an, völlig entblösst und ohne jeden Vorhang. Sein Hildchen hatte sich schon hingelegt, und so konnte er die Nachtschicht in Ruhe angehen. Er hatte inzwischen einen regelrechten Ablaufplan entwickelt, schließlich war er mal ein ordentlicher Angestellter, der jeden Plan einhielt, und eben, wenn kein Plan da war, schnell einen machte. Ordnung musste schließlich sein.
Also konnte er den Blick nicht gleich auf das einladende Fenster richten. Er musste das Haus gemäß seinem Plan von oben rechts nach links, dann die nächste Etage – und so weiter – absuchen. Und vorher natürlich noch schauen, ob Herr Schmidt heute den Hund Gassi führt oder seine Tochter. Die Fenster boten im Großen und Ganzen nur die üblichen Stoffmuster, und in der Studentinnenwohngemeinschaft duschte ein langhaariger Hippie. Ekelhaft, dachte er, als er erkannte, dass ihm keine wohlgeformten Brüste, sondern ein haariger Schrumpelpimmel beim Aussteigen aus der Duschkabine entgegenlachte. Doch langsam aber sicher näherten sich die verlängerten Sperber-Augen dem Ziel ihrer Begierde.
Das hell erleuchtete Fenster im vierten Stock links gegenüber gab den Blick frei auf einen nahezu leeren, weißgestrichenen Raum. Otto Sperbers erster Gedanke war, dass dort wohl gerade jemand einziehen würde. Diese Straße lag in einer zur Zeit sehr beliebten Gegend, es zogen andauernd neue Jungfamilien und Studenten hierher.
In dem Zimmer schien nur eine einzige große Palme zu stehen. Er erkannte, dass der Raum relativ groß war, vom Fenster zur gegenüberliegenden Wand ungefähr sechs Meter, schöner Altbau mit Stuck. Leute mit solchen Zimmern verhängen ihre Fenster meistens mit leinenen Bomull-Gardinen von IKEA. Das war jedenfalls Otto Sperbers Tip. Hildchen kaufte meistens bei Woolworth, aber die hatte ja auch sonst keine Ahnung.
Plötzlich bewegte sich etwas hinter der Palme. Ganz langsam, Stück für Stück, kam ein junger Mann auf einem Bürodrehstuhl hinter der Pflanze vorgerollt. Er hatte vor seinen Augen ein riesiges Armeefernglas, und in seiner linken Hand hielt er ein Schild mit der Aufschrift „Hallo Otto! Schön, dich zu sehen! Du hörst von mir!“. Otto Sperber war geschockt, er machte sofort das Fenster zu und löschte das Licht. Wer war dieser Kerl, und was wollte er von ihm? Woher wusste er seinen Namen?
Am nächsten Tag schlich Otto Sperber nachmittags ziemlich geduckt zum Supermarkt. Er hoffte, er würde diesem Typen nicht begegnen. Er hatte unruhig geschlafen, sich immer wieder gefragt, was er jetzt tun solle. Es ging ja hier nicht mehr nur um sein Hobby. Dieser Rowdy drang in seine Privatsphäre ein, er verhöhnte den anständigen Frührentner Otto Sperber einfach so mir nichts, dir nichts. Das geht ja nun nicht. Sein Steckenpferd würde er wegen so einem Vogel nicht aufgeben, mal sehen, wer hier von wem hört. Mit entschlossener Miene und gefülltem Einkaufsbeutel schloss er beschwingt seine Haustür auf. Irgendwas würde ihm schon einfallen, um diesem Bengel die Flausen auszutreiben.
Als er, oben angekommen, die Wohnungstür aufschloss, stürzte ihm auch schon seine Frau entgegen. Aufgeregt  erzählte sie etwas von einem Paket, das abgegeben wurde, und sie wüsste ja gar nicht, wer ihnen denn ein Paket schicken sollte, es ist doch nicht Ostern oder Weihnachten, und sonst bekommen sie doch nie Pakete. Ob das vielleicht von den Kindern wäre? Es war aber an ihn adressiert, und deswegen hat sie es noch nicht aufgemacht.
