Heute minus zwanzig

All in all is all we are.

Ich war fast siebzehn, es war Freitag und ein Mädchen aus der Parallelklasse hatte sturmfrei und lud alle dazu ein. Einem weiteren legendären Wochenende in der ewig scheinenden Jugend schien also nichts im Wege zu stehen – auch, weil an diesem Abend die Anderen von der Skifahrt zurückkommen sollten.

Die sturmfreie Bude war eigentlich eine alte Kapitänsvilla mit Blick auf den Sund, das Mädchen dazu eine hübsche, leicht ausgeflippte Arzttochter mit wirklich kastanienfarbenem Haar und wir waren das, was solch eine Stadt an Punks, Hippies und sonstigen Alternativen – oder wie man hier mehrheitlich zu uns sagte: Zecken – zu bieten hatte.
Am späten Nachmittag begannen wir mit ein paar Haschkrümeln und Bieren den Abend einzuläuten und machten uns langsam auf den Weg zur Party. Viel war noch nicht los, nur die Mädelsclique der Gastgeberin war schon da, um alles schön vorzubereiten und zu dekorieren, was später – wie auf Teenagerpartys üblich – vollgekotzt, umgeworfen oder mit klebrigen alkoholischen Getränken überschüttet werden sollte.

Wir machten es uns im Raucherzimmer des Vaters bequem, dort gab es eine gut sortierte Hausbar, interessante Bücher und einen kleinen 37er Fernseher. Die Stimmung brauchte gar nicht lange, um in Gang zu kommen, auch weil der Oberkiffer mit seiner doppelt gekühlten Bong kurz darauf eintraf. Wir wussten, dass er die nur mitnahm, wenn er auch genügend Gras dabei hatte. Das sollte übrigens seine letzte Party für eine lange Zeit werden: während wir unser Abi schrieben, verbrachte er als erstes Drogenopfer unserer Stufe die Tage in der Geschlossenen, mit Meerblick immerhin. Das Scheisssynthetikzeug war schuld.

Es versprach also, ein großartiger Abend zu werden. „Hamburg lässt grüßen!“ sagte der Oberkiffer, wedelte dabei freudestrahlend mit dem prall gefüllten Grasbeutel und begann, den ersten Kopf zu stopfen. In den nächsten Stunden bewegten wir uns nicht aus dem Raum, es sei denn, um Getränke zu holen oder wegzuschaffen. Wir quatschten Blödsinn, der natürlich unglaublich tiefsinnig, philosophisch und weltverändernd war. Manchmal lasen wir dazu ein paar passende Sätze aus den klugen, in Leder gebundenen Klassikern, aber eigentlich lachten wir die meiste Zeit: über die Comics im Fernsehen oder über uns. Wie solche Partys halt in diesem Alter so sind.

Die Gastgeberin und viele, viele andere Besucher schauten ab und zu mal bei uns vorbei, einige für länger und ein, zwei Köpfe, andere nur zum Kopfschütteln. Schließlich meinte die Hausherrin: das ist hier eine Party, also bitte auch Musik!

Nun war das Raucherzimmer zwar umfangreich ausgestattet, aber eine HiFi-Anlage gab es darin komischerweise nicht, nur ein Kofferradio für die Bundesligakonferenz. Doch das war kein Problem, wir schalteten einfach einen der Musiksender im Fernsehen an, wo damals wirklich noch Musik lief, und zwar gar keine schlechte, für unsere Zwecke jedenfalls. Mal lief es nebenbei zur Untermalung, mal drehten wir voll auf, wozu dann dem Rausch- und Lärmpegel entsprechend getanzt wurde. Wir amüsierten uns allesamt prächtig, es waren noch ungefähr zwei Stunden hin, bis der Bus aus Harrachov ankommen sollte.

Doch mit dem Amüsement war es ganz schnell vorbei, als die Musik jäh unterbrochen wurde: Sie hätten Kurt neben einer Schrotflinte gefunden, sagte der englische Musiknachrichtensprecher. Eine Ewigkeit von fünf Minuten schalteten wir alle Musik- und Nachrichtensender, die das Kabelnetz hergab, durch – bis wir es irgendwann schliesslich glauben mussten. Zwei oder drei Leute begannen zu schluchzen, andere stierten vor sich hin. Ich rannte brüllend aus dem Haus, in den Garten, wollte im Rasen versinken. Es war doch grad mal zwei, drei Jahre her, dass ich entdeckte, wie grossartig und exakt dieser Mensch meine Befindlichkeiten ausdrücken konnte, das konnte doch jetzt nicht einfach so vorbei sein!

Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht alle Partygäste in den verschiedenen Räumen, Etagen und dunklen Ecken erreicht hatte – auch, weil wir Hiobs etwas brauchten, um ansprechbar und artikulationsfähig zu sein. Auf einmal wich die aufgelöste Stimmung einer bedrückenden Ruhe, selbst bei denen, die nie viel mit dieser Art Musik anzufangen wussten.

Einige wenige begannen dann, leise und vorsichtig weiter zu feiern, wir zogen uns erstmal wieder ins Raucherzimmer zurück, um die Live-Berichterstattung weiter zu verfolgen. Wir waren jetzt ausserordentlich dankbar für das gute Hamburger Gras, drehten jedes verdammte Musikvideo bis zum Anschlag auf und schrien verzweifelt die Texte mit. Ein würdiger Abschied, wie wir fanden, aber irgendwann fiel uns die Decke auf den Kopf und wir mussten raus, brauchten frische Luft.

Da passte es gut, dass die geplante Ankunftszeit des Skifahrt-Busses fast erreicht war. Wir gingen langsam unten an der Promenade entlang zur Schule, still, bis auf ein gelegentliches „“Verdammte Scheisse, das kann doch nicht wahr sein!“ verließ kein Wort unsere Lippen, nur ein paar Rauchschwaden der vorgedrehten Dreiblattjoints. In sicherer Entfernung zum Schultor hielten wir an und schlugen unser temporäres Lager auf, der Bus musste jeden Augenblick kommen. Ein paar Eltern standen an der Strasse, aber bei weitem nicht alle, wir waren schliesslich schon in der Oberstufe. Sich von ihnen in ein Gespräch verwickeln zu lassen war trotzdem das letzte, was wir jetzt brauchten, die üblichen Interesse heuchelnden Allerweltsfragen konnten uns gestohlen bleiben.
Uns genügten die Wellen, die leise plätschernd an die Kaimauern schlugen.

Der Bus kam mit einer kleinen Verspätung um die Ecke bei der Feuerwehr gebogen und wir konnten die uns wichtigen Leute abpassen. Sie hatten natürlich noch keine Ahnung, auf der Fahrt liefen die ganze Zeit Mike Krüger- oder Fips Asmussen-Kassetten. Nach ein paar ungläubig-entsetzten Nachfragen glaubten sie es schliesslich – und doch konnten wir es alle zusammen noch längst nicht fassen. Still und wütend saßen wir auf der Mole, liessen die Füße baumeln und schmissen Kiesel und Kronkorken ins nachtdunkle Wasser.

Bis einer von uns aufsprang, den letzten Schluck aus der Stroh-Rum-Flasche (das übliche Mitbringsel von Skifahrten) trank, sie an die Brüstung warf und „Da müssen wir doch was machen!“ schrie. Darin waren wir uns alle einig, nur wussten wir nicht, was. Weil uns nichts Besseres einfiel, griffen wir uns die Farbdosen, die zum Handgepäck der gerade zurückgekehrten Sprayer gehörten. Wir wollten schon lange den Kampf ausfechten, jetzt starteten wir ihn: Der komplette Container, der seit Jahren für die Oberstufe als Provisorium auf dem Schulhof stand, wurde mit Parolen besprüht. In dieser Nacht gab es keinen Morgen mehr.
Als es dann wieder einen gab, wurden die Beweise gesichert und die Verweise ausgesprochen.

Kurt war damals zehn Jahre älter als ich. Jetzt bin ich zehn Jahre älter als er je geworden ist. Niemand konnte die Lücke füllen: Er fehlt. Immer noch. Eigentlich mehr denn je.

Was auch passiert, das (und so viel mehr) wird bleiben:

[Update: Tja, von wegen, jedenfalls was Youtube-Videos betrifft. Aber ich hatte noch dunkel im Kopf, dass ich das gemeinte Konzert früher schon verlinkt habe. Und dieser Link funktioniert noch. Ich pack es noch mal unten rein, mal sehen…]

Hier noch einer meiner Lieblingsnachrufe.