Muss ja auch mal wieder sein: Eine Linkliste

Da sonst gerade wenig Neues hier passiert, wenigstens ein paar Hinweise auf andere interessante Texte. Derzeit geht es mir mal wieder ähnlich wie Claudia Klinger – die Welt um mich herum ist mir unbegreiflich. Da will ich nichts mit zu tun haben, egal ob es jetzt „das Netz“ ist oder Berlin, was da schlechte Laune macht. Und ich frage mich mit zunehmender Frequenz, was mich davon abhält, den Daumen in den Wind zu halten, das Netz Netz sein zu lassen und mir irgendwo eine Hütte im Wald zu suchen. Wäre wahrscheinlich auch für mein Schreibfluss viel besser, der stockt nämlich gerade wie ein fauliger Tümpel.

Vielleicht liegt es am Wetter, vielleicht an mir. Obwohl: Das Wetter ist eigentlich ganz gut, keine Beschwerden soweit. Doch bevor das, was in drei Koffer passt, gepackt wird, bleiben wir noch kurz in Berlin. Ich durfte ja am Rande ein wenig daran teilhaben, wie die Frau Wiaaasching jr. gerade ihren Berlin-Nichtliebesroman auf die Beine stellt; eine weitere fiktive Liebesgeschichte aus Berlin, die aber wirklich so passiert ist, schildert Andreas Bock im Dummy Magazin. Klingt verwirrend, ist aber so.

Doch wohin? Weit, weit weg, nach Japan etwa, über das Leopold Feldmaier immer wieder so schön schreibt? Oder doch nur nach Dänemark, wo ich schon unzählige Male war, aber jetzt schon länger nicht mehr, vor allem nicht in dessen Hauptstadt, die einen neuen Stadtteil übergeholfen bekommen hat? Oder nach  Atlanta, wo mit grauer Farbe gegen Gentrifizierungevents gekämpft wird?

Wenn jedoch eigentlich die Weltflucht immer die Flucht vor einem Selbst ist, dann kann ich auch gleich in Berlin bleiben. Hier erzählt das Leben immerhin auch ziemlich harte Geschichten. Und wenn man Glück hat, so wie die hochgeschätzte tikerscherk, dann verlängert einem die flächendeckende Gesundheitsversorgung dieser Stadt das Leben ein wenig. Es kann aber auch passieren, dass sich auf den Krankenhausfluren einfach nur die Tage ins Unendliche ziehen. Und im allerschlimmsten Fall laufen hier tagelang Menschen an einem toten Kleinkind vorbei, ohne auch nur die Nase ob des Geruchs zu rümpfen.

Ja, starker Tobak, das alles. Und bevor es besser wird, noch ein Blick in die Klassenzimmer, mithin in die Zukunft. Wenn einen nicht ständig die eigenen Gedanken nerven würden, könnte man sich jahreszeitenadäquat unter eine dicke Decke legen, lesen oder fernsehen. Hab ich aber schon: Breaking Bad in drei Wochen, begeistert. Den letzten Herrndorf, zwei Tage, nicht so begeistert (Gut, nicht großartig. Obwohl es großartige Stellen gibt, wie den Anfang beispielsweise.).

Was bleibt, ist die Einsicht, dass die Hölle in uns selbst liegt – idealerweise verpackt in wunderbar berührende Worte, wie asallime das tut. Und drei gute Texte mit Bildern: Im Falle von disputnik mit einer wunderbaren Photographie, bei der wolkenbeobachterin und Kennedy Calling sogar mit aufschlussreichen bewegten Bildern.

Und mit einem Video will auch ich diesen Beitrag hier beenden. Zu meinem Erstaunen konnte der Mitbewohner nichts mit The Streets anfangen (Er ist eigentlich der Hip-Hop-Fan von uns beiden). Aber er hatte eine gute Antwort: Kennst du Sleaford Mods, fragte er mich. Kannte ich nicht. Ein Erlebnis seien die, der eine Typ meckert die ganze Zeit, der andere sitzt daneben und drückt ein paar Knöpfe. Und beide scheinen ein veritables Drogenproblem zu haben. Recht hatte er, mit allem. Und als wäre das noch nicht genug, spielte mein Lieblingsbarmann in meiner Stammkneipe letztens die komplette Platte durch, purer Zufall.

