Umzüge etc.

Samstag: Nach der Arbeit, spontan freiwillig ausgeholfen und komplikationslos absolviert, endlich dazu gekommen, die urls zu mieten. Demnächst wird es hier ernst, dunkel und eventuell erst einmal etwas stiller. Wenigstens ein Umzug, dem ich mit Freude entgegensehe: Endlich das umsetzen, womit ich mich schon fast zwei Monate werktags beschäftige, warum ich unter der Woche so viel zu tun habe & zu so wenig komme.

Aber Samstag, also Wochenende: Rucksack in die Ecke und wieder raus. Den Nachbarjungen, der auf dem Skateboard aus der Einfahrt schiesst, noch kurz abgeklatscht, am Hoffmann vorbei und aus der Ferne gegrüsst. Für den längeren Weg Richtung O-Platz entschieden, dafür aber komplett den alten, zugeschütteten Kanal lang gelaufen. Sonnenuntergang.

Schon von weitem sind die Bässe zu spüren. Je näher ich komme, desto mehr Leute um mich rum. Immerhin ist es also noch nicht ganz vorbei. Noch ein paar Schritte, dann kann man alles, was von der Bühne kommt, gut verstehen. Im Moment: Redebeiträge. Ich drehe eine halbe Runde um den gut gefüllten Platz, bis zum Brunnen, auf der Suche nach meiner Bezugsgruppe. Wir hatten uns lose verabredet; wenn, dann würden sie wohl hier ihr Lager aufschlagen.

Ein paar bekannte Gesichter ausgemacht, ein paar Schwätzchen gehalten. Die Bezugsgruppe meldet per SMS, dass sie noch im Hahn sitzen. Nein, denke ich mir, das wär mir grad zu rauchig und eng, da bleibe ich lieber hier. Ebenso eng bisweilen, je näher man zur Bühne kommt jedenfalls, und interessant riechende Rauchschwaden, klar – aber frische Luft, nette, friedliche Menschen und die Musik setzt auch wieder ein, nach einem Appell zur besonders unschönen Lage der geflüchteten Frauen, der mit den Worten „Herzlich willkommen zu einer weiteren sexistischen Veranstaltung“ eingeleitet wurde.

Doch die Musik ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin: Der Oranienplatz war der Stachel inmitten der Stadt, Symbol für die versagende Asylpolitik. Jeder von denen, die an diesem Ort vor Jahren ihr Lager aufschlugen, stand für werweisswieviele, die auf dem Weg hierher auf der Strecke blieben. Kurz zuvor hörte man wieder von  400 Ertrunkenen, in der Nacht darauf sollten mindestens 700 weitere dazu kommen. Nicht die, die es schaffen, sind das Problem, sondern die, die auf der Strecke bleiben – oder besser: Das Warum des auf der Strecke Bleibens, die Gründe für die Flucht und ihres vielfältigen Scheiterns sind das Problem, und dessen Ursachen liegen bei uns, zuhauf.

Aus den kurzen Gesprächen beim Rundgang war zu erfahren, dass ich sowohl Peter Fox als auch Zugezogen Maskulin verpasst hatte. Blieben also noch Irie Révoltés. Die spielten allerdings für Zehn und rissen die locker auf eine fünfstellige Zahl angewachsene Menge gut mit. Zu „Antifaschist“, wenn ich mich recht erinnere, gab es dann eine ausgeklügelte ortstypische Choreografie mit Feuerwerk und Transpis vom Dach, mittlerweile war es dunkel, passte alles. Und auf das Dach der Bushaltestelle passten 25 hüpfende Menschen.

Dann das übliche Spontandemo-Katz-und-Maus-Spiel, Zivis mit rasierten Köpfen, was den Knopf im Ohr gut erkennbar macht. Wir schauten uns das von der Seitenlinie aus eine Weile an, bis die Füße in den Chucks kalt wurden.

