Unfassbar, noch

Sechs Jahre sind vergangen, seit wir die letzte Party geschmissen haben. Geschmissen werden hier in letzter Zeit eher wackersteingrosse Putzbrocken. Aus den obersten Fenstern. In den Innenhof. Ohne dass da irgendwer steht und aufpasst. Die neuen Eigentümer lassen keinen Zweifel daran, dass sie die wenigen verbliebenen Leute aus dem Haus haben wollen, so oder so.

Trotzdem wir aus der Übung waren, lief der Abschied ganz gut & würdig ab. Sagen die, die sich daran erinnern können. Inzwischen ist es die zweite Nacht in der neuen Wohnung, begreifen kann ich das noch längst nicht, das wird wohl mindestens so lange dauern wie das Auspacken der Kisten. Vorsorglich hatte ich gestern am Tresen Bescheid gegeben, dass sie mich – wenn ich losfahre und falls mein Zustand es nahelegt – darauf hinweisen, nicht in Richtung Kreuzberg zu fahren.

Der Heimweg hat sich um enorme fünf Kilometer verkürzt, doch dank der garstigen Weddinger Wurzeln habe ich mich zur Premiere erst mal amtlich mit dem Rad auf die Fresse gepackt. Immerhin: Die Wegbierflasche blieb unversehrt; ich eher nicht, im Allgemeinen wie im Speziellen. Licht und Schatten.

Als nach der Party der Umzug vorbereitet wurde, saugte ich den Kreuzberger Hauptstrassenhochbahndreck leidlich von den Möbeln – zumindest den werde ich nicht vermissen, ebensowenig wie die unvermeidlichen Schichten feinster Kohleofenasche. Nachdem ich allerdings die Couch ausklappte und mir gleich drei große Hundehaarwollmäuse entgegenwehten, zog es mir doch nochmal den Boden unter den Füssen weg.

Wedding also. Da wusste ich wohl vor vier Monaten mehr als vor drei Wochen.

Nett hier. Natürlich muss die Gegend erst noch ausführlich erkundet werden & die Wohnung eingelebt (von eingeräumt mal ganz zu schweigen), bevor ich mir ein erstes Urteil erlauben (und meine Gedanken endlich um neue oder zumindest andere Themen kreisen lassen) kann. Aber ich deute es als gutes Omen, dass mir, als ich in die Kneipenrunde fragte, was es denn in der Gegend so Empfehlenswertes gäbe, ein Italiener in Reinickendorf ans Herz gelegt wurde. „Dit hat der Kleene im Internet gelesen und erzählt’s jetzt Jedem, der es nicht hören will. Jaja, wissen wir alle: Supertext, Superessen, blabla. Reinickendorf, Alta! Nicht dein Ernst, oder?!“ meinte die Frau hinter der Bar dazu nur. Und: „Noch ’nen Kurzen auf den Einzug?“

Gute Leute.

Endlich einmal ist auch irgendwann mal vorbei

(Von der Berg- und Talfahrt der letzten Tage nun die Talfahrt. Und damit abschliessend das Ende jedweder Ära.)

Ich hatte schon im November abgeschlossen, zumindest ernsthaft damit angefangen; Nierenversagen, das hörte sich nicht so an, als ob da noch viel zu machen sei, vor allem bei dem Alter und der Vorgeschichte. Und dann schaffte sie es doch über die Nacht. Ich bin damals nicht hingefahren, und ich weiss nicht, ob ich es jetzt machen werde. Doch ich weiss jetzt, dass es zu Ende geht. Die Spritze ist bestellt.

Vor einem Jahr habe ich sie das letzte Mal gesehen. Noch einen schönen halben Sommer mit ihr gehabt, am Kanal und im Grunewald. Ihre alten Reviere; Westentasche. Den einen hohlen Baumstamm am Trimm-Dich-Pfad, der selbst im heissesten Sommer wenigstens immer noch ein bisschen Modderwasser für sie übrig hatte – sofort wiedergefunden. Und das, obwohl sich ihr Revier zu dem Zeitpunkt schon zwei Jahre lang am Rhein erstreckte. Davor pendelte sie, danach ebenfalls, ein Jahr noch als Scheidungskindhund. Bis zum letzten Sommer, als sie langsam schwächer wurde.

Dann beschlossen wir, dass es besser für sie wäre, an einem Ort zu bleiben, und die Vernunft sprach gegen Berlin. Entgegen den Erwartungen hat sie es doch über den Jahreswechsel geschafft, im Frühling sogar noch ihren Fünfzehnten erreicht. Sicher, sie baute merklich ab, ich konnte das nur aus der Ferne verfolgen. Das schmerzte. Anfangs sehr, dann (dachte ich – und war überrascht) nicht mehr so sehr. Dann dachte ich genau darüber nach und fand heraus, dass es noch genauso weh tat, ich nur nicht mehr ganz so oft an sie dachte.