Bonustrack: Der Kiezneurotiker feiert sein Zweijähriges. Klar, wissen alle längst, Gratulation und so weiter. Kurz vor dem Jubiläum hat er sich durch die Hintertür meiner Kommentarspalte hier als Gastblogger eingeschlichen und gibt ein Roadmovie – betrunken zu Fuß durch den Prenzlauer Berg, auf der verzweifelten Suche nach Jacky Cola – zum Besten.

Erkenntnis

24.02.04

Der Hubschrauber sah gefährlich aus. Gefährlich, weil aus den beiden Seiten riesige Geschütze ragten, gefährlich, weil in den offenen Seitentüren jeweils zwei gepanzerte Soldaten saßen und gefährlich, weil er nur ungefähr 50 Meter über dem Boden schwebte und einen dumpfen Höllenlärm machte.

Die Bäume, die die Straße säumten, bogen ihre Kronen vom Wind weg, und die Fenster in der Einfamilienhaussiedlung vibrierten. Sie klirrten nicht und sie sprangen nicht, nie. Es gab immer nur ein mattes Vibrieren.

„Papa! PAPA!!“

„Ja mein Sohn, was ist?“

„Du sagst mir immer bloß, dass ich mich ans Fenster stellen soll und winken.“

„Genau das solltest du jetzt auch tun, mein Sohn.“

„Aber du sagst mir nie, warum!“

„Doch mein Sohn, ich habe es dir schon tausendmal gesagt: Du sollst winken, damit sie sehen, dass es dir gut geht. Die guten Soldaten passen auf, dass die Kinder alle wohlauf sind, sie beschützen euch.“

„Aber Papa, was ist, wenn der Hubschrauber einmal nicht mehr kommt? Wird es uns dann schlecht gehen?“

„Das wird nie passieren, mein Sohn. Oder hast du schon eine Nacht erlebt, in der sie nicht nachgeschaut haben, ob du in Ordnung bist?“

„Nein Papa.“

„Na also, und jetzt geh schlafen.“

Er wusste beim besten Willen nicht, wie er es seinem Sohn anders erklären sollte. Vor fünf Jahren, ein Jahr nach seiner Geburt, fing es an. Seitdem flog der Armeehubschrauber jeden einzelnen Abend Patrouille in dieser Strasse, immer zwischen zehn und elf Uhr.

Niemand, der hier wohnte, hatte das auch nur mal am Rande erwähnt. Keiner regte sich darüber auf, nicht ein Anwohner dieser Strasse beschwerte sich in irgendeiner Form über die allnächtliche Militärpräsenz. Es wurde als alltägliches Ereignis hingenommen, so wie die morgendliche Tour des Zeitungsjungen. Da wäre er der letzte, der seinem Sohn irgendwelche Flausen in den Kopf setzten würde. Kinder haben schließlich genug Probleme, mit denen sie fertig werden müssen, da sollten sie sich nicht zusätzlich dumme Gedanken um einen blöden Hubschrauber machen müssen, über den sowieso nicht gesprochen wird.

Wie immer, wenn der Lärm abgeklungen und das Kind zugedeckt war, öffnete er eine Flasche Wein. Wie immer, seitdem er alleine war, würde er für zwei trinken, mindestens. Und wie immer überlegte er, sich einen anderen Job zu suchen. Jeden Abend die gleichen Gedanken, jede Nacht der gleiche Absturz und jeden Morgen die gleiche Resignation, auf dem Weg vom Kindergarten ins Büro: Er würde hier nicht rauskommen. Sein Sohn vielleicht, aber er nicht.

Botschaften

Am Kanal hängen Zettel, eine Wohnung wird angeboten: Knappe 150 Quadratmeter, knappe 1.500 Euro Miete. So weit, so schlecht. Doch wer sich das leisten kann und will: Es gibt noch einen kleinen Haken, Abstand genannt. Läppische 95.000 Euro. Was sagt uns das?

Eine andere Botschaft hängt in Köpenick, diesmal hatte ich wenigstens das Mobiltelefon dabei und konnte sie mehr schlecht als recht fotografieren. Dort wurde am Wochenende das Bürgerbüro des NPD-Europaabgeordneten Voigt eröffnet. Vorher gab es für das Haus, in dem auch die Parteizentrale residiert, noch einen neuen Anstrich und ein neues Klingelschild. Auch zwei Häuser weiter wird an der Fassade gearbeitet:

SNC00053a

Die Nähe des Gerüstbauobjekts zur Parteizentrale ist bestimmt nur geographisch und ansonsten rein zufällig. Und die Antifaspinner bauschen das wahrscheinlich alles auf, um rechtschaffene, hart arbeitende deutsche Männer zu verunglimpfen. Ostdeutsche, da legen die glaube ich wert drauf, während sie auf ihren Mopeds durch die Gegend fahren und unpolitischen Rechtsrock hören.

