Wenn, dann wird es wohl Wedding werden

Gemerkt, dass man nicht alles haben kann: lesen, schreiben und leben. Jedenfalls nicht, wenn noch täglich acht Stunden mit geregelter Tätigkeit verbracht werden, die zwingend frühaufstehen voraussetzt und anderthalb Stunden bahnfahren als Dreingabe bietet. Deswegen zieht das Lesen den Kürzeren, es reicht gerade mal, um morgens kurz den feedreader zu durchforsten und alles Interessante in die Lesezeichenliste zu packen. Sonntagmorgen fragt der Browser dann, ob ich wirklich 76 Tabs öffnen will. Ja, habe ich denn eine Wahl?!

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Angesichts der morgendlichen Massen in der U7 war ich kurz davor, wieder mit den längeren Podcasts anzufangen, da ich nun wirklich nicht im Stehen und von allen Seiten bedrängt lesen mag. Doch dann probierte ich als Alternative die Ringbahn aus, und dort gibt es, entgegen dem schlechten Ruf der S-Bahn, immer einen Sitzplatz für mich. So konnte ich mit Kischs „Marktplatz der Sensationen“ anfangen, Aufbau Verlag, 1981 – damals 3,80 Mark (der DDR), letzte Woche blind für einen Euro gekauft. Läuft das schon unter Wertsteigerung?

Jedenfalls: Blind gekauft, wie gesagt, ich vermutete eine Sammlung bunt zusammengewürfelter Reportagen, doch eigentlich ist es eine Art loser Selbst- und Weltbeschreibung. Erinnert mich in Vielem an Zweigs „Erinnerungen eines Europäers“, das ich vor knapp einem Jahr las.

Was mir bei beiden Büchern durch den Kopf ging – und in ihrem Vergleich, ihrem Zusammenspiel noch mehr auffällt: Dass wir heute die deutschsprachige Literatur (und, gottbewahre, gar die deutschsprachige Kultur) jenseits der Landesgrenzen so gut wie komplett ausgeblendet haben. Wie Zweig das k.u.k.-Wien beschreibt, komplementär dazu Kischs k.u.k.-Prag, da bekommt man eine leichte Ahnung davon, wie vielfältig und reich die deutschsprachige Literatur mal war. Was wissen wir heute über die österreichische oder gar schweizerische Kulturszene? Eigentlich gilt nur noch Berlin – als Gegenstimme aus den Provinzen gibt es ein paar Krimis, das war es dann aber auch. Ansonsten: Frankfurt bzw. Leipzig, wenn mal wieder Messe ist (und ich mich, zumindest bei letzterer, wieder ärgere, dass ich es nicht dorthin schaffe. Aber immerhin hatte ich gestern Abend eine Messebesucherin im U-Bahn-Waggon, die in ihrem lautstark geführten Telefonat eine kostenlose lebensnahe Schilderung für alle Passagiere feilbot.)

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Apropos Berlin: Ich meinte zu dem wankelmütigen, liebenswerten Hauptmieter-Mitbewohner, dass er sich doch mal entscheiden soll. Ich fürchte, er entscheidet sich für das Geld. Dann geht es wohl entweder in den Wedding, wo ich in letzter Zeit eh‘ relativ oft Bier trinken gehe, oder ganz weit weg. Ich wage nicht zu hoffen, in Kreuzberg bleiben zu können.

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Einer der Höhepunkte dieser Woche: Meine Lieblingsfigur aus Breaking Bad (was ich, wie ich inzwischen festgestellt habe, viel zu schnell hintereinander schaute) – Mike Ehrmantraut – bekam beim Spin-off Better call Saul eine Episode nur für sich & seine Hintergrundgeschichte. Und mit dieser einen Folge hat er meiner bescheidenen Meinung nach alles an die Wand gespielt, was bisher aus dem BB-Universum zu uns vordrang.

Noch’n Zitat

Gestern das letzte Fauser-Buch ausgelesen: Die Brando-Biografie. War eine Premiere, die hatte ich mir bisher immer gespart. Eigentlich mag ich Biografien, und natürlich mag ich Fauser, aber die Kombination stand bisher halt jungfräulich im Regal, während die anderen Fauser-Bände längst kräftig abgegriffen sind. Wo doch schon Zweig riet, sich an Biografien zu versuchen, sie aber wenigstens zu lesen. Und Loest eine Karl-May-Biografie schrieb, die auch Fauser beeindruckte (und die ich laaaaangeee bevor ich Fauser kennenlernte mehrere Male las, teilweise noch mit Taschenlampe unter der Bettdecke). Ist also, wenn man so will, ein wichtiges und wahrscheinlich unterschätztes Genre.