Der Hahn war nur über Umwege zu erreichen, ansonsten wie immer & erwartet. Deshalb (und auch, weil ich keinen Barhocker mehr erwischte) trieb es mich nach nicht allzu langer Zeit wieder nach draussen, frische Luft schnappen. Allerdings erschienen direkt hinter der geöffneten Tür ziemlich viele ziemlich breite uniformierte Rücken. Ich blieb dann doch erst mal in der Kneipe, dafür stürmte eine andere Fraktion aufgekratzt aus der Tür. Bedeutete: Einen Sitzplatz für mich.

Als das Geschehen sich etwas später verlagert hatte, nahm ich doch noch mal draussen auf den Stufen Platz, die Sirenen kamen aus Richtung Skalitzer, wo sich auch die schmalen Menschenströme hinbewegten, in der lauen Kreuzberger Frühlingsnacht. Der betrunkene Mann neben mir fragte, was denn gerade abgehe, irgendwer meinte wohl, heute würde der Kiez noch Kopf stehen, er hätte nichts mitbekommen, musste ja die ganze Zeit hinterm Tresen stehen.

Ich gab ihm eine Zusammenfassung von dem Wenigen, was ich berichten konnte, das „Eigentlich wie immer“ zum Schluss hätte vollkommen ausgereicht, eigentlich. Aber er wollte es ja genau wissen. „Den Ku’damm müsste man mal wieder platt machen“ sagte er, „jetzt, wo sie den wieder so schön aufpoliert haben. So wie damals in den 80ern, das ging ruck-zuck, von der TU-Mensa aus!“

„Jedenfalls besser als die O-Strasse…“ versuchte ich mich diplomatisch zu geben, und wollte eigentlich noch ein „Die Zeiten sind eh vorbei.“ nachschieben, aber er redete schon munter weiter. „Damals brauchtest du nur drei vernünftige Leute oben auf der Bühne, und die 2.500 unten kamen mit zum Ku’damm. Das dürfte doch kein Problem sein, ein paar Leute zusammen zu kriegen, mit der Technik heutzutage. Den Ku’damm müsste man mal wieder platt machen!“

Als ich wieder zur Tür rein kam, wurde gerade einem anderen betrunkenen Kerl ein Glas Leitungswasser quer über den Tresen ins Gesicht geschüttet, mit ordentlich Schwung. Wohl wegen penetranter sexistischer Kackscheisse.

Blöd eigentlich, dass da noch ein anderer Umzug ansteht.

Was von Hamburg übrig blieb: We are following you, but not on Twitter*

(via)

Ich werde durch einen schmalen Spalt gezerrt. Das massive Stahltor – eines von so vielen in dieser Stadt, an denen man achtlos vorbeigeht und sich nie fragt, was sich wohl dahinter verbirgt – bewegte sich kurz davor wie von Geisterhand gesteuert um dreissig oder vierzig Zentimeter nach rechts, gerade breit genug, um nacheinander durch die Öffnung hindurchzuschlüpfen. Oder gestossen zu werden.

„Bitte kommen Sie mit, zur Klärung eines Sachverhalts!“ sagte die zierliche Frau, bevor sie mich am Arm packte und in eine kleine Nebenstrasse manövrierte, Richtung Stahltor, wie ich jetzt weiss. Berlin Mitte, es ist der 11. Oktober 2014, vielleicht halb elf abends, die Nacht liegt dunkel und nasskalt über der Stadt. Oder war es doch schon Wedding? Ich habe die Orientierung verloren, kein Wunder, so wie ich in den letzten Stunden durch die Stadt geirrt bin.

Schweigend gehen wir nebeneinander die Auffahrt hinunter. Meine Frage nach dem Wohin wurde mit einem spöttischen Lächeln ignoriert, also werde ich keine weiteren Kommunikationsversuche unternehmen, denke ich mir. Schweigen ist Gold. Das Tor schliesst sich hinter uns und die Frau lässt jetzt wenigstens meinen Arm los. Unten angekommen werden wir von einer weiteren Person empfangen: strenger Blick, der Griff nach meinem Rucksack. Wir befinden uns in einem Krematorium.

