Kilometer 20

In der Alte-Texte-Schublade bin ich fast ganz unten angekommen, rein chronologisch gesehen. Über andere Bedeutungen von „ganz unten“ müssen sich andere Leute Gedanken machen. Jedenfalls: Lange ist es her, es gab noch keine Hipster, aber schon Club Mate. Und man erinnerte sich noch an den Neuen Markt (TM).

29.09.02

 

Wir waren Kilometer 20. Ich hätte es vorher wissen können. Doch erst als es dann frühmorgens um 7.45 Uhr soweit war, drang es wieder schmerzlich in mein Bewusstsein.

Am Abend zuvor waren wir zum wiederholten Male auf einer Lesebühnen-Poetry-Slam-Veranstaltung. Ich weiß, dass man da eine genaue Trennung vornehmen kann und muss. Aber dieses Mal eben nicht. Die Big Player der Berliner, ach was sag ich, der deutschen wenn nicht gar der europäischen Szene hatten sich versammelt. An einer wirklich hippen Örtlichkeit. Hip deswegen, weil die Location, wie man so sagt, unverbraucht ist. Jeder Veranstaltungsort, ist er noch so gut, wird irgendwann zur Gewohnheit.

Diesmal versammelte man sich in der Backfabrik.de. So stand es tatsächlich in der Zitty. Auf dem Grund und Boden befand sich früher ein DDR-Backkombinat. Der Charme der Geschichte, in Berlin bei der Auswahl des Auftrittsortes immer wichtig.

Die Ossi-Bäckerei wurde geschlossen, schließlich wollten ja auf einmal alle nur noch Fladenbrot essen. Und das muss laut Innungsvorschrift in Kreuzberg gebacken werden.

Kurz nachdem ein verrückter Künstler dann eine Kuh vom Kran in den Hof des ehemaligen Backkombinats geschmissen hat kam der Bagger. Kurz danach, nicht weil. Vorher residierte noch kurz das Casino auf irgendeinem der vielen Hinterhöfe. Und dann wie gesagt die Bagger. Davon sieht man in Berlin inzwischen ja auch viel mehr als Trabbis, zum Beispiel.

Als alle in den neuen Markt, der sich ja jetzt verabschiedet hat, investierten, dachte sich ein geschäftstüchtiger Mann, dass dieser Platz, denkt man sich die explodierten Rinderinnereien mal weg, prädestiniert zum Geld drucken ist. Aber auch das Geld wird ja schon in Kreuzberg gedruckt, in der Bundesdruckerei, also baut man eben die Backfabrik.de.

Nur mit diesem Namen brauchte man damals, als Leute ihr Geld in Firmen wie XYZmedia nur wegen des Wortes ´media´ steckten, zur Bank gehen, und man wurde unter einer Mille nicht rausgelassen. Also Keller erhalten, Gebäude entkernen, Rigipswände einziehen, wireless lan mit einer 800-Meter-Reichweite einrichten und einen hippen Namen mit Ostbezug.

Nun gibt es den Neuen Markt nicht mehr, und somit auch keine Neuer-Markt-Start-Ups, die ihr Head Office hier wirklich passabel hätten eröffnen können.

Doch der Keller war noch da, und gestern in dem selbigen diese famose Veranstaltung. Berlin ist nicht nur mit supertollen Schliemann-sei-Dank-Museen die heimliche Kulturhauptstadt Europas, sondern auch die Subkultur-Hauptstadt. Man kann jeden Tag zu mindestens zwei Lesebühnen gehen, die sich alle, zumindest gefühlt, im Prenzlauer Berg befinden. Und nun war also das Gipfeltreffen, sozusagen.

