Gedankensplitter

Muss man sich die Avantgarde, die Vorhut, die, die voranschreiten und neue Gedankenwege als erste betreten, nicht als unglücklich, verzweifelt und resigniert vorstellen? (Eine kleine Camus-Referenz in diesen Tagen, da kommt man nicht drum rum.)

Die Revolutionäre in der DDR, die teils seit Jahren vielleicht nicht Leib und Leben, aber doch ihre Freiheit riskierten (für die sie stritten, weil sie ihnen viel zu kümmerlich war), wurden innerhalb von Wochen übertönt von denen, die nur schnell Geld wollten, um schnelles Geld zu machen.

Die Pioniere und Visionäre des Netzes, die teils seit Jahren und Jahrzenten die utopischen Potentiale dieses Mediums erkunden und vorantreiben, werden immer wieder in die anarchistische Schmuddelecke gestellt, damit im Netz – wie schon immer bei der Landnahme des Kapitalismus und seiner vorherigen Inkarnationen – für ein paar Glasperlen zukunftsträchtige Märkte etabliert werden können.

Die Foucault-und Derrida-Jünger der 80er und 90er Jahre, die sich ja selbst auch vielen Anfeindungen ausgesetzt sahen, müssen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen (heute heisst das wohl: Sich die Hand ins Gesicht drücken aka Fazialpalmierung), wenn sie sehen, mit welcher Begeisterung die Bachelorstudenten von heute ihre Subjektivierung vorantreiben und die Entgrenzung von dem, was sie Arbeit nennen, als moderne Errungenschaft preisen, dabei hat sich die Ausbeutung einfach nur neu in Schale geschmissen.

Diejenigen, die seit Jahren die Abschaffung von Geheimdiensten bzw. die Beschneidung ihrer Allmacht fordern müssten sich hysterisch lachend vom Merkel-Handygate abwenden. Wenn man Zeit nicht als linear betrachtet und sich ein wenig auf die Erkenntnisse der Astrophysik einlässt; wenn gleichförmige Ereignisse unterschiedlicher Epochen in dieser alternativen Zeitleiste wirklich parallel passieren; wenn Zukunft und Vergangenheit sich wechselseitig bedingen oder gleichzeitig passieren, zukünftiges Handeln gar Entscheidungen in der Vergangenheit beeinflussen: Wie weit weg sind wir von Moskau 1937 („Wyschinski ist ein großer Erzähler und Regisseur von Kriminalfällen. Ihm steht die grenzenlose Phantasie eines Verschwörungstheoretikers zur Verfügung, aber auch der ganze Apparat des NKWD, dessen Verhör- und Folterspezialisten in der Lage sind, Geschichten, Lebensläufe, Ereignisse, Verknüpfungen ad libitum zu produzieren.“ S.107)? Der eine Teil des Apparats jagt unliebsam gewordene Angehörige desselben, wenn es sein muss, rund um die Welt.

Und denen, die heute daran erinnern, dass Mitbürger ausgegrenzt, stigmatisiert, enteignet, dehumanisiert und letztlich vernichtet wurden, bleibt denen nicht jeder Bissen ihres Zigeunerschnitzels im Halse stecken angesichts des Parasiten– und Sozialschmarotzer-Gewäschs, was ständig in unzähligen Kommentarspalten abgesondert wird?

Wie ich drauf komme? Ich war einfach wahnsinnig begeistert vom Einstiegssatz zu Georg Seeßlens Essay „Weitere Notizen zum Sterben der Demokratie“:

Demokratie, im Idealfall, ist die zivilisierteste, freundlichste und vielleicht auch „kreativste“ Form des Bürgerkriegs. Sie bedeutet unentwegten Streit, und wenn es gut geht, dann ist es „offener Streit“. Die Gesellschaft, die sich Demokratie leisten will, muss gelernt haben, mit dauerndem, offenen Streit zu leben, und in gewisser Weise auch Gefallen und Nutzen davon zu tragen, auch und gerade eingedenk der Tatsache, dass dieser Streit weder garantiert, immer zu den besten Ergebnissen zu führen, noch eines Tages wirklich „beigelegt“ zu werden.

Vor zwanzig Minuten hatte ich noch eine Idee, wie ich diesen Splitter mit einem leichtfüssigen Beispiel etwas aufheiternd abschliessen kann, damit er nicht so schwer im Magen liegt. Ist mir leider zwischenzeitlich entfallen.