So, und was soll der Schmus? (Wie er es sagte) Klar bin ich begeistert, weil es nämlich viel, viel mehr als eine stinknormale Lebensnachschreibung ist; eher eine Weltbeschreibung (und auch Selbstbeschreibung), 1978 in zwei Monaten runtergeschrieben. Wo es eben solche (und noch viel mehr) Kostbarkeiten zu finden gibt:

Das heißt, weder der christliche Humanist [ein gewisser Dr. Kraus, d.Verf.] noch der alte Neulinke [Jean Amery] sehen, daß der aufgeklärt christlich/bürgerliche Staat, dem sie bis in die atomaren Mülldeponien noch ihre Reverenz erweisen, jenem Europa, jenem ‚Abendland‘, jener reinen Utopie längst den Garaus gemacht, das Hirn zertrampelt, die Kinder erschlagen hat. Sie seichen immer noch, von den Managern der Bewußtseinsindustrie ins Fernsehen gehievt, ausgehalten von den Zuhältern jener Konzerne, die das Abendland und Morgenland und diese ganze Erde bis auf den letzten Quadratmeter ausplündern, um sich sodann dem Weltraum zuzuwenden, und das Ganze natürlich verbrämt mit Politik/Kultur/Humanismus/Aufklärung und bewußtseinsmäßig gut geölt von den gemieteten Schreiberlingen jeder Provenienz, sie seichen, schleimen und laichen, bezahlte Zuträger der Macht, Kulturkorrektoren der Multis und ihre Politkommissare, sie sagen Abendland, und was genau meinen sie damit? Wohl doch die Perpetuierung von dessen Untergang.
Der weise Mann wendet sich von solchen Bildern ab und der Gefährtin seiner Nächte, der Poesie und dem Trunk zu. Der Rebell zieht weiter, jenseits des Untergangs liegt vielleicht ein anderes Bewußtsein, eine andere Gemeinschaft, eine andere Welt. Der Politik kommt man mit Politik nicht bei, dem Staat nicht mit Staat, der sterbenden Kultur nicht mit sterbender Kultur, dem Westen nicht mit dem Osten.
[Jörg Fauser: Marlon Brando. Der versilberte Rebell. Eine Biographie. S. 148]

Zum Tag der Befreiung

Gestern las ich in der U-Bahn, dass das deutsch-russische Museum zum Tag der Befreiung ein Fest veranstaltet. Es gibt auch ein Gastland – die USA. Noch scheint also nicht alles verloren. Tag der Befreiung kann man übrigens nicht oft genug sagen, und zumindest bis zur Elbe waren es die Soldaten der Roten Armee, die die Deutschen vom Hitlerismus befreiten. Selber haben die das nämlich nicht auf die Reihe bekommen, im Gegenteil.

Zum Thema zwei Zitate aus dem soeben ausgelesenen „Erinnerungen eines Europäers“ von Stefan Zweig, aktuelle Parallelen mag sich jeder selbst denken:

Abends in Belgien bei Verhaeren kam die Nachricht, daß das Luftschiff in Echterdingen zerschellt sei. Verhaeren hatte Tränen in den Augen und war furchtbar erregt. Nicht war er etwa als Belgier gleichgültig gegen die deutsche Katastrophe, sondern als Europäer, als Mann unserer Zeit empfand er ebenso den gemeinsamen Sieg über die Elemente wie die gemeinsame Prüfung. […] aus Stolz auf die sich stündlich überagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wissenschaft war zum erstenmal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein im Werden. Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken und Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit, der sichtlich Bindung und Weltbrüderschaft begehrt! (S. 147)

(Zur Einordnung: Obiges Zitat bezieht sich auf das Jahr 1908)

Vor dieser >Neuen Ordnung< hatte die Ermordung eines einzigen Menschen ohne Gerichtsspruch und äußere Ursache noch eine Welt erschüttert, Folterung galt für undenkbar im zwanzigsten Jahrhundert, Expropriierung nannte man noch klar Diebstahl und Raub. Jetzt aber, nach den immer erneut sich folgenden Bartholomäusnächten, nach den täglichen Zutodefolterungen in den Zellen der SA. und hinter den Stacheldrähten, was galt da noch ein einzelnes Unrecht, was irdisches Leiden? 1938, nach Österreich, war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und an Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglücklichen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen im Jahre 1938 oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß und verzieh. (S.291)

(zitierte Ausgabe: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Fischer Bücherei Frankfurt/M. und Hamburg, 1970.)

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Filmtipp zum Wochenende: Die kommenden Tage. Einfach so.