Otto Sperber öffnete das Paket, aber er drehte sich ein wenig zur Seite, damit das Hildchen nicht gleich sehen könnte, was sich unter dem Packpapier verbirgt. Er wühlte den Papierwust zur Seite und es kam ein Spielzeugfernglas zum Vorschein. Plötzlich hatte er einen Verdacht, von wem dieses Päckchen stammen könnte. Seine Frau schaute erstaunt. Was soll denn das nun? Wir sind doch keine Kinder hier! meinte sie, vermutete doch eine Fehlsendung.
Ihr Mann wusste allerdings genau, dass das Paket hier goldrichtig war. Er nahm das Kinderfernglas vor die Augen und beruhigte seine Frau. Ist schon gut Hildchen, dat is bestimmt bloss wieder son Scherz. Er selbst war alles andere als beruhigt. Denn was er durch das Kinderfernglas sah, war nicht unbedingt für Kinderaugen gedacht.
Otto Sperber war ein wenig aufgebracht. Solche Spässe trieb man nicht mit ihm. Er kramte noch ein wenig in der Kiste rum, auf der Suche nach einer Erklärung. Und siehe da, seine Finger ertasteten eine Karte. Er setzte sich seine Brille auf und las den Text: Hallo Otto, wie geht`s, altes Haus? Damit Du Dich nicht immer so über die Vorhänge ärgerst, hier ein kleines Geschenk für Dich. Wir sehen uns!
Auf der Vorderseite der Karte war ein Bild von dem Frührentner Sperber zu sehen, wie er auf der Fensterbank gelehnt mit einem Feldstecher seine Nachbarschaft ausspionierte. Dazu war noch handschriftlich vermerkt: Was meinst du, an wen ich diese Karte noch geschickt habe? Das gefiel ihm gar nicht. Er müsste diesem Bürschchen wohl mal eine ordentliche Lektion erteilen. Die Jugend von heute hatte eindeutig zu viel Zeit, dessen war sich Otto Sperber schon lange sicher.
Nachdem er den Kaffee, den seine Frau wirklich über die Jahre immer besser hinbekam, genüßlich geleert hatte, schritt er zur Tat. Erst versicherte er sich, dass das Fenster gegenüber auch erhellt war, auf ihn also gewartet wird. Die Dämmerung war bereits angebrochen und sein Hildchen schaute sich voller Hingabe Dieter Thomas Heck an, war also für die nächsten zwei Stunden abgeschrieben. Er hatte jede Zeit der Welt.
Sein Weg führte ihn wieder einmal in die Abstellkammer, zum Regal, und diesmal holte er die Flinte hervor. Wie es sich gehörte, war diese mit einem Zielfernrohr ausgestattet, das in etwa die Vergrößerung des Fernglases hatte. Otto Sperber war schon sehr auf das Gesicht seines Widersachers gespannt, wenn der mit seinem angeberischen Militärfeldstecher direkt in die Mündung einer etwas antiken, doch erkennbar funktionsfähigen und nicht zugeschweißten Flinte schauen würde.
Diesmal hatte sich der Halunke gar nicht erst hinter der Palme versteckt. Sie war im Übrigen immer noch der einzige Einrichtungsgegenstand in dem Raum. Er saß ganz bequem in seinem Drehstuhl und hatte die Hälfte des Gesichts schon wieder hinter dem Riesenfernglas versteckt. Jetzt machte es sich auch Otto Sperber gemütlich, der rüstige Frühpensionär und Hobbyschütze stützte seinen rechten Arm auf das Kissen und setzte das Gewehr an. Dann kniff er das linke Auge zu und schaute mit dem anderen neugierig durch das Zielfernrohr.
Der Typ von gegenüber schien nicht sonderlich geschockt, aber Otto Sperber sah, dass er wieder ein Schild in der Hand hielt. Er richtete das Gewehr auf das Schild aus und las: War nur ein Scherz, das mit der Karte. Der Junge schien bemerkt oder gesehen zu haben, dass sein Schild gelesen wurde, denn er drehte es um. Auf der Rückseite ging der Text weiter: Allerdings sind die Typen eine Etage unter mir kein Scherz.
Das verstand Otto Sperber nun gar nicht. Er senkte den Lauf ein Stockwerk nach unten, um nachzuschauen, was ihm das Schild bedeuten wollte.
Die Mitarbeiter des BKA fanden es gar nicht witzig, dass ein Frührentner in seiner Freizeit mit einer unregistrierten Waffe auf eine frisch eingerichtete konspirative Wohnung zielte.