Bei der Gelegenheit fand ich – als Antwort, sozusagen – noch ein weiteres Bild auf dem Mobiltelefon. Von jemanden, der auch ganz schön scheisse gesungen hat.

Und wo wir schon mal bei Musik mit Aussage sind, bitteschön:

Mehr habe ich derzeit nicht zu sagen.

Vor 25 Jahren

Vom Heimatdichter aus dem wendischen Nachbardorf meiner Kindheit habe ich früh gelernt, empfindlich uff die Wörter zu sein. Später waren es dann Klemperer, Orwell und zuletzt die Tagebücher Friedrich Kellners: Immer wieder zeigte sich, wie manipulativ Sprache verwendet werden kann. Und wird.

Der 17. Oktober 1989 war in dieser Hinsicht ein historischer Tag. Der denkwürdige 40. Republikgeburtstag (mit Gorbi im Palast und dem Volk davor) war gerade erst zehn Tage her – doch es sollte der letzte gewesen sein, nicht umsonst wurde der Tag der Deutschen Einheit bewusst auf ein Datum vor dem 7. Oktober 1990 gelegt. Das eigentliche bedeutende Ereignis dieses Tages – und das ist ebenso bemerkenswert – spielt in der kollektiven Erinnerung allerdings kaum noch eine Rolle: Das Zentralkomitee der SED trat zu seiner 9. Tagung zusammen und Erich Honecker zurück. Dass er beim Vortrag seiner Rücktrittserklärung zum Schluss seinen Namen mit vorliest, spricht allein schon Bände.

Anschliessend wird Egon Krenz zum Nachfolger Honeckers gewählt und hält sein 59-minütiges Antrittsreferat mit dem Titel Aktuelle politische Lage und Aufgaben der Partei*:

Wir schöpfen unsere Zuversicht aus dem unbestreitbaren gesellschaftlichen Fortschritt, den unser Volk und die Völker der Bruderländer – bei allem, was noch zu vollbringen ist – in historisch kurzer Zeitspanne errungen haben. Dieses Wissen und das Geschaffene geben uns die unerschütterliche Gewißheit, auch den Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts gewachsen zu sein.

Die erste Voraussetzung dafür ist (allerdings) eine reale Einschätzung der Lage. Fest steht, wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlußfolgerungen gezogen. Mit dem heutigen Tag werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen.

Wäre es aufgefallen, wenn ich es nicht gefettet hätte? Genau da kommt er her, der Begriff Wende. Unglücklich gewählt für die spätere Verwendung, aber in dieser Unglücklichkeit und dem Scheitern, sowohl des Krenz’schen Vorhabens als auch der Sache insgesamt, eigentlich die perfekte Wahl. Ich versuche trotzdem, das Wort so gut es geht zu vermeiden. Denn es stellt sich – wahrscheinlich nicht einmal (immer) mit Absicht, sondern weil es so bequem im Mund liegt – vor die viel passendere Revolution. Die wird ja meist noch mit einem erklärenden Zusatz versehen, und bis man friedliche Revolution gesagt hat, ist der Schalter für die Bahnsteigkarten längst geschlossen.

Während man also Wende sagt, summt es dazu im Kopf zur Blumfeld-Melodie Lass uns nicht von Revolution reden, ich weiss gar nicht, wie das gehen soll… Doch noch ein weiterer Grund spricht gegen diesen Begriff, und das ist die Tradition vor Krenz: Die geistig-moralische Wende des Helmut Kohl. Nicht nur eine Parallele in der Wortwahl, sondern auch bei dem, was hinten rauskam: Ein Rohrkrepierer allererster Güte.

 

* Quellen/Dokumente:

– Bundesarchiv/BStU: Dokumente zur 9. Tagung des ZK der SED am 18. Oktober 1989, Büro Egon Krenz. (Für Komplettansicht auf die einzelnen Ausschnitte klicken)

– Bundesarchiv: Tonmitschnitt der 9. Tagung des ZK der SED (TonY 1/1463). Besonders interessant die verschiedenen Diskussionsbeiträge ab ca. 1h 10min, durch die klar wird, wie kritisch die Lage war

– dazu: Zeitprotokoll der einzelnen Punkte.