Nicht nur, dass sich all diese Bühnen einigten und ihre Star-Interpreten losschickten, es gab auch Unterstützung von ganz oben. Zitty, wie schon erwähnt, sponserte den Abend, aber auch Radio Fritz und lcb. Ich dachte mir, dass dies eine subversive Vereinigung dilettantischer Literaten wäre. Immerhin heißt der Szene-Einkaufsladen hier ja auch KGB, was für „Kohlen Gips Bier“ steht. Wovon es aber höchstens Bier dort gibt. Ökologisch gebraut. Und Fahrradanhänger zum Ausleihen. Und Club-Mate.

Aber lcb, was mich irgendwie gleich an ocb denken ließ, steht für literarisches colloquium berlin. alles kleingeschrieben. Aber etabliert. Und die fördern mit ihrem Geld solche Sachen. Wo Leute Ficken sagen. Mehrmals pro Satz. Oder nur als Satz allein. Wo Leute stockbesoffen auf der Bühne stehen, zittern, fast runterfallen, sich nicht mehr artikulieren können. Und das Publikum nimmt dies hin, will es hinnehmen, als Performance, nicht etwa als Realität der Auswirkungen des Giftes Alkohol. Lieber noch schnell einen lustigen Text über spanischen Absinth anhören.

Um zwei Uhr nachts, relativ früh eigentlich, waren wir dann zu Hause. Beim Einparken achteten wir penibel darauf, dass wir das Auto auf unserer Seite der Straße abstellten, die andere Seite war schon komplett gesperrt. Bis auf einen Opel-Astra-Bullenwagen mit innen Licht an total leergeräumt.

Ich musste dann noch mal mit dem Hund runter. Ging über die Straße und fragte die Freunde und Helfer, ob das okay ist, auf unserer Seite zu parken. Ohne ob meiner Alkohol-Fahne oder besser -Flagge stutzig zu werden, sagten sie mürrisch: „Ja, drüben schon.“ und nahmen die St.Pauli-Nachrichten wieder vor die nächtlich aufgesetzte Sonnenbrille. Deswegen also die Innenbeleuchtung. Ich fragte sie, ob sie jetzt hier die ganze Zeit stehen würden. „Na klar, Streckenüberwachung“.

Das war erste Mal, dass mir Vertreter dieses Berufszweigs fast leid taten. Wann es denn los gehe, fragte ich. „Naja, wir sind hier fast jenau Kilometer zwanzig, da wern die ersten wohl so jegen zehn kommen.“

Doch inzwischen, und das habe ich eben heute wieder schmerzlich erfahren müssen, laufen beim Berlin-Marathon nicht nur dank modernster Laufschuhtechnik leisetreterige Profisportler samten über den Asphalt. Vorneweg kommen circa 8.000 Rollerblader. Zu schwach auf der Brust um 42 Kilometer zu laufen. Aber laut genug, um mich mit einem Höllenlärm-Surren zu wecken. Um 7.45 Uhr.

Momentaufnahmen

Thomas de Maiziere hat gesagt, wir sollen nicht soviel ins Internet stellen. Ha! (In memoriam Mrs. K) Sowieso ein entlarvendes Interview: „Es ist eine staatliche Aufgabe, Angriffe auf das Internet – von wem auch immer – besser zu schützen als bisher.“

Als ich im letzten Sommer wieder zurück nach Berlin kam, entdeckte ich das erste mal die Gegend um den Chamissoplatz. Dieser liegt von mir aus gesehen jenseits der Bergmannstrasse und gehörte daher nicht mehr wirklich zu „meinem“ Kiez, der ist in dieser Richtung eigentlich bei der Marheinekehalle zu Ende. Klar fahr ich auch mal zum Tempelhofer Feld oder zum Kreuzberg – aber die kleinen Nebenstrassen auf dem Weg dorthin hab ich meist links (bzw. rechts) liegen gelassen. Ich konnte mich nur daran erinnern, dass es dort damals schon relativ schick aussah, Ökobürgertum, welches man eben auch in der Markthalle oder der Bergmannstrasse traf. Mein ehemaliger Chef zog von Schöneberg hier her.