*

„Nicht schlecht für den Anfang“ dachte sich der Star der diesjährigen Burgfestspiele, Kaspar Rautenberg, als er das Skript auf dem Weg in eine dieser unsäglichen Freitagabendtalkshows durchlas. Er würde es sich überlegen, ein engagiertes Filmprojekt könnte das werden, so in der Tradition des großen Tetzlaff. Eigentlich fand Kaspar Rautenberg, dass er sich solche Auftritte nicht antun sollte, diese Niederungen fand er zu tief für sich. Doch leider stand es im Vertrag der Festspiele, und Verträge hatte er immer erfüllt, auch das begründete seinen Ruf. Klappern gehört nun mal zum Geschäft. Und schließlich wurde er wenigstens von einer anständigen Limousine abgeholt, die zusammen mit ihm gerade in die Hofeinfahrt des Fernsehstudios einbog.
Knapp eine Stunde später fand er sich wieder inmitten einer Runde sogenannter illustrer Gäste. Es waren zwei Moderatoren, ein Mann, der bärtig war und mit seiner Brille scheinbar den putzigen Intellektuellen gab, und eine Frau, die auch als Schlagersängerin berühmt zu sein schien und sich ansonsten durch ihr tadelloses Äußeres und ihre unbefangen-anzügliche Art qualifizierte. Die Getränke hier waren wie es sich gehörte frei und reichlich vorhanden, was Kaspar Rautenberg ganz gut zu pass kam. Sein übermäßiger Drogenkonsum verursachte in letzter Zeit immer eine gewisse Trockenheit in der Kehle.
Er bestellte sich ein grosses Wasserglas voller Wodka. Weder die Moderatoren noch die Aufnahmeleitung zuckten auch nur mit der Augenbraue bei der Bestellung. Diese Sendung fing an, ihm zu gefallen. Er könnte eigentlich auch gleich noch Werbung für das neue Projekt machen, dachte er sich.
Die Sendung begann und der Burgfestspielstar Kaspar Rautenberg nahm an, dass ihm und den Zuschauern jetzt die anderen Gäste vorgestellt werden würden. Denn ehrlich gesagt kannte er hier kaum jemanden, und ihm fiel die Navigation in der Welt gerade sowieso zunehmend schwerer. Die hatten verdammt guten Wodka hier. Doch die Show schien auf Spannung zu bauen: es wurde, bevor die Klappe fiel, nur noch schnell die Reihenfolge festgelegt. Geplant war, dass Kaspar Rautenberg den krönenden Abschluss der Runde bilden würde, er könne sich aber auch gerne jederzeit früher in ein Gespräch einmischen, falls ihm danach wäre.
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Als der erste Gast, ein blonder, junger und ziemlich eingebildeter Schönling vorgestellt wurde, traute Kaspar Rautenberg seinen Augen und Ohren nicht. Scheinbar hatte irgendjemand diesen Bengel aus einem Cafe gezerrt und in eine billige Sperrholz-Kulisse gesteckt, ehe der sich wehren konnte. Und jetzt sitzt er hier und gibt den Eröffnungsgast, inklusive frisch aufgenommener CD. Nachdem der neunzehnjährige Mimendarsteller seinen zweiten Satz mit den Worten „Als Schauspieler ist das natürlich schwer zu beurteilen…“ begann, nahm Kaspar Rautenberg den Klappstuhl des Tonmanns in die Hand.
Der wohl bedeutendste deutschsprachige Theaterschauspieler zog den Blechklappstuhl zielgenau über den Scheitel des Sprechenden, noch bevor auch nur die ersten Silben des Wortes „Lee-Strasberg-Schule“ dessen Lippen verlassen konnten. Dabei brüllte der diesjährige Star der Burgfestspiele „Dafür habe ich nicht sieben Jahre bei Matschullak gelernt und vierzig Jahre an den besten Theatern gespielt, dass so ein dahergelaufener Taugenichts sagt, er ist ein Schauspieler!“
Das war das vorläufige Ende der Karriere des Kaspar Rautenberg. Sören Schelling trug lediglich eine leichte Gehirnerschütterung und einige Schürfwunden davon und begann schon drei Wochen später mit den Dreharbeiten an einem Film, in dem er einen jugendlichen Voyeur spielte, der einen Rentner zur Weißglut treibt.