Es mag verrückt klingen, aber es gab nichts und niemanden,den ich mehr geliebt hätte als diesen Hund. So bedingungslos, ohne jeden Groll. Nichts tat mir mehr weh und nichts machte mich ohnmächtiger als ihre gelegentlichen Panikattacken, Verletzungen, Unfälle. Sie hat nicht viel ausgelassen. Kaum etwas machte mich glücklicher, als ihr dabei zuzuschauen, wie sie sich im Schnee oder im Strandsand wälzte, wie sie spielte, rannte, träumte – und vor allem schwamm. Das wäre mein Wunsch gewesen, hätte ich einen frei gehabt: Zu wissen, wo die Angst herkommt. Wo der Schmerz sitzt. Warum sie wie irre geworden Gras frisst. Wie sich das anfühlt, mit allen Vieren in der Luft auf dem Rücken rumzuzappeln, im Gras oder im Sand, oder in einem toten Fisch.

Natürlich kann man einem Hund nichts erklären, und doch macht man es manchmal. Schlimmer ist es aber umgekehrt: Wer weiss, wie oft der Hund vergebens versuchte, einem etwas mitzuteilen. Trotz aller Hundeflüsterertips und jahrelanger Verhaltensforschung: Hunde können Menschen tausendmal besser lesen als umgekehrt. Encyclopaedia Britannica versus Räuber Hotzenplotz. Nur einmal wissen, was in diesem Kopf vorging…

Eigentlich bin ich ganz arglos und rein aus Interesse dabei geblieben, als bei der Hündin von unseren Freunden die Wehen einsetzten. Und dann war plötzlich dieses braune Fellbündel da. Und jetzt ist es weg. Bis dahin war ihre Mutter mein einziger Bezugshund: aus einem schrecklichen Haushalt gerettet, für den sie nicht Rottweiler genug war & wo sie mehr gelassen hat als ihren Schwanz, der gleich als erstes abkam. Ein großartiger Hund, die beste Mutter und viel zu früh gestorben – bei ihr schlug der Krebs mit sechs Jahren zu, ihre letzten beiden Kinder wurden erst jetzt von ihm erwischt. Neun Jahre von oben.

Endlich einmal ist auch irgendwann mal vorbei. Es ist schwer, passende Worte zu finden, doch dazu schweigen würde ihr nicht gerecht werden. Ich hoffe, ich konnte ihr mehr als einen Namen geben. Bei all dem, was ich von ihr und durch sie bekam, wäre ich froh, hätte ich ihr nur einen Bruchteil der Freude zurückgegeben, die sie mir schenkte.

tollsterhundderwelt
(15:30)

Kreuzberg adé!

Bei 60 habe ich aufgehört zu zählen, deshalb kann ich nur grob überschlagen: gute zweieinhalb Monate dauerte die Suche, es gab Wochen, in denen ich an drei oder vier Tagen fünf oder mehr Besichtigungen hatte – 80 Wohnungen waren es sicher, wahrscheinlich sogar über 100. Seit knapp einem Monat absolvierte ich die Termine meist mit dem frisch überholten Fahrrad, der Kilometerzähler hat die 500 überschritten.

Und dann war es irgendwann doch soweit, als die Zweifel schon immer größer wurden, als längst die Erkenntnis eingesetzt hatte, dass dies eine reine Lotterie war: Irgendwann ist alles in der Bewerbung drin, was man rausholen bzw. reinstecken kann; irgendwann weiss man, welche Termine man sich sparen kann, weil dort prinzipiell nicht an arme Menschen vermietet wird; irgendwann erkennt man, dass es auch eine Glückssache ist – es kann nach einer Woche klappen, oder nach einundfünfzig.

Wie bei anderen Glücksspielen auch versucht man, die beeinflussbaren Faktoren so gut wie möglich zu steuern: Der Radius wird vergrössert (Lichtenberg, Niederschöneweide, Neukölln ist sehr gross…), die günstigsten Zeiten werden abgepasst, Anzeigen werden auch jenseits der ausgetretenen Pfade gesucht.

Die eine oder andere Überraschung gab es natürlich auch: Immer noch Wohnungen mit Ofenheizungen, diversester Art sogar: Vom klassischen Kachelofen bis zur Forster Heizung, Nachtspeicheröfen und auch einige Gamats. Gamate. Wie auch immer. Ich war in Häusern, in denen vor knapp zwanzig Jahren Freunde wohnten und die bis heute nicht saniert wurden. Ich habe Schimmel dessen sich nicht geschämt wurde gesehen und totsanierte Wohnungen, wo aus 25 Quadratmetern alles rausgeholt wurde, bis auf einen Platz für die Waschmaschine.

