Der Radfahrer

26.10.2013

Genaugenommen war das Berliner Nachtleben schuld. Wäre ich gestern nicht so versackt, dann hätte ich heute mit dem Hund rausfahren können und wäre gar nicht am Kanal lang gegangen. Obwohl mir dann einiges entgangen wäre.

Zuerst einmal war das Wetter natürlich wunderbar: Der Herbst wird sowieso viel zu wenig gewürdigt, das war in früheren Zeiten durchaus schon mal anders. Wenn die Sonne noch mild scheint und die Blätter aber schon rostigbunt in Haufen am Boden liegen, dann ist das mindestens genauso toll wie wenn im Frühling die ersten Blumen blühen und es überall spriesst und grünt. Nur, dass sich der Hund mit seiner Fellfärbung in den Laubhaufen viel besser tarnen kann, von dem Spass des kopfüber in sie Hineinspringens ganz zu schweigen. Und auch der Radfahrer wäre mir entgangen.

Ich kreuzte gerade die Prinzenstrasse, stand oben auf der Brücke und genoss den Ausblick: In der Ferne war die Heilig-Kreuz-Kirche in ein atemberaubendes Abendrot getauft, dass es nur zu dieser Jahreszeit und mit viel Glück gibt, und unter ihr schimmerte der Kanal. Der Winter lag bereits in der Luft, ich war vor nicht mal einer Stunde aufgebrochen und jetzt dämmerte es schon.

Als ich meine Schritte Richtung Uferweg lenkte, den Abhang hinab, sah ich ihn von weitem das erste mal: Ein grossgewachsener, hagerer, knochiger alter Mann, der kerzengrade auf seinem schlichten alten Herrenrad sass, ab und an seinen Hut festhielt, damit dieser nicht wegflog, ansonsten aber gemächlich und zufrieden in die Pedalen trat. Auch ich war relativ langsam unterwegs, da der Hund jeden einzelnen Laubhaufen genauestens inspizieren musste.

Je näher wir uns jedoch kamen, desto schneller wurde der Radfahrer. Und desto kleiner und wilder.

Ungefähr bei der Mitte der Steigung kreuzten sich unsere Wege, inzwischen schien der Radfahrer weit jünger als ich, er wirkte frisch und aufgedreht und sass auf einmal auf einem BMX-Rad. Sein Hut war längst verschwunden und ihm klebten ein paar verschwitzte Strähnen des langen vollen Haares in der Stirn. Er trat kräftig in die Pedalen und würdigte mich keines Blickes, seine Aufmerksamkeit lag vollkommen auf der Bewältigung des Anstiegs. Ich blieb stehen, um nach dem Hund zu schauen, wobei ich dank der Tarnfarbe einige Mühe hatte, ihn zu finden.

Sobald der Hund wieder halbwegs an meiner Seite war, liess ich meine Augen dann wieder nach dem wundersamen Radfahrer schweifen. Er war schon fast oben an der Brücke angekommen, inzwischen im Vorschulalter und auf einem Puky-Rad mit Stützrädern fahrend. Dabei umkreiste er lachend eine Gruppe finster dreinblickender Nachwuchsgangster und rief: „Auch ihr werdet es irgendwann verstehen: Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen!“ Dabei läutete er wie wild mit seiner Tigerentenklingel und fuhr nach zwei weiteren Schleifen um die Gruppe wieder in wilder Fahrt bergab. Als er an mir vorbeirauschte, sah er auf seinem Rennrad fast ein wenig wie der junge Jan Ullrich aus.

Natürlich setzte ich meinen Weg unbeirrt fort, in Kreuzberg siehst du so was jeden Tag. Ausserdem hatte ich der alten Pennerin, die weiter vorne wie jedes Jahr ihr Winterlager mit Einkaufswagen und Zeltplanen aufgestellt hatte, versprochen, auf dem Rückweg ein Sterni und einen Kurzen mitzubringen. Und ich halte meine Versprechen. Als wir mit kalten Fingerknöcheln dann das Feierabendbier zusammen tranken und der Hund mit einem Dönerrest aus dem blattlosen Gebüsch kam, erzählte sie mir, dass der Radfahrer dieses Spektakel jeden Abend veranstaltet: „Ick weeß bloss nich, wat der mit diese Sissy Voss hat, der Spinner. Is aber och ejal. Punkt zwölf wird der eh von die Ratten uffjefressen, kannste die Uhr nach stellen.“