Entschuldigungszettel

Damit hätte ich nicht gerechnet: Beim Festplattenaufräumen einen Text zu finden, der gar nicht allzu alt, schon ein paar Seiten stark und überraschend interessant ist. Und unzweifelhaft von einem selber, auch wenn man das erst auf den zweiten Blick erkannt hat.
Da hab ich also vielleicht was Lohnendes zu tun, mal sehen. Könnte man eigentlich gebührend feiern, mit einem guten Essen. Letztens kam ein sehr einfaches Rezept in meinen Feedreader geflattert, wenn man sich die Zutatenliste so anschaut…

fischgulasch

Ja, wir hatten ja nichts, damals. Nur Zwiebeln, Zwiebeln im Überfluss, die haben uns die Russen Sowjetmenschen gnädigerweise gelassen…
Viel Freizeit wird es also nicht geben, vor allem, da ich auch noch zwei überraschende Untermieter habe, aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Requiem für Harry Gelb

(eigentlich wollte ich als nächstes einen anderen alten Text hier einstellen. Die letzten Kommentare erinnerten mich aber an die folgenden – ebenso alten – Worte und ich kramte sie aus dem Archiv:)

19/07/06

Nachts um drei
mit Rohstoff fertig.
Mal wieder.

An Drogen:
seit einer Woche nur noch Bier.
Selbst das:
ab Werk mit Zitronenlimonade gestreckt.

Versucht, die Fauser-Gedichte
aus dem Regal zu holen
und dabei kräftig
über Stühle gestürzt.

Kaputtes Knie, kaputtes Leben.
Der Alkohol wirkt also doch.
Und Fauser sowieso.

 

kurz angemerkt

Blöde Sache an der Analogfotografie: Wenn man verkackt, dann richtig. Film zum Entwickeln gegeben, gewartet – und nur ein paar Groschen bezahlt, weil da nun mal nicht viel zu entwickeln war. Diese Fehlerquote von 1:4 muss deutlich gesenkt werden. (Noch besser: Eigentlich gingen zwei Filme drauf – Der volle, der ein zweites Mal in die Kamera gelegt wurde, und der leere, der stattdessen ins Labor ging.) Aber egal, rational ist das ja sowieso nicht: Für die Kosten von schätzungsweise 20-50 Filmen würde ich wahrscheinlich ein halbwegs passable Digitalkamera bekommen (Für eine Spiegelreflex mag man da eventuell eine Null ranhängen). Doch darum geht es ja auch gar nicht, wobei ich anfangs gedacht hatte, dass diese Rollfilme bestimmt sauteuer sind inzwischen, wegen ihres Raritätenstatusses. Von daher war ich also eher positiv überrascht.

