Bei 60 habe ich aufgehört zu zählen, deshalb kann ich nur grob überschlagen: gute zweieinhalb Monate dauerte die Suche, es gab Wochen, in denen ich an drei oder vier Tagen fünf oder mehr Besichtigungen hatte – 80 Wohnungen waren es sicher, wahrscheinlich sogar über 100. Seit knapp einem Monat absolvierte ich die Termine meist mit dem frisch überholten Fahrrad, der Kilometerzähler hat die 500 überschritten.
Und dann war es irgendwann doch soweit, als die Zweifel schon immer größer wurden, als längst die Erkenntnis eingesetzt hatte, dass dies eine reine Lotterie war: Irgendwann ist alles in der Bewerbung drin, was man rausholen bzw. reinstecken kann; irgendwann weiss man, welche Termine man sich sparen kann, weil dort prinzipiell nicht an arme Menschen vermietet wird; irgendwann erkennt man, dass es auch eine Glückssache ist – es kann nach einer Woche klappen, oder nach einundfünfzig.
Wie bei anderen Glücksspielen auch versucht man, die beeinflussbaren Faktoren so gut wie möglich zu steuern: Der Radius wird vergrössert (Lichtenberg, Niederschöneweide, Neukölln ist sehr gross…), die günstigsten Zeiten werden abgepasst, Anzeigen werden auch jenseits der ausgetretenen Pfade gesucht.
Die eine oder andere Überraschung gab es natürlich auch: Immer noch Wohnungen mit Ofenheizungen, diversester Art sogar: Vom klassischen Kachelofen bis zur Forster Heizung, Nachtspeicheröfen und auch einige Gamats. Gamate. Wie auch immer. Ich war in Häusern, in denen vor knapp zwanzig Jahren Freunde wohnten und die bis heute nicht saniert wurden. Ich habe Schimmel dessen sich nicht geschämt wurde gesehen und totsanierte Wohnungen, wo aus 25 Quadratmetern alles rausgeholt wurde, bis auf einen Platz für die Waschmaschine.
Und dann erreichten mich an einem Tag gleich zwei gute Nachrichten (schlechte gab es jeden Tag, wenn überhaupt): Bei einer Wohnung war ich in der Runde der letzten Fünf, die andere hätte ich sicher. Natürlich wählte ich die sichere Variante, wenn dadurch auch eine mögliche Genossenschaftsmitgliedschaft verloren ging – Unsicherheit hatte ich genug gehabt in letzter Zeit. Sonst nahmen sie sich nicht viel, im Gegenteil. Und das Beste daran: Ich wohne jetzt ziemlich genau da, wo ich hinwollte, wo ich schon vor gut sechs Wochen kaum zu hoffen wagte, wohnen zu dürfen. Von Kanal zu Kanal, keine 300 Meter vom Deichgraf entfernt, was ich natürlich sofort genau mit dem Fahrrad nachgemessen habe. Danke also für all die guten Wünschen und das Daumendrücken – ich habe schon fast nicht mehr daran geglaubt, jedenfalls nicht an die Ermutigung von Rob, dass ich weiter versuchen sollte, in dieser Gegend etwas zu finden.
Wie sich herausstellte, schliesst sich damit sogar ein etwas skurriler Kreis: Die Strasse ist nach einem Adelsgeschlecht benannt, für das sich mein Urgroßvater einst auf deren Gut verdingte.
Eine sentimentale Abschiedstour werde ich mir nicht verkneifen können, zum Tabakladen, zum Getränkehändler um die Ecke, zum Casolare und zur Eisbude am Kanal. Doch es war andererseits auch längst kein Spass mehr: Die Bauarbeiten sind in vollem Gange, in den drei Hausflügeln sind nur noch sechs Wohnungen bewohnt. Sie haben gewonnen.
Natürlich werde ich weiterhin regelmässig mein zweites Wohnzimmer aufsuchen; Kreuzberg wird immer ein besonderer Ort für mich bleiben, und wer weiss, vielleicht ist genau jetzt Zeit, zu gehen. Für mich. Gestern kamen wir drauf, in der Kneipe im Wedding, in die ich jetzt schon viel zu oft gehe: Wir wohnten beide mal in der O-Strasse, Ende der Neunziger, und waren uns einig, dass das jetzt die Hölle wäre.
Ich bin also froh darüber, dass ich für zwei Zimmer (und 50qm) weniger 50 Euro mehr Miete zahle. Ehrlich glücklich. Weil ich es viel schlimmer hätte erwischen können. Verrückte Welt.