Früh am Morgen, eigentlich noch mitten in der Nacht, ist der junge Dichter mit dem blumigen Namen aufgestanden und hat sich einen Kaffee gekocht, der in Wirklichkeit ein Espresso war, aber für sich allein kocht man ja keinen Kaffee mit der Maschine. Und der Espressokocher machte praktischerweise nun mal nur eine Tasse. Dann ist er zum Bahnhof gegangen und mit dem Zug lange gen Süden gefahren.
Am Ziel setzte sich der junge Dichter auf den ihm zugewiesenen Stuhl und wartete. Er war als letztes an der Reihe an diesem Tag, aber der Anstand gebot es, auch allen anderen zuzuhören. Natürlich durchschaute er die Geschehnisse schnell: Es war das klassische guter Cop – böser Cop-Spiel. Wahrscheinlich würden sie nach der Mittagspause die Rollen tauschen. Zur Zeit oblag es jedoch noch der unansehnlichen Helvetierin, Äußerungen zu tätigen wie: „Das ist für mich keine Literatur, weil es zu sehr bemüht ist, Literatur zu sein.“
Seine Leidensgefährten wurden nach und nach abgefrühstückt, es wurde Bedeutungsschwangeres geredet und Bedeutenderes geschwiegen. Es fielen Sätze wie „Ich kapituliere vor dem Text, und damit bin ich noch schlechter dran als die anderen, die ihn nur nicht verstehen.“ Flugs erstellte man eine Hitliste der beliebtesten literarischen Stoffe der Gegenwart. An deren Spitze tummelten sich Fahrerflucht, Unterwäsche und mystische Tänze auf abgesperrten Kuhweiden.
Als der gute Cop mit den Worten „Wir müssen nun mal den Wahnsinn nehmen, der uns geboten wird, und können uns keinen zusammenspinnen“ beschützend seine Hände über einen Bewerber hielt, dämmerte der junge Dichter schon längst vor sich hin.
Er war sich seiner Sache keineswegs sicher – das war er nie gewesen, doch bisher brauchte er keine Sicherheit, weil ihm dieser ganze Kram nichts bedeutete. Doch langsam überkam ihn ein Gefühl der Unwürde. Dieser Text? Auf dieser Veranstaltung? Bei diesen Juroren?
Als Kind war der junge Dichter derjenige, der immer volle Kante in die Fresse bekam. Nicht von den Sportlern und denen, die schon mit 11 ½ anfingen, zu rauchen. Nein, die waren damit beschäftigt, die Streber zu verprügeln. Er aber wurde von den Mädchen verprügelt, oder von den Strebern, wenn ihnen mal Zeit gelassen wurde. Der junge Dichter war kein Streber, er war ein Sonderling.
Die Streber wandten sich von ihm ab, als er bei den regelmäßigen Nachwuchs-Klugscheissertreffen mit abwegigen Vorschlägen auf sich aufmerksam machte. Sie stellten seine Duldung ein, als er meinte, man könne doch mal eine Runde Scrabble spielen, aber nur mit Palindromen.
Das war das dunkle Geheimnis seiner Seele. Der junge Dichter war, seit er denken konnte, von Palindromen besessen. Nun hatte er seine Kindheit hinter sich gelassen, und er wurde auch nicht mehr so oft verprügelt, könnte also eigentlich zufrieden sein und weiterleben, bis er zur Bevölkerungsgruppe gehören würde, die selbst ein Palindrom ist. Doch diese Rückwärtslaufenden schlichen sich auch immer wieder heimlich in seine Texte ein.
In seinen Frühwerken wirkten sie noch offensichtlicher, da hießen die Hauptfiguren Anna Susanna und Der Freibierfred. Später schrieb er historische Biographien, in denen Fragen auftauchten wie „Du, erfror Freud?“. Ein Beamtenroman, den er verfasste, behandelte auf zehn langen Seiten den Dienstmannamtsneid, aufgrund dessen die Hauptfigur später strafversetzt wurde und nur noch das Lagertonnennotregal bewachen durfte.
Das Schaffen des jungen Dichters wurde durchaus geachtet, und kaum einer bemerkte die Obsession, von der er befallen war. Wenn jemand über die offensichtlichen Fallen, die er beispielsweise in seinem Indien-Reise-Roman mit dem Satz „Na, Fakir, Paprika-Fan?“ aufstellte, stolperte, dann ging das als liebenswerter Spleen durch.
Schließlich werden ja auch Werke wie das eben gerade von einem seiner Konkurrenten vorgelesene, das vom möglichst vielfältigen Gebrauch eines überdimensionierten Geschlechtsteils handelte, als liebenswerter Spleen gewertet.
Der junge Dichter hatte nie die Kontrolle über die Palindrome. Sie bemächtigten sich seiner und der Texte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Im Laufe der Zeit schlichen sie sich mehr und mehr als stilsichere Wendungen ein. Bei einem kolonialen Roman ist an der Frage „Risotto, Sir?“, gestellt von einem livrierten Diener, erst einmal nichts verdächtig. Bis auf dass sich der junge Dichter ein wenig zu sehr hingezogen fühlte zu der Welt mit den livrierten Dienern.
Sein Verhängnis war, dass ihm in der Korrektur alle Palindrome entgegensprangen und ihn auslachten, da sie ihn abermals ausgetrickst hatten. Er versuchte alles. Trotzdem spielten in seinem Roman, der mit den Worten „Der Paranoide hatte recht, er hatte sehr viele Feinde! Aber wer mochte auch schon mit einem wie ihn befreundet sein?“ begann, seinen Höhepunkt mit der Aussage „Du musst nicht paranoid sein, damit sie hinter dir her sind“ erreichte und mit dem Ausruf „Ich bin nicht paranoid, ich werde wirklich verfolgt!“ endete, auch diverse Neffen, nette Betten und eine erhabene Bahre eine tragende Rolle.
Doch diesmal, so war sich der junge Dichter sicher, hatte er es geschafft. Er war clean, der Text war clean. Sein Wettbewerbsbeitrag war palindromfrei, wenn auch nicht unbedingt leicht verständlich.
Der junge Dichter mit dem blumigen Namen wurde aus seinem Dämmerzustand herausgerufen und aufs Podium gebeten. Er nahm einen Schluck Wasser, faltete das Manuskript glatt, blickte ins Publikum und sprach: „Krawehl, Krawehl“.
Die meisten Journalisten verpassten diesen Moment, da sie gerade draußen beim Rauchen ein Kind interviewten, das ein Seil in der Hand hielt, an dessen anderem Ende ein mittelgroßer Schäferhund befestigt war.
„Meinst du nicht, dass der Hund zu stark für dich ist?“ fragte der Mann vom Kulturfernsehen, der auch in der Raucherpause nicht von seinem Job lassen konnte.
„Quatsch, ich bin doch schon fünf!“
(2003)