Fragmentarische Korrespondenz, weich und divers (IV)

Über Inspiration, das Schreiben, das (Vor)Lesen, Bücher, Filme, Musik und den ganzen Rest: Von Kriegen und Frieden, und auch vom niemals zufrieden oder je ganz fertig genug sein. Kann Spuren von Drogen enthalten.

Ein einseitiger Briefroman in Fortsetzungen

(2002-2004)

(Zur Vorrede und Teil I hier entlang.)
 

Datum: Sat, 16 Nov 2002 21:05:51 +0100 –>

 

Betreff:

 
Hallo M.,
sorry dass diese Antwort mal wieder etwas gedauert hat, aber ich musste die Kritik erst mal verdauen… Quatsch! Einfach keine Zeit. Denn man höre und staune, ich habe mich mal wieder auf das Pflaster der Großstadt gewagt, nachts, um zu sehen, was da so passiert. Und ich habe einige Entdeckungen gemacht. Es gab in Berlin mal einen Club (was ist ein Club? so heisst hier alles) der hieß eimer. Völlig baufälliges Haus, besetzt mit tollen Partys. Ich dachte bisher, der eimer ist seit Jahren abgerissen, oder wenigstens von der Baupolizei gesperrt. Und letzte Woche erzählt mir ein Freund, dass er dort bei einer Party auflegen wird. Da musste ich natürlich hin. War auch sehr sehr lustig, durch unseren privelegierten Status haben wir dann die meiste Zeit im Backstage-Bereich rumgehangen und Tüten gerollt. Da kommt man dann auch mit den Veranstaltern (alte Hausbesetzer der ersten Stunde) ins Reden, und einer von denen zeigte mir den Hinterhof, sehr schön gestaltet. Doch das überraschende an der Sache war, dass genau auf diesem Hinterhof die Garagen standen, in denen ich vor fast zehn Jahren meine ersten aufregenden illegalen Partys in Berlin, damals noch als „Touri“, feierte. Solche Vergangenheits-Reminiszenzen sind schon ganz cool. Dann gab es noch ein Kicker-Turnier und meine allerbeste Jugendfreundin hatte Geburtstag, und keiner ausser mir war da, um mit ihr zu feiern, weil sie sich nur mit Rockstars umgibt, die ständig touren.*g* Und nebenbei war da ja auch noch die Uni. Doch sei beruhigt, ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, dir nicht geschrieben zu haben…
Sind deine Leute aus Gorleben heil angekommen? Was ich am interessantsten fand, waren die Aufdrucke auf den Castoren: www.kernenergie.de – ein ganz neuer ansatz. Demnächst auf US-Bomben: www.usarmy.gov oder? Wieder ein paar Krümel, die man in einem Text verarbeiten könnte.
Meine Lektüre habe ich noch mehr vernachlässigt als die Korrespondenz mit dir. Man kann halt nicht alles haben.
Ich hab mir meinen Moritzplatz-Text auch noch mal durchgelesen, der tollste ist er wirklich nicht. Du hast schon recht, irgendwie passt er nicht ganz, es stimmt was nicht. Aber ich denke es liegt an der Entstehung, zusammengefrickelt halt. Mal schauen, ob ich ihn umschreibe oder so. Zu Musik-Beeinflussungen und anderen Erlebnissen kommt an diesem Wochenende noch eine Mail, versprochen, doch jetzt muss ich mich der kapitalistischen Verwertungslogik unterwerfen gehen. Es wurde übrigens in deinem Namen bei der [Literatur-Website] Schindluder getrieben – da wagt es jemand, der uns bekannt ist, als M. zu sprechen! Ich hab übrigens noch mal in meinem alten Deutsch-Russisch Buch nachgeschlagen, und auf einmal fielen mir all die Vokabeln wieder ein, die ich mal in der Schule lernen musste. Das nutzte ich dann gleich, um im eimer bei der Party mit einem Saxophonisten aus Minsk Späßchen zu machen. Manchmal nützt es doch was, was man in der Schule lernt.

bis gleich, versprochen!

S.
 