2+4 Chronik zum 18.10.1989: Aus den Krenz-Erinnerungen/Kohl empfängt Andreotti

Tagesschau – Nachbericht am 19.10.1989

Schabowski zu Honeckers Absetzung

(ot: Und ich hatte noch versprochen, die Geschichten aus dem alten Heimatdorf zu erzählen. Das würde ich gerne noch einlösen.)

Was von Hamburg übrig blieb: We are following you, but not on Twitter*

(via)

Ich werde durch einen schmalen Spalt gezerrt. Das massive Stahltor – eines von so vielen in dieser Stadt, an denen man achtlos vorbeigeht und sich nie fragt, was sich wohl dahinter verbirgt – bewegte sich kurz davor wie von Geisterhand gesteuert um dreissig oder vierzig Zentimeter nach rechts, gerade breit genug, um nacheinander durch die Öffnung hindurchzuschlüpfen. Oder gestossen zu werden.

„Bitte kommen Sie mit, zur Klärung eines Sachverhalts!“ sagte die zierliche Frau, bevor sie mich am Arm packte und in eine kleine Nebenstrasse manövrierte, Richtung Stahltor, wie ich jetzt weiss. Berlin Mitte, es ist der 11. Oktober 2014, vielleicht halb elf abends, die Nacht liegt dunkel und nasskalt über der Stadt. Oder war es doch schon Wedding? Ich habe die Orientierung verloren, kein Wunder, so wie ich in den letzten Stunden durch die Stadt geirrt bin.

Schweigend gehen wir nebeneinander die Auffahrt hinunter. Meine Frage nach dem Wohin wurde mit einem spöttischen Lächeln ignoriert, also werde ich keine weiteren Kommunikationsversuche unternehmen, denke ich mir. Schweigen ist Gold. Das Tor schliesst sich hinter uns und die Frau lässt jetzt wenigstens meinen Arm los. Unten angekommen werden wir von einer weiteren Person empfangen: strenger Blick, der Griff nach meinem Rucksack. Wir befinden uns in einem Krematorium.

Wenige Augenblicke zuvor, als wir auf das sich öffnende Tor zusteuerten, brüllte noch jemand von der Strassenecke ein paar Meter weiter: „Was ist das denn für eine Scheisse, Verfassungschutz oder was? Fangt ihr die Leute jetzt schon von der Strasse weg oder wie?!“ Wohl eine der wenigen nicht kalkulierbaren Aktionen an diesem Abend, aber es machte nichts, es war nur ein einsamer Rufer. Ich hatte keine Zeit, mich umzudrehen, sein Gesicht zu erkennen oder einen Hilferuf abzusetzen. Ich war schon längst in den weissgekachelten Räumen.

Noch vor einer Stunde hatte ich Angst, meinen Kontakt zu verpassen. Ich wartete an der Tram-Schleife vor dem Jahn-Stadion auf einen Anruf, doch das Feuerwerk dort war so laut, dass ich fürchtete, das Klingeln des Telefons nicht zu hören. Nur wenige Minuten später war mir jedoch klar, dass Sie mich im Blick haben, ständig. „Warten Sie, bis der Mann in der schwarzen Jacke aufsteht, dann dürfen Sie weitergehen.“ sagte die Stimme am Telefon.

Es war nicht weit entfernt von einem relativ belebten Platz, als die kleine Frau meinen Oberarm ergriff. Irgendein türkisches Fest wurde dort gefeiert, Kinder standen in einem Kreis und tanzten, die Erwachsenen klatschten den Rhythmus dazu. Die Lichter der Spielotheken, Kneipen und Spätis beleuchteten die breite Strasseneinmündung; kein Zwielicht, nichts, wovor man Angst haben müsste, eigentlich. Ich war gerade dabei, das Vermissten-Plakat mit dem Antlitz von Murat Kurnaz, das an einem Stromverteilerkasten hing, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, im Begriff, es abzureissen, auf der Suche nach einem Hinweis. Ich dachte, das wäre mein Auftrag gewesen. Dann der Griff, das Tor, der Spalt und die Kacheln.

Inzwischen sitze ich auf einem unbequemen Hocker in einem langen, schlauchigen Raum. Vor mir ein Schreibtisch, darauf ein Stapel Papier und eine Lampe, die mich blendet. In meinem Rücken wäscht sich die zierliche Frau gerade die Hände, dann raschelt etwas. Eine Tüte? Für meinen Kopf? Ich will mich nicht umdrehen, sondern mustere lieber so unauffällig wie möglich meine unmittelbare Umgebung.

