Die Muse

Anfangs dachte der junge Dichter, er hätte Glück gehabt. Er wurde vom Arbeitsamt offiziell als beschäftigungsloser Schriftsteller anerkannt. Das verschaffte ihm zwar weder Geld noch Ruhm, aber immerhin: ihm stand eine Muse zu.
Und die tat nun auch schon seit gut drei Jahren ihre Dienste. Gut – es war eine vom Arbeitsamt gestellte Muse, die brachte jetzt nicht von heute auf morgen den Literatur-Verdienstorden, aber sie sorgte für einen kontinuierlichen Schaffensprozess, was ja für das schriftstellerische Selbstwertgefühl auch nicht unwesentlich ist.

Doch mit der Zeit begann der junge Dichter, sich in eine Richtung zu entwickeln, die der Muse nicht gefiel. Sie war, wenn man ehrlich ist, ein wenig herrisch und selbstgerecht. Am liebsten wäre sie eigentlich Literaturkritikerin geworden, doch das Arbeitsamt hatte nun mal bloß eine Stelle als Muse frei. Und diese lyrischen Verirrungen, die ihr Schützling da in letzter Zeit beging, die passten ihr gar nicht.

Das ließ sie den jungen Dichter auch deutlich spüren. Nachdem er ihr sein jüngstes Werk vorgetragen hatte, setzte er zur Erklärung an: „Weißt du, die Idee dazu entstand, als ich an diesem Laden vorbeiging, dessen Name so lustig war…“ – „Ach halt doch die Klappe“ blaffte sie, „das war eindeutig Schrott! Wenn du anfängst, ein Gedicht erklären zu müssen, ist es Schrott.“

Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Der eigentliche Plan des jungen Dichters war, in Kürze ein Lyrikband herauszugeben. Er hatte auch schon alles Nötige in die Wege geleitet, größtenteils. Ihm fehlte nur noch ein Verlag. Er hatte die Schnauze voll von dem ewigen Prosa-Geschreibe. Diese Gattung kam ihm inzwischen so banal vor. Jedenfalls, wenn man wie er ständig übers Ficken schrieb. Das wirkte bei Lyrik irgendwie angenehmer. Er konnte es jetzt gar nicht haben, dass ihm die Muse da in die Quere kam und sein Schaffen misskreditierte.

Sie musste weg.

Am nächsten Morgen ging der junge Dichter in eine Drogerie, die ihm aus dunklen Kanälen heraus empfohlen wurde. Dort bekam er unter dem Ladentisch die Pillen, die er brauchte. Er nahm ein paar von den bunten Dingern, und für 48 Stunden war er jeglicher Kreativität beraubt.

Der junge Dichter wusste, dass die Muse diese lange Versorgungsunterbrechung nicht überstehen würde. Und wirklich, als er danach das erste mal wieder einen kreativen Gedanken fasste, hörte er keine Stimme mehr, die ihm dazwischen redete. So konnte er in den nächsten Wochen unbesorgt seinen lyrischen Trieben freien Lauf lassen. Er schaffte es sogar, von dem Lektorat eines mächtigen Verlags vorgeladen zu werden.

Nachdem er ein paar Kostproben vor dem Gremium rezitiert hatte, baten ihn die Herren, noch einen Bewerbungsbogen auszufüllen. Gefragt waren Standards a lá „Geburtsort“ oder „Datum der ersten Inspiration“. Der junge Dichter machte alle verlangten Kreuzchen und Angaben und bedankte sich bei den Selektoren.

Zu seiner großen Überraschung kam bereits nach fünf Tagen ein Schreiben: „Sehr geehrter junger Dichter, wir freuen uns sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass wir beabsichtigen, Sie in unser Programm aufzunehmen. Wir sind der Meinung, dass damit nicht nur Ihnen, sondern unserem gesamten Gemeinwesen gedient ist. Um den Vertragsabschluss komplett zu machen, müssen Sie lediglich an den angekreuzten Stellen unterschreiben und den letzten Quartalsbericht ihrer Muse anheften. Mit freundlichen Grüssen!“

Da war sie wieder. Der junge Dichter hatte sie längst erfolgreich verdrängt, er wusste schon gar nicht mehr, dass er mal eine Muse hatte. Jetzt aber holte sie ihn wieder ein. Gleich am nächsten Morgen ging er pflichtbewusst zum Arbeitsamt, um einerseits eine Muse als vermisst zu melden, und anderseits den nahezu perfekten Vertragsabschluss anzuzeigen. Dort würden sie ihm bestimmt auch einen Musen-Ausfallsschein ausstellen können.

„Junger Mann, so geht das aber nicht!“ begann die Dame hinter dem großen Schreibtisch ihre Predigt, „Sie hätten den Verlust ihrer Muse schon vor zwei Monaten anzeigen müssen! Wir stellen ihnen ja hier nicht die Mittel zur Verfügung, damit sie sie nach Belieben verschleudern. Dafür opfert sich das Gemeinwesen nicht auf, damit die Künstler dann so leichtsinnig mit ihrer Aufgabe umgehen! Den Vertragsabschluss können sie vergessen, dafür gebe ich ihnen keine Ausrede-Dokumente.“

Nach dieser Standpauke drückte die Verwaltungsbeamtin einen Knopf und der junge Dichter mit dem blumigen Namen wurde abgeführt und dem zuständigen Steinbruch übergeben.

(2003)