Datum:

 

Betreff:

 
Hallo M.,
was ist denn schiefgegangen? ich hoffe nichts, was man nicht wieder begradigen könnte. Ich stehe übrigens sehr wohl zu meinem hund. ihr name ist k.[Hund], inzwischen ist sie zweieinhalb jahre alt. und du hast recht, mit einem ausgewachsenen alkohol-kater hat sie ihre probleme, weil der kater es nicht so gerne hat, morgens früh aufzustehen.
ich hatte heute einen ziemlich guten tag, weil das wetter hier klasse war. kalt zwar, aber total sonnig. ich war total sonnenstrahlen-high und bin mit dem hund zwei stunden lang am landwehrkanal, der komplett durch kreuzberg läuft, langegangen. nette parks und nette leute. aus dem unterbewusstsein schrie zwar ständig eine stimme „du musst unbedingt jede freie minute für die bibliothek nutzen, weil du in zwei wochen ein scheiss-referat halten musst“, aber das war mir egal. jetzt mache ich mir erst mal einen leckeren kakao mit extra-zutaten und dann werde ich zur gewissensberuhigung noch zu meinem 18-20 uhr seminar gehen, wahrscheinlich…
leider bin ich noch nicht dazu gekommen, mehr zu schreiben. ich fürchte, dass das jetzt wieder ein bisschen abnimmt, zeitbedingt. und was ich ja total hasse ist, dass es jetzt um halb fünf schon dunkel ist. blöder winter!
Ich fand das damals auch gar nicht so toll, russisch lernen zu müssen. eigentlich hatte ich nie probleme mit sprachen, aber das hat mich echt null interessiert. wahrscheinlich weil es aus zwang war, genau wie der geografieunterricht in der sechsten klasse, wo wir jeden fluss und hügel in der udssr auf der karte zeigen können mussten. heute allerdings fallen mir so ab und zu oder in gesprächen wieder ein paar brocken russisch ein, und das wiederum finde ich ziemlich lustig. weil mir die sprache eigentlich vom klang her ganz gut gefällt. und man ist ja unter wessis sowieso der star, wenn man nur kyrillische buchstaben lesen kann :-). aber richtig lernen würde ich es wahrscheinlich nicht mehr wollen, dafür war es dann doch zu kompliziert. doch in einem hatte mein russischlehrer recht: er meinte, wir werden nie wieder das wort „dostoprimelschatjelnosti“ (sieht das lustig aus in der schrift!) vergessen, und das trifft bei mir zu.
Also, irgendwie wird meine kommunikationsfähigkeit gerade von etwas anderem abgelöst, deshalb erst einmal viele grüsse an dich und das bka, das einzige, was mir noch zu wiesbaden einfällt *g*.
Bis bald
s.
 

Datum: Thu, 21 Nov 2002 22:03:47 +0100 –>

 

Betreff: Re: ich komme um mich zu beschweren : -)

 

Sehr geehrte Frau M.,
ein Zitat! Und ich hab es erraten! Oder?! Als weise Literaturwissenschaftlerin werden sie ja wohl denn Betreff ihrer letzten Mail nicht so „mir nichts, dir nichts“ aus der Luft gegriffen, sondern mit Bedacht gewählt haben?! Eine leise Anspielung an den Titel einer Audioveröffentlichung einer Hamburger Musikkapelle, nicht wahr?
Naja, genug mit dem Quatsch, aber irgendwie hatte deine mail so einen ansteckenden Blödelvirus. Anthrax in elektronischer Form? (Wegen diesem Satz wird unser briefwechsel jetzt wahrscheinlich von mindestens drei geheimdiensten überwacht, falls du denen irgendwas mitteilen willst : -)
Die Zeit ist aber auch bei mir schon ganz verkümmert, ich glaube K.[Hund] frisst ihr das Futter weg… Doch letztens blühte sie auf, und entführte mich in das „Vergiss die schlauen Bücher und schreib mal wieder was“-land. war ein netter besuch, vielleicht werde ich dir bald mehr darüber berichten.
Staubsaugervertreter werden wahrscheinlich die Helden in den Sagen über unsere Zeit werden, die man sich später mal so am Plutonium-Lagerfeuer erzählen wird. Mystische Gestalten mit obskuren Riten. Wenn du es schaffst, Zugang zu dieser erlesenen Kaste zu erlangen, vergiss nicht, dass du mich mal gekannt hast. : -)
Was genau sind eigentlich Nasenwärmer? Das würde mich mal interessieren, und gibt es die nur in den grössen s, m, l, xl oder kommen da noch kategorien wie krumm, platt, spitz und mike krüger dazu?
Übrigens noch etwas mystisches in deinem brief: BAföG! ich kannte bisher noch leute, deren ältere geschwister mal mit jemanden zusammen studiert haben, der jemanden kannte, der BAföG bekam. Hihi.
Du siehst deine Mail hat mich auch nicht gerade klar denkend und nüchtern analysierend gemacht, so wie ich es jetzt bräuchte, um mein nächstes referat vorzubereiten (thema übrigens: poetry slams und social beat – hab ich geschickt eingefädelt, oder? das angenehme mit dem nützlichen verbinden, oder wie ging der spruch?)
Obwohl, vielleicht lag es ja nicht nur an deiner mail, vorweihnachtsgemäss habe ich auch noch ein paar plätzchen verzehrt.
ich hoffe, die nächste botschaft von mir wird etwas ernsthafter, denn das ist ja schließlich kein spass hier, nicht wahr!
bis dann
s.

ps. heute mal ohne ps.
 