So oft habe ich darüber gelesen, und immer wieder hiess es: Anna und Arthur halten das Maul. Nach allem, was ich an diesem Abend erlebt habe, scheint mir das auch die beste Lösung zu sein: Keine Spielchen spielen, kein Kräftemessen mit der älteren Frau, die mir, inzwischen auf dem viel bequemeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches sitzend, schweigend in die Augen starrt. Stattdessen versuche ich, das „Kein offenes Feuer“-Schild zu fixieren, das ein paar Zentimeter über ihrem Kopf an der Wand hinter ihr auf den weissen Kacheln klebt, möglichst unverkrampft. Was folgt, ist das grelle Licht. Und Schweigen: Ihres und meines.

Ich beginne, Kacheln zu zählen und Szenarien durchzuspielen. Auf dem Tisch liegt meine Akte, eine stumme Anklage, doch sie genügt vollkommen, bedarf keiner Worte. Ich bemerke, dass eines der Oberlichter in dem langen, schmalen Raum blank liegt, seine Verkleidung heruntergeklappt wurde. Die zwei Neonröhren, auf halbem Weg zwischen mir und dem Schreibtisch an der Decke hängend, scheinen selbst ausgeschaltet angriffslustig in meine Richtung zu zwinkern. Schräg hinter mir höre ich auf einmal Wasser tropfen.

***

Als ich mit dem Freund und Mitbewohner auf der Suche nach ein oder zwei OZ we miss you-Stickern für unseren Kreuzberger Kühlschrank durch Hamburgs Straßen lief, erzählte er mir von einer Idee für das folgende Wochenende: Sie würden beide nach Berlin kommen und es gäbe da ein Projekt von ihren Münchener Leuten, das ziemlich aufregend und spannend klang. Und das mich letztendlich auf den unbequemen Hocker in dem stillgelegten Krematorium gebracht hat.

Nachdem ich dort ungefähr 15 Minuten hin und herrutschte und mit den Händen rang (meine Variante des Vorhabens, keine Nervosität zu zeigen), hörte ich hinter mir die Tür klappen. „Okay, es ist vorbei. Du bist erlöst, S. ist schon hier und wartet nebenan auf dich, A. braucht noch eine dreiviertel Stunde, ungefähr.“ Die Stimme gehörte Christiane Mudra, und es war mein Schlusssatz in ihrem  Überwachungsexperiment YoUturn.

Sie und ihr Team haben mich in den gut zwei Stunden davor quer durch Mitte und Wedding gelotst – eine von mehreren möglichen Routen, in meinem Fall auf den Spuren der deutsch-deutschen Teilung und ihrer Konsequenzen.

Anfangs glich es einer Schnitzeljagd: In Mauerspalten oder unter Weinranken galt es, verborgene Botschaften zu finden. Neben dem Hinweis auf das nächste Versteck befand sich auch immer eine Stasi-Akte, ein NSA-Dossier oder ein Vernehmungsprotokoll in den Unterlagen. Während man sich von Station zu Station vorarbeitete, dabei das Papier in der Hand, die Informationen überfliegend, kam immer mehr ein Gefühl von Gehetztsein auf. Dazu dann noch die Anrufe, die einen durch die Stadt dirigierten und Anweisungen gaben: „Spielen Sie jetzt Track 3 ab!“ Oder der erschütternde Brief einer Mutter, deren Sohn von der Stasi umgebracht wurde, weil die Eltern ausreisen wollten. Handgeschrieben, mit einer Blume auf dem Gedenkstein an der Bernauer Strasse abgelegt. Spätestens, als ich zögerte, ihn von dort wegzunehmen – das musste ja meine Botschaft sein – begann es, ernst zu werden; begann ich, mich darauf einzulassen.

Nach ungefähr einer halben Stunde war der Kloss im Hals verschwunden, der Druck auf der Brust konnte mit großen Schlucken aus der Augustiner-Flasche bekämpft werden (richtig verschwunden war er aber erst am nächsten Morgen). Bis die letzten „Zuschauer“ angekommen waren und wir die gelungene, von uns allen für großartig befundene Vorstellung feiern konnten, war noch etwas Zeit für die Dokumentation des Stückes: Aufgebaut neben dem improvisierten Verhörraum, stilgerecht dort untergebracht, wo man nun mal die Leichen im Keller hat – im Kühlraum des Krematoriums, gegenüber der Wand mit den Reihen quadratischer Türen, die allerdings alle verschlossen waren.