Blöde Sache an der Ukraine-Krise: Man weiss so gut wie nichts, und man weiss nicht, ob das, was man glaubt zu wissen, wahr ist. Und man steht weiter morgens auf, isst und kackt ( und arbeitet und fickt, wenn man Pech bzw. Glück hat) und schläft. Vulgärsystemtheoretisch muss ich immer mit dem Kopf schütteln, wenn irgendjemand in den zwangsläufig dieses Thema berührenden Diskussionen mit Moral kommt. Die taugt als Argument weder bei der Kapitalismuskritik noch in der Politik. Was ist denn das objektive Ziel Interesse von Politik? Wenn ich derzeit die Rolle Putins betrachte, vielleicht sogar über einen Zeitraum von sagen wir mal zehn Jahren, dann steht er gerade ziemlich gut da: Russland ist wieder wer, mission accomplished. Aber eben: Politik. Die taugt höchstens, um dran zu verzweifeln.

Interessante Nebenbeobachtung: Bei einem der unzähligen Interviews in den Hauptnachrichtensendungen fiel mir etwas auf – die Sponsorenwand, vor der die Interviews gegeben werden. Leider ist es keine wirkliche Sponsorenwand, man sucht die Logos von Krauss-Maffei, Heckler&Koch und Co. vergeblich. Trotzdem: Dass es da eine extra gestaltete und angefertigte Pappwand gibt, die nur für die Kameras da ist, finde ich bemerkenswert. Ebenso wie die FAQs auf der zugehörigen Seite des dafür verantwortlichen Ukraine Crisis Media Centers.

screenshot uacrisis.org

screenshot uacrisis.org

Blöde Sache an den Wahlen zum EU-Parlament: Dass seit zwanzig Jahren jede Chance vertan wird, die Menschen für Europa zu begeistern. Ich hatte das gar nicht so zweifelhafte Vergnügen, in meiner Schulzeit kurz nach dem Mauerfall eine Art freiwillige Reeducation mit regelmäßigen Bildungsfahrten nach Bonn und Brüssel zu durchlaufen. Und ich fand die europäische Idee toll – die deutsche Einheit war vielleicht nicht so dolle gelaufen, aber egal, was zählte, war ja ohnehin die europäische Einigung. Dachte ich damals. Die für die privilegierierten Europäaer offenen Schengen-Grenzen fand ich (abgesehen von dem, was sie für die nichtprivilegierten Menschen bedeuten) prinzipiell ebenso gut wie die Euro-Einführung, die ich zusammen mit begeisterten Niederländern in Zandvoort erlebte: Drei Stunden nach Mitternacht am 01.01.2002 waren die Eurobestände der Geldautomaten durch den großen Ansturm restlos geplündert und die Maschine spuckte nur noch Gulden aus. Und jetzt? Bleibt einem nichts übrig, als den Kopf zu schütteln und Die Partei zu wählen. Die APPD gibt es ja leider  zum Glück leider nicht mehr wirklich, die machte mal einen der ehrlichsten und besten Wahlspots aller Zeiten.

Blöde Sache am Internet: Es ist das, was man daraus macht oder machen lässt. Man kann ihm keine Schuld geben. Aber: Es lassen sich eben auch wahnsinnig tolle Sachen damit machen. Ich fand zum Beispiel diesen Beitrag über die Rolle sozialer Medien in den Protesten in der Türkei (ich glaub ich bin durch ix drauf gekommen) rumdum gelungen. Auch nicht schlecht: Eine Reportage über Ostermaiers Schaubühne in Paris beim Online-Zeit-Magazin. Hier muss ich leider am „rundum gelungen“ sparen, der Text entlockte mir nicht ganz die Begeisterung wie die Gestaltung an sich. Zu behäbig, irgendwie – aber das ist ja auch Geschmackssache. Genau wie dieser Text, mal wieder vom Magazin-Blog, den ich sehr unterhaltsam finde. Andere vielleicht ja nicht.