Datum:

 

Betreff:

 
Hallo M.,
jetzt weiss ich, was ich mir zu Weihnachten (Mein Lieblingsdialog zur Zeit: „Mann, wie schnell die Zeit schon wieder vergangen ist, schrecklich!“ Antwort: „Ich finds gut, schließlich ist in einem Monat Weihnachten schon wieder vorbei!“) wünsche: Nasenwärmer Marke „Mike Krüger.“ Kennst du die legendären Supernasen-Filme?! Leider war ich, als die liefen, noch zu jung, um Drogen zu konsumieren. Das würde ich gerne nachholen, doch leider wird immer nur Sissi wiederholt…
Ich habe auch nichts gegen eine konservative Tüte, aber da in dieser Hinsicht hier das Land des übersprudelnden Vorrats an Milch und Honig ist, nehme ich mir ab und zu auch mal die Zeit, um mit der Sache, die meine Kreativität fördert, kreative Dinge anzustellen: Kakao, Kekse…. Kleine halbwegs passende Anekdote am Rande:
Als ich in Südafrika war, haben wir circa eine Woche vor Abreise in einem kleinen Kaff einen einheimischen Bekannten ein Paar Rand in die Hand gedrückt, umgerechnet so fünfzehn Mark, um Gras zu kaufen. Wir sind zusammen mit ihm in ein Township gefahren (laut sämtlicher Reiseführer wahrscheinlich zu Recht absolute No-go-Area), er ging in eine Hütte, wir waren die einzigen Weißen in einem Umreis von ein paar Kilometern, ein paar Kids kamen an unser Auto, nahmen ein paar Schlucke von unserem Bier und lobten meine Frisur und unterhielten sich echt nett mit uns. Dann kam unser Bekannter aus der Hütte mit einem Packen Zeitungspapier in der Hand. Er meinte ich solle losfahren, was ich auch tat. Auf einmal hörte ich von hinten aus dem Wagen Geschrei, mein Freund hatte das Päckchen geöffnet, und ich dachte, wir wären beschissen worden – absolut blöder Gedankengang, denn es offenbarten sich feinste fünfzig Gramm Gras. Im Endeffekt ein Preis von 30 Pfennig… Damit hatten wir nicht gerechnet, es fiel uns echt schwer, das in einer Woche zu vernichten. Da kam dann die richtige Kreativität zum Einsatz: Salate, Soßen, Grill-Marinaden…. Trotzdem hatten wir am Ende der Woche noch ziemlich viel zu verschenken.
Könnte man fast eine Geschichte draus machen….
Apropos, ich habe gerade einen Text auf meine Seite gestellt, denn ich bei Computer-Aufräumarbeiten gefunden habe. Er ist ok, nicht supertoll, aber ich habe ja wie gesagt letztens einen geschrieben (über das Schreiben), mit dem ich bisher ziemlich zufrieden bin, doch er muss noch ein wenig reifen, bis er ans Licht darf…
Du kannst A. übrigens trösten, als ich in meinen Jugendtagen noch in der Ostsee-Kleinstadt-Drogenprovinz lebte, habe ich mal in einem Haschbrocken (das war damals das einzige, was man so bekam) einen Schnürsenkel gefunden…
Ich schicke dir gerne mein Poetry-Slam-Referat, oder auch die Hausarbeit, die ich dazu noch schreiben muss. Doch das Referat ist erst in einer Woche, und du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das jetzt schon fertig, geschweige denn überhaupt richtig angefangen habe :-).
Ich warte gespannt auf deine Bafög-Geschichten, auch wenn sie von was anderem handeln sollten. Ich allerdings werde mir meine Kontoauszüge heute mal ausnahmsweise nicht vorm einschlafen anschauen, da grusele ich mich immer so. Das wäre doch mal übrigens eine nette Idee für ein Helloween-Kostüm: Eine Verkleidung aus Kontoausdrucken! Richtig gruselig! Trotz dieser genialen Idee werde ich wohl nicht an solchen Veranstaltungen teilnehmen… Kannst du mir das Phänomen Karneval in Köln erklären?
Nun gut, für heute war`s das, ich hoffe bald von dir zu hören! Viele Grüße aus der Pleite-Hauptstadt an A. und ihre Schwester, und natürlich auch brutalstmöglich an Rolli Koch.
Bis Bald und Druschba
S.