Später, in irgendeiner Weddinger Kneipe, wurde noch viel über das Stück, dessen Entstehung, die hunderten geführten Interviews und die verschiedenen Erfahrungen damit in München, Potsdam oder eben jetzt in Berlin geredet. Natürlich gab es dabei auch immer unverhofft komische Situationen, etwa, als die Akteure in einen Polizeiaufmarsch gerieten und das Ganze für Kulisse hielten. Oft waren die Erlebnisse aber erschreckend: Wie einfach man Menschen von der Bildfläche verschwinden lassen kann, am helllichten Tag. Wie wenig Einsicht es gibt – damals ja … aber jetzt doch nicht, nicht bei uns… Viel zu selten regt sich Widerstand.

Hoffnung? Nun ja, eine ganze Weile nach dem Ende des Stückes kamen wir nochmal auf meine „Verhaftung“ zu sprechen. Bis dahin hatte ich fest angenommen, der einsame Rufer gehörte zur Crew. War aber gar nicht so. Immerhin…

 

 

 

* Auf die Überschrift bin ich natürlich nicht von alleine gekommen….

Premiere, doppelt

Seit langer, langer Zeit war ich mal wieder im Kino. Früher passierte das ständig, dort war schliesslich der Arbeitsplatz der Beinaheangetrauten und in irgendeinem der Yorck-Kinos lief immer was Besseres als im Fernsehen. Da ich nun aber nicht mehr über die magische Freie-Eintritt-Karte verfüge, das Internetstreaming ganz vernünftig läuft und ich Unterhaltungsfilmen alleine nicht viel abgewinnen kann – im Gegensatz zu Serien – verzichtete ich seit mindestens zwei Jahren auf jeglichen Kinobesuch.

Es war auch eher ein Zufall – ein glücklicher, wie sich herausstellte (wie immer erst im Nachhinein, vorher ist man ja nie schlauer): Eine Freundin meldete sich spontan, und da ich sie in den letzten Wochen sträflich vernachlässigt hatte, suchte ich in den einschlägigen Programmen nach einer kulturellen Abendveranstaltung. In die engere Auswahl kam ein Konzert im Schokoladen oder … Moment, das klingt gut, da würde ich sogar alleine hingehen: Ein Dokumentarfilm zur Gentrifizierung, Premiere an diesem Abend im Moviemento.

Verdrängung hat viele Gesichter lautete der Titel, den Inhalt habe ich nur kurz überflogen; wo das Thema gerade Konjunktur hat, nehme ich besser alles dazu mit, bevor es in den Mottenkisten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten verschwindet. Als ich am Telefon die Karten reservierte, fiel mir auf, dass ich noch nie im Moviemento war: Wir schafften es früher immer nur ins Yorck, zum Rollberg, Passage oder Babylon – oder eben in das tolle alte Kino in Charlottenburg, wo Madame arbeitete und Buck manchmal verknautscht aus seinem Büro lugte.

Vor dem Kino angekommen, das dank seiner Ecklage und trotz des Schildes leicht zu übersehen ist, versammelte sich ein Publikum vor der Tür (Raucher, klar), wie man es in Kreuzberg nicht anders erwartete: Unterschiedlichste Altersgruppen, aber durchgehend bunt und mal mehr, mal weniger aus dem Rahmen gefallen. Und durch die Maschen des sozialen Netzes auch, hier war ich Gleicher unter Gleichen. Passend dazu näherte sich vom Kotti her eine Ein-Mann-Demonstration, zuerst nur akustisch wahrzunehmen: Ein älterer Mann, ein Türke vielleicht, fuhr gemächlich auf seinem über und über mit Plakaten geschmückten Fahrrad den Kottbusser Damm entlang und hielt dabei ein Megafon Richtung Bürgersteig, aus dem von Band abgespielte Wortfetzen zu hören waren – der Verkehr auf der vierspurigen Strasse und die verstärkten Doppelauspuffrohre des örtlichen Macho-Nachwuchses liessen mich nur etwas von „Bleiberecht für alle Flüchtlinge“ verstehen.