Nun lud mich also ein alter Freund ein, ihn bei einem Konzert im Wasserturm zu besuchen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich fragte „Wieso spielt ihr denn im Prenzlauer Berg?“ – Ich wusste wirklich nichts von einem Wasserturm in Kreuzberg. Mir wurde erklärt, dass es sich um ein Jugendzentrum handelt, und jener alte Freund hatte dort vor langer Zeit, in seiner Jugend eben, die ersten musikalischen Gehversuche unternommen. Die Veranstaltung jetzt wäre so eine Art Klassentreffen, viele von denen, die hier vor Jahrzehnten begannen, würden sich treffen und Konzerte geben. Grund genug für mich, mir das mal näher anzuschauen.

Da ich zu früh war, drehte ich ein paar Extrarunden, auch um etwas Essbares vor dem erwartbaren Alkoholkonsum in petto bzw. in ventro zu haben. So kam ich auch zweimal an folgendem Haus vorbei, und da das Motiv so verlockend und die Zeit noch da war, versuchte ich mit meinem altertümlichen Mobiltelefon ein paar Fotos zu machen:

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Man beachte die Korrespondenz zwischen den aufgemalten Sprüchen und dem aufgehängtem Banner. Im Hauseingang gab es dann noch ein paar weiterführende Informationen:

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Bisher hab ich den Astronauten nicht getroffen, sonst hätte ich ihn gefragt. Die Konzerte waren dann insgesamt so lala, was auch an der Akustik des mit Kreuzrippengewölbe versehenen Saales lag. Dafür waren die Gespräche drumherum umso besser: Einer der Sänger erzählte mir von seiner Schauspielerkarriere und seinen Drehs mit Bruno S. und Rummelsnuff. Mit letzterem konnte ich nun gar nichts anfangen, wer bitte? Er beschrieb ihn mir ausführlich: aus dem Osten, eher so Elektro-Volksmusik, Bodybuilder. Ich meinte, dass das sehr nach Stumpens kleinem Bruder klingt. Mit Knorkator konnte der Sänger nun wieder nichts anfangen, was mich etwas ungläubig zurückliess. (In der Zwischenzeit haben sowohl Rummelsnuff als auch die meiste Band der Welt neue Werke auf den Markt geworfen und sind mir daher öfter im Radio über den Weg gelaufen.)

Ein paar Wochen später war ich auf einer Party ein Stockwerk über mir. Dort fiel mir ein Typ auf, der wiederum der kleine Bruder von Rummelsnuff hätte sein können. War er aber nicht. Dafür hatte er eine Kutte an, auf der ein großer „Sons of Kreuzberg“-Aufnäher pappte. Das fand ich lustig, da in der Stammkneipe meiner zwischenzeitlichen Heimat ebenfalls das „Sons of Anarchy“-Logo -abgewandelt mit Fussball-Lokalkolorit – getragen wurde. Bei der Kreuzberger Variante ging es allerdings nicht nur um ein lustiges Bekleidungsstück, sondern um einen Film. Was er und meine (nunmehr ehemaligen) Nachbarn, die die Musik zum Film machen wollen, da so erzählten, klang recht spannend. Das Crowdfunding scheint aber erst mal nicht geklappt zu haben, schade.

In der Weihnachtszeit, als noch kein Winter war, stand ich dann mit offenem Mund staunend auf dem U-Bahnhof vor folgendem Plakat. Das Foto ist deutlich verwackelt, dewegen in der Vorschau nur klein und mit Transkription drunter:

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Der Berliner Theaterclub präsentiert Axel Zwingenberger. Und wie! „Die heißeste Musik, die für das Klavier je erfunden (!) wurde.“ Daniel Düsentrieb lässt grüssen. Und weiter: „Rollende Bässe, die Dynamik eines fauchendes Eisenbahnzuges [sind die dynamischer als die stillen, oder die brüllenden, oder die schnurrenden?], Sehnsuchtsvolle Bluesklänge, die ferne Erinnerungen heraufbeschwören. Das Publikum ist in den Bann gezogen, ein faszinierender, brillanter Abend mit Witz und Perfektion!“

Diese um kein Adjektiv verlegene PR-Sprache und das Plakat an sich liessen  in mir – es war schliesslich auch noch Weihnachten – ein wohliges „dit is Balin“-Gefühl aufkommen, ich weiss auch nicht genau, warum. Es hätte mich aber nicht gewundert, wenn auf einmal Uli Zelle und Harald Juhnke Arm in Arm die Treppe rauf gekommen wären.

