Gabel, Löffel, Pfanne

Es regnete. Verdammt viel und schon verdammt lange. Dabei war das hier doch mal mein kleines, perfektes Paradies. Für eine Nacht. Und jetzt regnete es! Wir fuhren den sich durch die Berge schlängelnden Weg entlang. Mussten aufpassen, dass wir mit unserem Citi Golf hier draußen in der Wildnis nicht steckenblieben: der Begriff Straße ist bei dieser Witterung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es ging von einem Gebirgskamm runter in die Lagune, über das, was der Regen aus einer unbefestigten Sandpiste macht.

Zwischendurch hielten wir kurz an, einerseits weil uns ein Truck entgegenkam, und unmöglich zwei Fahrzeuge gleichzeitig die anderthalb schlammigen Spuren passieren konnten. Andererseits, weil man von dieser Ausweichbucht – das wusste ich noch von meinem letzten Besuch – einen unbeschreiblich schönen Blick auf die Lagune und den urwaldhaften Bewuchs des Tales hatte. Damals. Jetzt sah man nur graue Regenschleier, und direkt vor der Nase eine grüne Mauer aus Blättern und Ästen. Der Regen machte einen Riesenlärm auf dem Blattwerk, und von der Lagune sah man regennebelbedingt kein Stück.

Als wir unten ankamen, war nichts mehr da von dem puderzuckerartigem Sand, der indische Ozean war nicht wie gewohnt blauglänzend. Über dem Matsch, der mal Strand war, lag nicht wie sonst der leichte, salzige Dunst, der sich durch das lange Auslaufen der warmen Wellen bildete, sondern ein grauer Vorhang, genauso grau wie sich der Ozean heute gab. Die riesigen Schieferbrocken, die aus dem Wasser ragten, hoben sich jetzt nicht mehr mattschwarz hervor, sondern versanken im grauen Einheitsbrei.

Das fing ja schon mal scheisse an. Da konnte ich auch nicht mehr damit punkten, dass der Backpacker, in dem ich unsere Übernachtung geplant hatte, einen ziemlich netten Pool hatte. Dort angekommen, wieder über moddrige Wege, die dem Leihwagen alles abverlangten, merkte ich, dass Einsamkeit je nach Wetterlage bewertet werden kann: Strahlt die Sonne, ist eine abseits gelegene Unterkunft mit Pool und Affengebrüll aus dem benachbarten Wald zum Sonnenuntergang sehr schön. Wenn es allerdings wie jetzt regnet, dann ist nicht nur der Himmel grau, sondern auch die Gesichter der Backpacker-Angestellten. Es waren andere als im letzten Jahr. Wir bekamen für viel weniger Geld viel mehr Raum. Nicht ein Zimmer, sondern ein ganzes Häuschen, mit eigener Küche und Bad. Doch was bringt das, wenn das Wetter schlecht ist?

Wir waren fast die einzigen Gäste. Drei Bungalows weiter verbrachte eine einheimische Familie ihren Urlaub. Scheinbar schon länger, und scheinbar war das Wetter hier auch schon länger so. Denn ihre Laune liess sich sehr gut mit der eines Durchschnittsehepaares in der dritten Urlaubswoche an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste vergleichen – die Spiele sind alle durchgespielt, die Bücher zerfleddert und die Klamotten so durchnässt, das man beim besten Willen keine Fahrradtour mehr machen konnte. Und die Kinder brüllten.

Als uns dann auf Nachfrage mitgeteilt wurde, dass aus verständlichen, kapazitätstechnischen Gründen – mehr Kapazitäten da, als genutzt werden konnten – die Bar heute Abend nicht aufmachen würde, wurden wir ratlos. Es gelang uns, zwei Sixpacks aus dem Kühlschrank käuflich zu erwerben. Aber es war erst 3 Uhr nachmittags. Als um zehn nach vier von dem ersten Sixpack nur noch die Papphülle übrig war, die man in besseren Zeiten als Krone verwendet hätte, war uns klar, dass wir ein Problem bekommen würden. Schätzungsweise um zwanzig nach fünf.

Also setzten wir uns in den geschundenen Citi Golf und schlitterten die 20 Kilometer zurück zur Fernverkehrsstrasse. Jetzt machte sich die Abgelegenheit wieder schmerzlich bemerkbar. Wir dachten, dass wir an der Abzweigung einen Liquor-Store gesehen hätten. Als wir dort ankamen, sahen wir zwar auch ein Castle-Werbeschild, aber über dem verrammelten Laden hing eine Tafel mit der Aufschrift „Nursery“. Das konnten wir uns nun gar nicht zusammenreimen. Mit den uns eigenen Sprachkenntnissen kamen wir nur auf Krankenschwester. Eine Schwesternschule, finanziert durch Bierreklame? Die Laune stieg bei dieser Überlegung, auch weil wir auf der Suche nach einem Wörterbuch im Handschuhfach noch ein paar Batzen schon längst verloren geglaubtes Gras wiederfanden.

Beim Eintreffen auf dem Hof unserer Herberge hatte sich die Farbe des Autos von schmutzig weiss endgültig in gleichmäßig rotbraun verwandelt.Wir klopften die Angestellten aus ihren Schlechtwetter-Fernsehcouches und verlangten nach mehr Bier. Sie gaben uns noch zwei Sixpacks, meinten dann aber, dass dies das letzte für heute wäre, da sie nachher nicht mehr da wären. Kein Problem für uns!