Verglichen mit den anderen Gentrifizierungs-Dokumentationen ist diese schon speziell: Relativ schnell wird klar, dass es sich hier nicht um den üblichen, professionellen Reportage-Journalismus handelt. Die eigene Betroffenheit scheint sowohl Auslöser als auch Themenschwerpunkt zu sein, Verdrängung hat viele Gesichter  wurde von einem Kollektiv geschaffen, von Menschen, die zwischen Ost und West, zwischen Kreuzberg und Friedrichshain wohnen  – irgendwo in dem Zipfelchen Treptow, das längst aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist und jetzt von Baugruppen erobert wird.

Das ist eine zweite, angenehme Überraschung: Nicht der große Blick, der möglichst alle Aspekte darstellen will, sondern ein kleines Phänomen, welches auf den ersten Blick auch gar nicht problematisch scheint, wird hier thematisiert. Menschen, die früher vielleicht selbst mal Häuser besetzt haben, sich überwiegend als linksalternativ verstehen und verwundert zur Kenntnis nehmen müssen, jetzt auf einmal die Bösen sein zu sollen, wo sie doch selbst nur den steigenden Mieten, die sie sich in zehn Jahren in der Gegend nicht mehr leisten können werden, entgehen wollen. Deshalb suchen sie den Ausweg im Modell der Baugruppe – keine Hedgefonds, sondern kleinteilige Zusammenschlüsse privater Investoren, die sich ihre eigenen vier Wände bauen. Was kann denn daran schlimm sein, fragen sie und wahrscheinlich auch viele aus dem Publikum, die sich mit diesem Thema noch nicht näher beschäftigt haben.

Obwohl der Film klar Stellung bezieht, wird niemand über die Maßen vorgeführt oder blossgestellt und es werden eben auch solche Fragen zugelassen, jedoch nicht, ohne eine Antwort darauf zu geben:  Zuerst einmal das auch von einigen Protagonisten der „Gegenseite“ schliesslich erkannte Eingeständnis, dass sie vom puren Egoismus getrieben sind, selbst nicht unter die Räder zu kommen und es in diesem Falle eben ein Kollateralschaden ist, wenn dies anderen passiert; Hauptsache Sicherheit, auch in zehn Jahren noch. Dabei gibt es auch andere, sozialere Möglichkeiten, wenn man schon neu bauen möchte: Genossenschaftliche Modelle oder das Mietshäusersyndikat bieten hier Alternativen abseits von Wohneigentum, genauso sicher und planbar, nur kann man in Zukunft halt keinen Reibach damit machen. Um nur ein Beispiel zu nennen.

Die Stärke des Films sind die Geschichten der Porträtierten, egal, welchem Lager sie angehören: Das Dilemma der Baugruppenmitglieder wird ebenso deutlich wie die Absurdität der Politik und die Ausweglosigkeit der betroffenen Anwohner – ob das nun der stille, trotz seiner Situation erstaunlich unverzweifelte Buchhändler ist oder die Berliner Pflanze Moni, Jahrgang ’56 und seitdem mit großer Klappe und großem Herz im Kiez unterwegs. Die in einem Nebensatz ganz dezent darauf hinweist, dass das, was jetzt gerade um sie herum passiert, beileibe nicht die erste Verdrängung ist: Man erinnere sich nur mal an die Umstellung der Ostmieten auf das Westniveau, kombiniert mit dem Verlust des Einkommens durch Arbeitslosigkeit wurden dadurch schon damals nicht wenige an den Rand der Stadt und der Gesellschaft gedrängt.

Es ist müßig, auf alle großartig gelungenen Szenen (die Schuhe des Baustadtrats!) einzugehen, und selbstverständlich hat auch dieser Film seine Schwächen (Ich glaube, das, was ich persönlich am Meisten zu kritisieren habe firmiert unter dem Begriff Sounddesign). Da sich das Filmkollektiv auf die eigene kleine Lebenswelt konzentrierte, fehlt auch die große Anklage: Die Systemfrage wird nicht gestellt. Wenn ich mich recht erinnere, taucht das Wort Kapitalismus nicht ein einziges Mal in dem Film auf – ein bisschen schade, denn solange mit Grund und Boden spekuliert werden darf und daraus teils astronomische Gewinne erwirtschaftet werden, führt kein Weg daran vorbei, dass wirklich jeder Schuld ist an der Gentrifizierung.

o.T. (2)

[nothing changed]

03.08.04

Du kannst dir jeden Tag
deine Meinung aus dem Leib brüllen,
Leserbriefe schreiben
und dich bei Call-Center-Sklaven
beschweren.