Wenige Augenblicke zuvor, als wir auf das sich öffnende Tor zusteuerten, brüllte noch jemand von der Strassenecke ein paar Meter weiter: „Was ist das denn für eine Scheisse, Verfassungschutz oder was? Fangt ihr die Leute jetzt schon von der Strasse weg oder wie?!“ Wohl eine der wenigen nicht kalkulierbaren Aktionen an diesem Abend, aber es machte nichts, es war nur ein einsamer Rufer. Ich hatte keine Zeit, mich umzudrehen, sein Gesicht zu erkennen oder einen Hilferuf abzusetzen. Ich war schon längst in den weissgekachelten Räumen.

Noch vor einer Stunde hatte ich Angst, meinen Kontakt zu verpassen. Ich wartete an der Tram-Schleife vor dem Jahn-Stadion auf einen Anruf, doch das Feuerwerk dort war so laut, dass ich fürchtete, das Klingeln des Telefons nicht zu hören. Nur wenige Minuten später war mir jedoch klar, dass Sie mich im Blick haben, ständig. „Warten Sie, bis der Mann in der schwarzen Jacke aufsteht, dann dürfen Sie weitergehen.“ sagte die Stimme am Telefon.

Es war nicht weit entfernt von einem relativ belebten Platz, als die kleine Frau meinen Oberarm ergriff. Irgendein türkisches Fest wurde dort gefeiert, Kinder standen in einem Kreis und tanzten, die Erwachsenen klatschten den Rhythmus dazu. Die Lichter der Spielotheken, Kneipen und Spätis beleuchteten die breite Strasseneinmündung; kein Zwielicht, nichts, wovor man Angst haben müsste, eigentlich. Ich war gerade dabei, das Vermissten-Plakat mit dem Antlitz von Murat Kurnaz, das an einem Stromverteilerkasten hing, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, im Begriff, es abzureissen, auf der Suche nach einem Hinweis. Ich dachte, das wäre mein Auftrag gewesen. Dann der Griff, das Tor, der Spalt und die Kacheln.

Inzwischen sitze ich auf einem unbequemen Hocker in einem langen, schlauchigen Raum. Vor mir ein Schreibtisch, darauf ein Stapel Papier und eine Lampe, die mich blendet. In meinem Rücken wäscht sich die zierliche Frau gerade die Hände, dann raschelt etwas. Eine Tüte? Für meinen Kopf? Ich will mich nicht umdrehen, sondern mustere lieber so unauffällig wie möglich meine unmittelbare Umgebung.

So oft habe ich darüber gelesen, und immer wieder hiess es: Anna und Arthur halten das Maul. Nach allem, was ich an diesem Abend erlebt habe, scheint mir das auch die beste Lösung zu sein: Keine Spielchen spielen, kein Kräftemessen mit der älteren Frau, die mir, inzwischen auf dem viel bequemeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches sitzend, schweigend in die Augen starrt. Stattdessen versuche ich, das „Kein offenes Feuer“-Schild zu fixieren, das ein paar Zentimeter über ihrem Kopf an der Wand hinter ihr auf den weissen Kacheln klebt, möglichst unverkrampft. Was folgt, ist das grelle Licht. Und Schweigen: Ihres und meines.

Ich beginne, Kacheln zu zählen und Szenarien durchzuspielen. Auf dem Tisch liegt meine Akte, eine stumme Anklage, doch sie genügt vollkommen, bedarf keiner Worte. Ich bemerke, dass eines der Oberlichter in dem langen, schmalen Raum blank liegt, seine Verkleidung heruntergeklappt wurde. Die zwei Neonröhren, auf halbem Weg zwischen mir und dem Schreibtisch an der Decke hängend, scheinen selbst ausgeschaltet angriffslustig in meine Richtung zu zwinkern. Schräg hinter mir höre ich auf einmal Wasser tropfen.

***

Als ich mit dem Freund und Mitbewohner auf der Suche nach ein oder zwei OZ we miss you-Stickern für unseren Kreuzberger Kühlschrank durch Hamburgs Straßen lief, erzählte er mir von einer Idee für das folgende Wochenende: Sie würden beide nach Berlin kommen und es gäbe da ein Projekt von ihren Münchener Leuten, das ziemlich aufregend und spannend klang. Und das mich letztendlich auf den unbequemen Hocker in dem stillgelegten Krematorium gebracht hat.

