[Aktuell – tages-Sau-durchs-Dorf-treiben-aktuell – ist dieser Text nicht mehr, ich begann ihn am Samstag. Überlegte hin und her. Und drücke jetzt eben doch auf „Publish“.]
Nächstes Jahr Letzte Woche in Jerusalem, da war ja ganz schön was los, als Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, in der Knesset seine Rede hielt. Zufall oder nicht, auch Abseits der Aufregung um die Schulz-Rede geriet Israel in der letzten Woche (noch mehr als sonst) auf meinen Schirm (und das Fernweh packte mich wieder). Einiges von dem, was mir dabei über den Weg lief, lohnt sich durchaus, um das teilweise schiefe öffentliche Bild des Landes und seiner Bewohner gerade zu rücken. Also: Yalla Balagan! (Ein arabisches und ein russisches polnisches jiddisches persisches Wort ergeben eine Hebräische Redewendung, die so viel heisst wie „Auf ins Chaos“ – das ist Israel in a nutshell.)
Es fing damit an, dass ich Anfang der Woche die WRINT-Israel-Folgen nachhörte (inzwischen selbst die alte Folge #44 ). Holger Klein, das fiel mir vorher schon auf, stellt Israel in seinem Verhältnis zur Bundesrepublik ja gern auf die gleiche Stufe wie Bayern. Und nun hatte er also jemanden ans Telefon bekommen, der ihm ein bisschen was über Land und Leute erzählen wollte. Da dieses Interview einige Fragen offen liess und einigen Widerspruch hervorrief (das ging mir ähnlich) – führte er einfach danach noch eins. In Kombination kann man beide Gespräche zusammen ganz gut als Einstieg gebrauchen.
Aus der Distanz (und das muss gar nicht immer nur eine räumliche sein) lässt sich recht einfach ein Urteil fällen. Doch Israel ist uns näher und vertrauter, als wir glauben (und als einigen lieb sein mag). Ich mag Tel Aviv unter anderem so sehr, weil es – wie in den Interviews auch beschrieben – ein Berlin mit Strand und mildem Winter (also, ja, dieser Winter…schon klar…) ist. Doch die Parallelen gehen viel weiter und tiefer. Der Levinsky Park liegt zum Beispiel direkt neben dem Oranienplatz. Hier wie da versammeln sich die, die es teils unter schwersten Entbehrungen in den Westen, die freie Welt, das gelobte Land geschafft haben. Hier wie da sind sie, was die Mehrheitsmeinung bzw. die herrschende Meinung betrifft, nicht wirklich willkommen, im Idealfall werden sie geduldet und ignoriert. Allerdings schlägt der Mob gerne mal zu bzw. zündelt, wenn er gelassen wird. Ist in Tel Aviv passiert, hätte aber auch hier passieren können, wieder. Der junge Hamburger (?) Künstler Michael Felix Kijac hat ein interessantes Projekt zur „Dark Side of Tel Aviv“ ins Leben gerufen, auf dessen Seiten es auch weitere Informationen und Facetten zum Thema gibt.
Die nächste Parallele lässt sich – mal wieder – im Bereich Gentrifizierung ziehen. Hier liegen Kreuzkölln, Williamsburg und Neve Tzedek (was übrigens, eine weitere charakteristische (?) Gemeinsamkeit mit O-Platz und O-Strasse, nur ein paar Schritte vom alten Busbahnhof am Levinsky Park entfernt ist) ganz dicht beieinander. Die Mietquote ist in Deutschland ja traditionell hoch, was im internationalen Vergleich generell untypisch ist. Da macht Israel keine Ausnahme, und da es vergleichsweise wenige Wohnungen auf dem Mietmarkt gibt, steigen deren Preise, in den letzten paar Jahren rasant (die der Eigentumswohnungen natürlich ebenso). Junge Erwachsene, selbst aus der akademischen Elite, können sich so auch mit zwei oder drei Jobs keine eigenen vier Wände leisten. Was besonders absurd ist für ein Land, das der Familienpolitik existenzielle Bedeutung zugesteht.
Unter anderem dieses Dilemma führte 2011 zu den Protesten und Zeltlagern auf dem Rothschild-Boulevard. Die Resonanz war ungleich grösser als die der Occupy-Bewegung hierzulande, die Kinder der Mittelschicht, die das Land trägt – wirtschaftlich und durch die allgemeine Wehrpflicht auch militärisch, nicht zu vergessen – waren und sind aber auch (noch) stärker unter Druck als das deutsche Klein- und Mittelbürgertum. Ein weiterer Grund für die grössere Aufmerksamkeit, die der israelischen Protestbewegung zukam, lag sicherlich darin, dass sie mit Daphni Leef ein Gesicht hatte.
Im Endeffekt hat es aber nichts genützt, die Probleme sind noch da, die Zelte nicht mehr. Und Leef steht inzwischen vor Gericht. So verwundert es nicht, dass der Frankfurter Stadtsoziologe Sebastian Schipper im +972Mag-Interview auf einiges Interesse stiess, als er das Modell des Mietshäuser Syndikats vorstellte. Einstweilen wird es dabei bleiben, dass viele junge Israelis, nachdem sie ihr Leben für ihren Staat beim Wehrdienst riskieren mussten, diesem Staat den Rücken kehren: Wegen der Politik, wegen der Kriege, wegen der teuren Wohnungen und sonstigen Lebenshaltungskosten. Immer mehr kommen nach Berlin, push- und pull-Effekt wirken hier gleichzeitig. Die deutsche Presse feiert das natürlich, sieht nur die Attraktivität Berlins, ohne weitere Fragen zu stellen, größtenteils.
Und nun also die Aufregung um die Aufregung über die Rede des EU-Parlamentspräsidenten. Dazu will ich nur auf zwei Sachen verweisen, beide Male handelt es sich wieder um +972-Links, die Haaretz hat leider seit einiger Zeit eine Paywall. Also: In diesem Artikel ist recht pointiert beschrieben, auf welches Problem Schulz mit seiner Rede – Teilen seiner Rede, besser gesagt – stiess: The problem for the Israeli government and its supporters abroad is that reality in the West Bank is biased, so the political war is now aimed at calling things out for what they are. Bei all den unguten Gefühlen, die diese Situation heraufbeschwört, können sich die linken Israelis immerhin noch halbwegs gelungen über ihre rechten Counterparts lustig machen.