Hauptsache, man schreibt, auch wenn es nicht ganz egal ist, für wen. Ich sehe das ähnlich wie der Kiezschreiber: In selbstgewählter Mündigkeit selbstbestimmter Verelendung zwar, aber dafür angstfrei. Und wo wir schon mal beim Thema Schreiben & Lesen sind: Schade, dass Hildesheim nicht um die Ecke liegt. Aber immerhin, das Lesen bleibt ja noch, und die Liste wird immer länger. Ohne Internet war es jedenfalls viel langweiliger, und es gäbe keine Youtube-Videos von Schlingensief über Bayreuth. Wo Gysi weitestgehend die Klappe hält. Was man ja nicht glaubt, wenn man es nicht gesehen hat. Grandios.

Ansonsten: Vielleicht mal in den Wedding nach Gesundbrunnen fahren.

 

 

Zum Tag der Befreiung

Gestern las ich in der U-Bahn, dass das deutsch-russische Museum zum Tag der Befreiung ein Fest veranstaltet. Es gibt auch ein Gastland – die USA. Noch scheint also nicht alles verloren. Tag der Befreiung kann man übrigens nicht oft genug sagen, und zumindest bis zur Elbe waren es die Soldaten der Roten Armee, die die Deutschen vom Hitlerismus befreiten. Selber haben die das nämlich nicht auf die Reihe bekommen, im Gegenteil.

Zum Thema zwei Zitate aus dem soeben ausgelesenen „Erinnerungen eines Europäers“ von Stefan Zweig, aktuelle Parallelen mag sich jeder selbst denken:

Abends in Belgien bei Verhaeren kam die Nachricht, daß das Luftschiff in Echterdingen zerschellt sei. Verhaeren hatte Tränen in den Augen und war furchtbar erregt. Nicht war er etwa als Belgier gleichgültig gegen die deutsche Katastrophe, sondern als Europäer, als Mann unserer Zeit empfand er ebenso den gemeinsamen Sieg über die Elemente wie die gemeinsame Prüfung. […] aus Stolz auf die sich stündlich überagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wissenschaft war zum erstenmal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein im Werden. Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken und Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit, der sichtlich Bindung und Weltbrüderschaft begehrt! (S. 147)

(Zur Einordnung: Obiges Zitat bezieht sich auf das Jahr 1908)

Vor dieser >Neuen Ordnung< hatte die Ermordung eines einzigen Menschen ohne Gerichtsspruch und äußere Ursache noch eine Welt erschüttert, Folterung galt für undenkbar im zwanzigsten Jahrhundert, Expropriierung nannte man noch klar Diebstahl und Raub. Jetzt aber, nach den immer erneut sich folgenden Bartholomäusnächten, nach den täglichen Zutodefolterungen in den Zellen der SA. und hinter den Stacheldrähten, was galt da noch ein einzelnes Unrecht, was irdisches Leiden? 1938, nach Österreich, war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und an Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglücklichen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen im Jahre 1938 oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß und verzieh. (S.291)

(zitierte Ausgabe: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Fischer Bücherei Frankfurt/M. und Hamburg, 1970.)

DSCF1234

Filmtipp zum Wochenende: Die kommenden Tage. Einfach so.

Warten

DSCF1082

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, als nächstes wieder ein paar Fotos zu veröffentlichen. Allerdings nicht die, die hier zu sehen sind, sondern aktuellere: von dem Film, den ich in den letzten Wochen füllte. Da nun aber das Fotolabor scheinbar komplett das lange Wochenende geschlossen hatte, braucht die Entwicklung um einiges länger als gedacht. Die Vorfreude hat auch eine Medaillen-Rückseite, wenn die einkalkulierte Frist verstrichen ist.