Nachdem ich dort ungefähr 15 Minuten hin und herrutschte und mit den Händen rang (meine Variante des Vorhabens, keine Nervosität zu zeigen), hörte ich hinter mir die Tür klappen. „Okay, es ist vorbei. Du bist erlöst, S. ist schon hier und wartet nebenan auf dich, A. braucht noch eine dreiviertel Stunde, ungefähr.“ Die Stimme gehörte Christiane Mudra, und es war mein Schlusssatz in ihrem  Überwachungsexperiment YoUturn.

Sie und ihr Team haben mich in den gut zwei Stunden davor quer durch Mitte und Wedding gelotst – eine von mehreren möglichen Routen, in meinem Fall auf den Spuren der deutsch-deutschen Teilung und ihrer Konsequenzen.

Anfangs glich es einer Schnitzeljagd: In Mauerspalten oder unter Weinranken galt es, verborgene Botschaften zu finden. Neben dem Hinweis auf das nächste Versteck befand sich auch immer eine Stasi-Akte, ein NSA-Dossier oder ein Vernehmungsprotokoll in den Unterlagen. Während man sich von Station zu Station vorarbeitete, dabei das Papier in der Hand, die Informationen überfliegend, kam immer mehr ein Gefühl von Gehetztsein auf. Dazu dann noch die Anrufe, die einen durch die Stadt dirigierten und Anweisungen gaben: „Spielen Sie jetzt Track 3 ab!“ Oder der erschütternde Brief einer Mutter, deren Sohn von der Stasi umgebracht wurde, weil die Eltern ausreisen wollten. Handgeschrieben, mit einer Blume auf dem Gedenkstein an der Bernauer Strasse abgelegt. Spätestens, als ich zögerte, ihn von dort wegzunehmen – das musste ja meine Botschaft sein – begann es, ernst zu werden; begann ich, mich darauf einzulassen.

Nach ungefähr einer halben Stunde war der Kloss im Hals verschwunden, der Druck auf der Brust konnte mit großen Schlucken aus der Augustiner-Flasche bekämpft werden (richtig verschwunden war er aber erst am nächsten Morgen). Bis die letzten „Zuschauer“ angekommen waren und wir die gelungene, von uns allen für großartig befundene Vorstellung feiern konnten, war noch etwas Zeit für die Dokumentation des Stückes: Aufgebaut neben dem improvisierten Verhörraum, stilgerecht dort untergebracht, wo man nun mal die Leichen im Keller hat – im Kühlraum des Krematoriums, gegenüber der Wand mit den Reihen quadratischer Türen, die allerdings alle verschlossen waren.

Später, in irgendeiner Weddinger Kneipe, wurde noch viel über das Stück, dessen Entstehung, die hunderten geführten Interviews und die verschiedenen Erfahrungen damit in München, Potsdam oder eben jetzt in Berlin geredet. Natürlich gab es dabei auch immer unverhofft komische Situationen, etwa, als die Akteure in einen Polizeiaufmarsch gerieten und das Ganze für Kulisse hielten. Oft waren die Erlebnisse aber erschreckend: Wie einfach man Menschen von der Bildfläche verschwinden lassen kann, am helllichten Tag. Wie wenig Einsicht es gibt – damals ja … aber jetzt doch nicht, nicht bei uns… Viel zu selten regt sich Widerstand.

Hoffnung? Nun ja, eine ganze Weile nach dem Ende des Stückes kamen wir nochmal auf meine „Verhaftung“ zu sprechen. Bis dahin hatte ich fest angenommen, der einsame Rufer gehörte zur Crew. War aber gar nicht so. Immerhin…

 

 

 

* Auf die Überschrift bin ich natürlich nicht von alleine gekommen….