Baumschule. Nursery heißt Baumschule. Das erklärte zwar immer noch nicht, warum drüber eine Bierreklame hing, war aber moralisch nicht mehr ganz so bedenklich. Wir wechselten uns mit dem Rollen ab. Es regnete immer noch, und es machte nicht den Anschein, als ob sich das mittelfristig ändern würde. Nach einiger Zeit, inzwischen verschwand das monotone Trommeln der Tropfen im Subtext der anderen kosmischen Geräusche, hatten wir alle Ecken unseres Bungalows gründlich untersucht. Es gab hier wirklich nichts, was dem kurzweiligen Zeitvertreib dienen könnte. Nicht mal ein Jenga-Spiel. Und das Bier wurde trotz bedächtig-sparsamen Verzehrs auch wieder knapp. Das Gras zum Glück nicht.

Wir saßen unter dem Vordach auf der Miniterasse und fingen an, uns zu langweilen. Dann fiel, wie in dieser geographischen Lage so üblich, die Sonne plötzlich vom Himmel. Wir diskutierten darüber, wie man korrekterweise das Wort Dämmerung in die lokalen Sprachen übersetzen würde, denn so etwas gibt’s hier ja nicht, und was es nicht gibt, dafür wird es ja auch logischerweise kein natives Wort geben.

Da wir im Dunkeln den Regen nicht sahen wurden wir mutiger und entschlossen uns, das Wagnis aufzunehmen und zum Kühlschrank in der offen zugänglichen Bar zu pilgern, um zu schauen ob dort nachts Selbstbedienung herrscht. Oder ob Mr. Leathermen uns den Weg zur Selbstbedienung öffnen könnte. Das letzte Sixpack hatte sich gerade verabschiedet, doch verhalf es uns immerhin noch zu guter Laune und Unternehmungslust. Schließlich waren wir jetzt so weit, dass wir mit Sixpack-Papp-Kronen durch den Regen liefen.

Die Bar, im Sonnenschein bestimmt schön anzuschauen und aus Wurzelholz selbstgeschnitzt – als ich das letzte mal hier weilte, war sie gerade halbfertig – war wie erwartet offen, der Kühlschrank wie erwartet verschlossen. Und vollkommen unerwartet hatten wir Mr. Leatherman an diesem Scheißstrand bei dem Scheißwetter scheinbar verloren. Mist! Ohne ihn konnten wir das Thema Bier für heute Abend vergessen. Zusammen mit unserer Laune knickten auch die Bierkronen dank des Regens ein.

Wieder zurück in dem Bungalow, vorbei an dem immer noch keifenden Ehepaar, die in ihrer Wohneinheit stritten während die Kinder draußen im Regen mit ihren Koffern vor dem Auto warteten, erkannten wir mit Schrecken, dass uns als einziges Getränk parmalat-Milch zu Verfügung stand.

Nach zwei intensiven Stunden des abwechselnden Genusses von Milch und Gras stieg unsere Stimmung wieder. Wir hatten die Langeweile beim Kragen gepackt und aus dem Haus geschmissen, indem wir mit der dürftigen Bungalow-Ausstattung ein Spiel entwickelten. Die Küche war ziemlich komplett ausgerüstet. Und es gab im Wohnbereich zwei sehr bequeme Ledersessel. Jeder nahm sich eine Gabel, einen Löffel und eine Pfanne. Dann kramten wir je sieben Münzen aus dem Portemonnaie. In den Sesseln versunken, die Utensilien auf den sehr breiten Armlehnen abgelegt, konnte das Spiel beginnen.

Wir stellten in drei Metern Entfernung nahe der Außenwand einen flachen Teller auf den Boden. Dort mussten möglichst alle sieben Geldstücke landen, und zwar pro Durchgang jeweils zweimal mit jedem Wurfgerät – Gabel, Löffel, Pfanne – befördert. Der letzte Versuch konnte mit dem Gerät der Wahl durchgeführt werden. Auf alle Fälle aber musste man im Sessel sitzen bleiben. Das allerdings war für den Zustand, in dem wir waren, keine wirkliche Herausforderung.

Nachdem wir innerhalb von 90 Minuten unser Zielvermögen optimiert hatten und auch genau wussten, wie das Geldstück des Gegners wieder aus dem Teller herausgeschossen werden konnte, verfeinerten wir die Regeln dahingehend, dass das Geldstück, bevor es im Teller landet, die angrenzende Wand berühren musste. Das brachte uns noch mal zwei Stunden äußerste Kurzweiligkeit. Und als wir dann schließlich auch jeden Trick bei jedem Wurfgerät beherrschten, war es spät genug, um ohne Bedenken und Rechtfertigungen ins Bett zu fallen.

Am nächsten Morgen, als wir schon kurz nach dem Frühstück in allerwärmster Umschmeichelung der Sonne am herrlichen menschenleeren Strand der Lagune lagen, schworen wir uns, nie jemandem von diesem peinlichen, wenn auch sehr amüsanten Spiel zu erzählen. Manchmal, wenn ich alleine zu Hause bin und der Regen an die Fenster schlägt, dann trainiere ich heimlich. Zur Motivation habe ich mir die Punkteliste über den Schreibtisch gepinnt.

(2002)