Deswegen also noch etwas Geduld, versüsst mit alten Digitalbildern. Macht aber nichts, denke ich mir, ich bleibe bei meiner Planung. Hier im Internet ist doch sowieso gerade Betriebsausflug zum Gleisdreieck, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich bin da übrigens nicht, selbst wenn ich könnte – viel zu viele fremde Menschen, ganz zu schweigen von dem Fernseh-Rettungsschwimmer. Aber immerhin, was mich überraschte: Johnny erzählte bei Spreeblick, dass diese ganze Veranstaltung von 5000 Menschen besucht wird. Also ungefähr so viele, wie am 1. Mai in der Naunynstraße selbstzusammengepapptes Köfte-Fladenbrot von Önurs Mama gekauft haben. Oder so. Von daher: Schon enorm, wie stark diese re:publica in den Medien präsent ist.

Hier wird sich also erst mal weiter die Zeit vertrieben, bis der Film da ist und hoffentlich ein paar vernünftige Bilder dabei sind.

DSCF1238

Der Wettbewerbsbeitrag

Früh am Morgen, eigentlich noch mitten in der Nacht, ist der junge Dichter mit dem blumigen Namen aufgestanden und hat sich einen Kaffee gekocht, der in Wirklichkeit ein Espresso war, aber für sich allein kocht man ja keinen Kaffee mit der Maschine. Und der Espressokocher machte praktischerweise nun mal nur eine Tasse. Dann ist er zum Bahnhof gegangen und mit dem Zug lange gen Süden gefahren.
Am Ziel setzte sich der junge Dichter auf den ihm zugewiesenen Stuhl und wartete. Er war als letztes an der Reihe an diesem Tag, aber der Anstand gebot es, auch allen anderen zuzuhören. Natürlich durchschaute er die Geschehnisse schnell: Es war das klassische guter Cop – böser Cop-Spiel. Wahrscheinlich würden sie nach der Mittagspause die Rollen tauschen. Zur Zeit oblag es jedoch noch der unansehnlichen Helvetierin, Äußerungen zu tätigen wie: „Das ist für mich keine Literatur, weil es zu sehr bemüht ist, Literatur zu sein.“
Seine Leidensgefährten wurden nach und nach abgefrühstückt, es wurde Bedeutungsschwangeres geredet und Bedeutenderes geschwiegen. Es fielen Sätze wie „Ich kapituliere vor dem Text, und damit bin ich noch schlechter dran als die anderen, die ihn nur nicht verstehen.“ Flugs erstellte man eine Hitliste der beliebtesten literarischen Stoffe der Gegenwart. An deren Spitze tummelten sich Fahrerflucht, Unterwäsche und mystische Tänze auf abgesperrten Kuhweiden.
Als der gute Cop mit den Worten „Wir müssen nun mal den Wahnsinn nehmen, der uns geboten wird, und können uns keinen zusammenspinnen“ beschützend seine Hände über einen Bewerber hielt, dämmerte der junge Dichter schon längst vor sich hin.
Er war sich seiner Sache keineswegs sicher – das war er nie gewesen, doch bisher brauchte er keine Sicherheit, weil ihm dieser ganze Kram nichts bedeutete. Doch langsam überkam ihn ein Gefühl der Unwürde. Dieser Text? Auf dieser Veranstaltung? Bei diesen Juroren?