In alten Gefilden

Eigentlich war ein alter Bekannter, Nachbar und temporärer Mitbewohner schuld. Lange verschollen und jetzt das erste Mal seit fünf Jahren wieder im Lande, zu Besuch von den Inseln, die unser Wetter machen. Er hat ein etwas seltsames Verhältnis zu seinem etwas seltsamen Hund. Und schaut etwas zu laut seine seltsamen ARD-Vorabendserien, gestreamt, nebenan im Wohnzimmer, weil er drüben kein Netz hat.
Also schmiedete ich Fluchtpläne, und siehe da: In der Schankwirtschaft eines anderen alten Freundes, den ich ebenfalls viel zu lange nicht mehr gesehen hatte, gab es so eine Art Lesung. Ein günstiger Zufall.
Sowieso: Schon Monate nicht mehr im Prenzlauer Berg gewesen! Kein Regen in Sicht und die letzte Spätsommerabendluft in der Nase, mit dem Rad über die Fischerinsel mit Blick auf den in der viel zu frühen Dämmerung angeleuchteten Dom, über die Spree, die hier fast einen Hauch von Hamburg versprüht.
Ich kannte den Laden schon, als es ihn noch gar nicht gab, nur im Kopf des zukünftigen Wirtes. Inzwischen musste er unter großem Getöse umziehen, hat dafür aber jetzt seine eigenen vier Wände. Das Konzept ist immer noch das Gleiche, im Grunde stammt es von der alten, selbstverwalteten Kneipe drei Ecke weiter, wo wir uns damals um Kopf und Kragen kickerten und kifften: Im Angebot waren Kultur, Politik und Alkohol, in unterschiedlichen Dosierungen, aber immer möglichst preiswert. Natürlich ist auch hier die Kultur meist am billigsten, oft sogar umsonst. Beim Alkohol kommt das nur in Ausnahmefällen in Frage.
Seit je her wehte hier ein schwacher Hauch der alten Prenzlauer Berg-Bohème, oder dem, was noch davon übrig ist. So auch an diesem Abend. Eine Zeitschrift wurde vorgestellt, genauer die vierte Ausgabe derselben. Subkultur, natürlich. Gibt es auch noch, so etwas, zum Glück. Ich wies ja schon vor einer Weile auf ein anderes Blatt hin und mache das auch jetzt gerne wieder . Wie viele weitere gute Underground-Mags derweil unerkannt an mir vorbeirauschen, kann ich natürlich nicht wissen; eine Menge, wahrscheinlich, hoffentlich.
Der Saal war noch leer, so konnten wir in Ruhe am Tresen die Ereignisse der letzten Wochen und Monate abgleichen. Der Überfall letztens – auch die verschiedensten Meldungen darüber weckten meine Neugier und bewogen mich an diesem Abend hier her zu fahren – war weit weniger dramatisch als von den einschlägigen Quellen behauptet. Ein Plastikaschenbecher musste dran glauben, das war’s. Den größten Schaden richtete die Staatsmacht an, besser gesagt ihr Pfefferspray in Kombination mit dem Deckenventilator. Also alles halb so wild.
Pünktlich eine halbe Stunde nach dem angekündigten Beginn ging es dann los, ein wenig mehr Publikum war inzwischen auch eingetroffen, trotzdem nahmen die Autoren der vorzustellenden Zeitschrift auch jetzt noch den Großteil der Stühle in Beschlag.
Für Brasch, Have- und Biermann bin selbst ich viel zu jung, aber hier saßen Leute, die damals dabei waren, zumindest hätten dabei sein können. Und – von dem was ich über diese Zeit weiss, darüber gelesen habe – viel anders war es jetzt&hier auch nicht. Ohne Begrüßung las man erst einmal drauf los, ein kosovarisches Gedicht, wie sich herausstellte.
Erst danach wurde die Runde und der genaue Ablauf der nächsten Stunde vorgestellt. Und ab da war wirklich erst einmal kein Unterschied zu den späten 70ern erkennbar: Auf Heiner Müller-Lyrik folgten Victor-Jara-Nachdichtungen, deren Originale daraufhin zur Gitarre gesungen wurden, von jemanden, der ein wenig wie eine Mischung aus Müller und Wim Wenders aussah. Übrigens ziemlich gut gesungen, hatte ja aber auch genug Zeit, der gute Mann, zu üben und zu beobachten, wie was am besten ankam. In all den Jahren.
Schon bei den Müller-Gedichten fiel mir mal wieder auf, dass Gedichte zu schreiben ein Klacks ist, verglichen damit, Gedichte zu lesen(unter bestimmten Umständen jedenfalls – über den feedreader zum Beispiel), oder gar vorgelesen zu bekommen. Daher auch meine Verweigerung dem Vorlesen gegenüber – das sollte man können. Andersrum wird ja auch in den seltensten Fällen erwartet, dass Schauspieler gute Stücke schreiben. Nicht umsonst gab es früher Vortragskünstler. Kurzum: Bis auf wenige Ausnahmen lese ich mir Gedichte am liebsten selbst stumm in meinem Kopf vor, bevorzugt von Papier.
Ganz ähnlich erging es mir, als die zeitgenössische, selbstverfasste Literatur an der Reihe war. Nur selten drang bei der vorgelesenen Austellungskritik (Alltag in der DDR) durch, wie gut sich der Text vielleicht lesen lässt (Diese Ausstellung muss genauso gegen den Strich gelesen werden wie das ND zu DDR-Zeiten.).
Ein alter Profi und Ostpunkexperte brachte dann etwas Schwung in die Veranstaltung. Erst berichtete er von den unwissenden Studenten, mit denen er sich gerade in einer Gastvorlesung herumschlagen musste (sowas kommt immer gut an), dann beschwor er wort- und stimmgewaltig vergangene Beatpoetenabende mit Wolfgang Hilbig, Leipzig anno 79. Da war er wieder, der Fluch des Vergangenen, er schien über diesem Abend zu liegen, aber dieser Abend war dann auch schon vorbei und selbst vergangen.
Als Zugabe, nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung, gab der Wirt noch eine Improvisation im Notenständer-Zusammenklappen (eine Spende des Konzerthauses, ob freiwillig oder nicht habe ich nicht herausgehört). Womit er leicht einen der Höhepunkte des Abends ablieferte, was nichts zur Qualität der Texte oder der Zeitschrift sagen soll. Die werde ich mir nämlich noch mal in Ruhe selbst vorlesen; stumm, in meinem Kopf.
Eine Lesung. Wer weiss, vielleicht berichte ich ja demnächst von einer anderen.