Das neue Berlin, und zwar der gute Part davon, begegnete mir, als ich vor Kurzem auf der Suche nach einem neuen Vorderrad (das alte wurde mir – wer hätte sowas vermutet – auf dem Tommihaushinterhof geklaut) durch die Dresdener Strasse lief. Dort befindet sich nämlich eine Station des „Witchhunt“-Projekts von Various & Gould, und zwar schon seit letztem November, das war mir völlig durch die Lappen gegangen bis dahin:

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Als kleine Entschädigung, dass mir dieses Street-Art-Projekt mehr als einen Monat verborgen blieb (kleine Erinnerung, auch an mich selbst, damit das nicht wieder vorkommt: Unbedingt noch zu den Graphic Days gehen!), ging ich just an dem Tag hier vorbei, an dem die Freilassung von Nadeschda Tolokonnikowa (ich muss bei dem Namen immer irgendwie an die Tokoloshes von Madam&Eve denken…total off topic, schon klar) bekannt gegeben wurde. Stimmt zum Glück nicht mehr ganz, dachte ich bei mir, als ich den letzten Satz der Infotafel unter dem Bild las:

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Da mag ich eigentlich gar nichts weiter sagen, schon gar nicht zu Julia Engelmann. Muss ich aber. Pünktlich zwanzig Jahre nach seinem Auftauchen hierzulande macht der Begriff SlamPoetry also mal wieder eine größere Runde. Ich hatte ja schon am Rande darauf hingewiesen, dass dieses Thema mir eigentlich am Herzen liegt, aber es von Anfang an eine enttäuschte Liebe war, sozusagen. Ich hielt es da mit den Altrockern des SB, die natürlich auch nicht viel besser und ja überhaupt eigentlich Schuld dran waren. Wie Hadayatullah Hübsch vor zehn Jahren – auf dem ersten Slam-Poetry-Peak – schon sagte: „Früher gab es das Sechs-Tage-Rennen, da führten die Kerle ihre Frauen aus, tranken Bier und haben Bockwurst gegessen, und nebenbei sind ein paar Leute Rad gefahren, was kaum beachtet wurde. So ist Slam Poetry heute.“ Man kann es machen wie Nadia und Charlott von der Mädchenmannschaft, wie der Doktor oder wie Volker Strübing. Der hat nicht nur die beste Überschrift zum Thema, sondern auch das beste Resumee:

„Ich hoffe, die ganze Sache legt sich bald wieder. Und weder Julia noch der Poetry Slam an sich tragen irgendwelche Blessuren davon.
Eine Konsequenz der ganzen Sache wird sicher sein, dass man, wenn man sagt, man trete manchmal bei Slams auf, nicht mehr gefragt wird, was das sei („Irgenddwas mit Rap, oder?“). Stattdessen werden die Leute wissend nicken und sagen: „Ah ja, du machst sowas wie Julia Engelmann!“

PS: Herrje, ich hatte ja keinen blassen Schimmer (und Johnny Haeusler gefällt mir so gut wie lange nicht mehr). Nadia hat auch noch einen sehr guten Text nachgeschoben. Damit ist das Thema hoffentlich erledigt. Warum zur Abwechslung nicht mal in den nächsten Tagen eine schöne, klassische Rezension zu „Arbeit und Struktur“ lesen, oder etwas darüber, wie der Dings die Bums an den Haaren gezogen hat? Ich bin dann erst mal wieder weg…