Als Kind war der junge Dichter derjenige, der immer volle Kante in die Fresse bekam. Nicht von den Sportlern und denen, die schon mit 11 ½ anfingen, zu rauchen. Nein, die waren damit beschäftigt, die Streber zu verprügeln. Er aber wurde von den Mädchen verprügelt, oder von den Strebern, wenn ihnen mal Zeit gelassen wurde. Der junge Dichter war kein Streber, er war ein Sonderling.
Die Streber wandten sich von ihm ab, als er bei den regelmäßigen Nachwuchs-Klugscheissertreffen mit abwegigen Vorschlägen auf sich aufmerksam machte. Sie stellten seine Duldung ein, als er meinte, man könne doch mal eine Runde Scrabble spielen, aber nur mit Palindromen.
Das war das dunkle Geheimnis seiner Seele. Der junge Dichter war, seit er denken konnte, von Palindromen besessen. Nun hatte er seine Kindheit hinter sich gelassen, und er wurde auch nicht mehr so oft verprügelt, könnte also eigentlich zufrieden sein und weiterleben, bis er zur Bevölkerungsgruppe gehören würde, die selbst ein Palindrom ist. Doch diese Rückwärtslaufenden schlichen sich auch immer wieder heimlich in seine Texte ein.
In seinen Frühwerken wirkten sie noch offensichtlicher, da hießen die Hauptfiguren Anna Susanna und Der Freibierfred. Später schrieb er historische Biographien, in denen Fragen auftauchten wie „Du, erfror Freud?“. Ein Beamtenroman, den er verfasste, behandelte auf zehn langen Seiten den Dienstmannamtsneid, aufgrund dessen die Hauptfigur später strafversetzt wurde und nur noch das Lagertonnennotregal bewachen durfte.
Das Schaffen des jungen Dichters wurde durchaus geachtet, und kaum einer bemerkte die Obsession, von der er befallen war. Wenn jemand über die offensichtlichen Fallen, die er beispielsweise in seinem Indien-Reise-Roman mit dem Satz „Na, Fakir, Paprika-Fan?“ aufstellte, stolperte, dann ging das als liebenswerter Spleen durch.
Schließlich werden ja auch Werke wie das eben gerade von einem seiner Konkurrenten vorgelesene, das vom möglichst vielfältigen Gebrauch eines überdimensionierten Geschlechtsteils handelte, als liebenswerter Spleen gewertet.
Der junge Dichter hatte nie die Kontrolle über die Palindrome. Sie bemächtigten sich seiner und der Texte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Im Laufe der Zeit schlichen sie sich mehr und mehr als stilsichere Wendungen ein. Bei einem kolonialen Roman ist an der Frage „Risotto, Sir?“, gestellt von einem livrierten Diener, erst einmal nichts verdächtig. Bis auf dass sich der junge Dichter ein wenig zu sehr hingezogen fühlte zu der Welt mit den livrierten Dienern.
Sein Verhängnis war, dass ihm in der Korrektur alle Palindrome entgegensprangen und ihn auslachten, da sie ihn abermals ausgetrickst hatten. Er versuchte alles. Trotzdem spielten in seinem Roman, der mit den Worten „Der Paranoide hatte recht, er hatte sehr viele Feinde! Aber wer mochte auch schon mit einem wie ihn befreundet sein?“ begann, seinen Höhepunkt mit der Aussage „Du musst nicht paranoid sein, damit sie hinter dir her sind“ erreichte und mit dem Ausruf „Ich bin nicht paranoid, ich werde wirklich verfolgt!“ endete,  auch diverse Neffen, nette Betten und eine erhabene Bahre eine tragende Rolle.
Doch diesmal, so war sich der junge Dichter sicher, hatte er es geschafft. Er war clean, der Text war clean. Sein Wettbewerbsbeitrag war palindromfrei, wenn auch nicht unbedingt leicht verständlich.
Der junge Dichter mit dem blumigen Namen wurde aus seinem Dämmerzustand herausgerufen und aufs Podium gebeten. Er nahm einen Schluck Wasser, faltete das Manuskript glatt, blickte ins Publikum und sprach: „Krawehl, Krawehl“.
Die meisten Journalisten verpassten diesen Moment, da sie gerade draußen beim Rauchen ein Kind interviewten, das ein Seil in der Hand hielt, an dessen anderem Ende ein mittelgroßer Schäferhund befestigt war.
„Meinst du nicht, dass der Hund zu stark für dich ist?“ fragte der Mann vom Kulturfernsehen, der auch in der Raucherpause nicht von seinem Job lassen konnte.
„Quatsch, ich bin doch schon fünf!“

(2003)