Kurzer Hinweis

Mal ganz aus der Reihe getanzt – dank der Depublizierungsfrist der ÖR ein hingerotzter Hinweis: Gestern machte ich ausnahmsweise mal wieder die Glotze an, und konnte mich fast nicht entscheiden. Wirklich wahr! Da ich vom Elend der Welt aber eh schon die Schnauze voll hatte, entschied ich mich gegen arte und den Master of the Universe, der ist später dran, sondern meine Wahl fiel auf This ain’t California: Die Rollbrettszene in der DDR, inklusive the incredible Fahrradschlauchtrick. Passte irgendwie besser zu meiner melancholischen Stimmung. Skaten war damals übrigens nicht so meins, ich hatte es eher mit dem BMX-Rad, das machte sich auch besser in den Abraumhalden der Lausitz. Andere Geschichte.

Wo ich schon mal multimedial verlinke, gibt es gleich noch zwei Podcasts oben drauf, welche mir die letzten Waldrunden verkürzten und die hoffentlich nicht so schnell depubliziert werden: Zuerst zweineinhalb kurzweilige Stunden zu Erich Mühsam, mit Rowohlt, Ebermann, Rellöm und Spilker. Ist genauso großartig wie es klingt. Und dann, nicht ganz so kurzweilig, aber auch interessant:  Ein Vortrag von Lukas Holfeld über Hölderlin und die Versteinerung der Revolutionäre.  (Beides via Audioarchiv)

Mit einem Zitat von diesem schliesse ich dann auch wieder die Pforten. Was waren das für Zeiten, als Idealismus noch denkbar war…

Du räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das laß er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. (quelle)