Und dann erreichten mich an einem Tag gleich zwei gute Nachrichten (schlechte gab es jeden Tag, wenn überhaupt): Bei einer Wohnung war ich in der Runde der letzten Fünf, die andere hätte ich sicher. Natürlich wählte ich die sichere Variante, wenn dadurch auch eine mögliche Genossenschaftsmitgliedschaft verloren ging – Unsicherheit hatte ich genug gehabt in letzter Zeit. Sonst nahmen sie sich nicht viel, im Gegenteil. Und das Beste daran: Ich wohne jetzt ziemlich genau da, wo ich hinwollte, wo ich schon vor gut sechs Wochen kaum zu hoffen wagte, wohnen zu dürfen. Von Kanal zu Kanal, keine 300 Meter vom Deichgraf entfernt, was ich natürlich sofort genau mit dem Fahrrad nachgemessen habe. Danke also für all die guten Wünschen und das Daumendrücken – ich habe schon fast nicht mehr daran geglaubt, jedenfalls nicht an die Ermutigung von Rob, dass ich weiter versuchen sollte, in dieser Gegend etwas zu finden.

Wie sich herausstellte, schliesst sich damit sogar ein etwas skurriler Kreis: Die Strasse ist nach einem Adelsgeschlecht benannt, für das sich mein Urgroßvater einst auf deren Gut verdingte.

Eine sentimentale Abschiedstour werde ich mir nicht verkneifen können, zum Tabakladen, zum Getränkehändler um die Ecke, zum Casolare und zur Eisbude am Kanal. Doch es war andererseits auch längst kein Spass mehr: Die Bauarbeiten sind in vollem Gange, in den drei Hausflügeln sind nur noch sechs Wohnungen bewohnt. Sie haben gewonnen.

Natürlich werde ich weiterhin regelmässig mein zweites Wohnzimmer aufsuchen; Kreuzberg wird immer ein besonderer Ort für mich bleiben, und wer weiss, vielleicht ist genau jetzt Zeit, zu gehen. Für mich. Gestern kamen wir drauf, in der Kneipe im Wedding, in die ich jetzt schon viel zu oft gehe: Wir wohnten beide mal in der O-Strasse, Ende der Neunziger, und waren uns einig, dass das jetzt die Hölle wäre.

Ich bin also froh darüber, dass ich für zwei Zimmer (und 50qm) weniger 50 Euro mehr Miete zahle. Ehrlich glücklich. Weil ich es viel schlimmer hätte erwischen können. Verrückte Welt.

Ein sinkendes Schiff

In einer Woche, habe ich mir vorgenommen, darf ich in Panik verfallen, vorher nicht. Bis dahin wird der Plan abgearbeitet, wie jeden Tag in den letzten zwei Monaten; Lottospielen als Vollzeitbeschäftigung: Inserate durchforsten, Termine ausmachen, dort auftauchen und wissen: Es muss nicht mal einer von den 30 Leuten sein, die hier rumstehen. Gut möglich, dass die denen alle nicht passen, dann steht die Anzeige halt in zwei Wochen wieder drin, alles schon gehabt.

Der Feedreader und das Lesen von Blogs (immer und bei jeder passenden Gelegenheit von mir gepriesen) – seit Wochen nichts. Unmotiviert, kraftlos, sinnlos, so kommt mir das alles gerade vor. Da ich gerade noch so merke, dass sich das auch auf meine Bloggerei auswirkt – immer die gleiche Leier & dann auch noch so monoton – sollte hier wohl erst mal Ruhe sein.

Jedoch: Ab und zu gibt es auch Lichtblicke. Letztens, auf dem Weg ins zweite Wohnzimmer, am Anfang der Friedrichstraße beispielsweise. Ein typischer, tiefergelegter und breitbereifter BMW, aus dem die Bässe wummerten. Allerdings nicht die erwarteten Gangsterrapbässe, sondern die der Zeckenrap-Ansage. Welch eine positive Überraschung, vor allem, da ich ein paar Tage zuvor gerade viel Spass mit den Zeckenrappern hatte, in ebenjenem zweiten Wohnzimmer.

Noch ein kurzer, wichtiger Hinweis bevor ich euch hier mit meinem bevorzugten Musikvideo aus dem Genre allein lasse & in den Sommer schicke:

Der Baiz-Film, über den ich an anderer Stelle schrieb, läuft am 21.08. um 21 Uhr in der Freilichtbühne Weissensee. Danke, Matthias! (Nicht, dass ich vor hätte, solange Pause zu machen, aber sicher ist sicher…)

PS. & Update: Meine Scheuklappen haben zugeschlagen, nur noch auf eine Sache fokussiert… Sonst hätte ich sicher darauf hingewiesen, dass es (in Berlin) heute gestern eine (leider sehr mäßig besuchte) Gelegenheit gab, gegen die Asylrechtsverschärfung zu demonstrieren und danach/dabei Zeckenrap zu hören. Zum Glück morgen heute auch nochmal.