 

Du kannst Demonstrationen anmelden,
Kreuzchen machen
und Parteien gründen.

 

Doch was gut und böse
oder richtig und falsch
und vor allem zu tun ist,
entscheiden andere.

 

Zum Schluß
gewinnt immer noch der
mit der größten Knarre.

Grundsätzlichkeiten & Blogrollupdate

(via nerddrugs)

Nach etwas über einem Jahr und etwas über hundert Beiträgen ist es an der Zeit für ein paar Grundsätzlichkeiten, die über das About hinaus gehen, und die auch in die Leiste da oben wandern werden:

Das hier ist ein Geschenk

Ich schreibe, weil ich will. Was ich will. Es kam auch schon vor, dass ich für Geld geschrieben habe, aber das ist eine ganze Weile her & hat hier nichts zu suchen. Ich kann Geld nämlich eigentlich gar nicht leiden, ausser, um Bücher zu kaufen. Wir meiden uns, wo es nur geht. Was ich noch weniger leiden kann, sind Leute, die mit anderer Menschen Arbeit ihr Geld verdienen.

Sollte ich mir also Gedanken über eine Lizenz machen, obwohl ich allein die Idee an sich schon absurd finde? Mich wieder unwillig durch die etlichen Creative-Commons-Möglichkeiten klicken? Wieso nicht gleich eine WTFPL? Eben weil es Leute gibt, die sich nicht schämen, mit anderer Leute Arbeit ihr Geld zu verdienen. Deswegen ergänze ich die WTF-Lizenz: Rebloggt von mir aus, aber wer sich hier bedient, um damit Kohle zu machen, dem sollen die Haare büschelweise aus Nase und Ohren wachsen und in dessen Träumen soll fortan jede Nacht mit penetranter Stimme der aktuelle heftig&co-clickbait-Schund vorgelesen werden. Und nix anderes mehr, ein Leben lang. (Das ist als Vertragsgrundlage zu verstehen und zu erfüllen.)

Was soll das denn überhaupt sein?

Keine Ahnung, ehrlich, immer noch nicht. Ich schreibe hier ins Internet, nennt es, wie ihr wollt. Blog, Literatur, Tagebuch – da ist auch einiger Müll dabei, ganz sicher. Man lernt ja jeden Tag dazu.

Das mache ich einfach schon, so lange ich denken kann, das mit dem Schreiben. Als es dann irgendwann das Internet gab, eben auch da: Erst auf einer selbstgebastelten fortunecity-Seite, im letzten Jahrtausend noch, dann auf einem ganz passablen Literaturportal und einem nicht ganz so passablen Onlinemagazin, die es beide nicht mehr gibt, später irgendwann mit Erst- und Zweitblog und jetzt an dieser Stelle. Das Internet bietet großartige Möglichkeiten für Schreiber (Musiker, Zeichner, Filmer…), aber es ist nichts als ein Werkzeug: So wie die Druckerpresse und die Übertragung von Radiowellen (Nicht: Wie Verlage oder Rundfunksender).

Im Laufe der Zeit hat sich herausgestellt, dass hier gehäuft fiktive, halbwahre und halbgare Texte erscheinen; manche länger, manche kürzer,  manche jünger, manche älter. Ganz selten reimen sie sich, dafür gibt es aber öfter mal Bilder. Eine Archivseite existiert noch nicht: Der Hobbykeller, die Werkstatt, ist traditionell unaufgeräumt. Wer aber unbedingt möchte, kann am Anfang anfangen – doch lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!

Pseudonym, Anonym,Egalonym

Namen sind Schall & Rauch, und überhaupt: Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk & irgendwas mit Ponyhof.

Wer ich bin, erfährt man ohnehin wahrscheinlich viel zu gut aus meinen Texten, ausserdem ist das jeden Moment ein anderer (wie der Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann, jedenfalls nicht in denselben) – und im Zweifel kenne ich den gar nicht. Anders gesagt: Alles ist zusammengesetzt aus Fragmenten, auf die niemand den ganzen Blick haben kann, weil jeder Teil davon ist: Real life is fake life is real life. Es gab mal einen Namen für mein Alter Ego, den verkürzte ich dann, und jetzt isser gerade ganz weg. Vielleicht kommt er ja mal wieder, wer weiss das schon! Das hat nichts damit zu tun, dass ich mich irgendwie hinter der Anonymität verstecken wollen würde, ich nehme mich einfach nur nicht ernst genug. Ansonsten:

Wir können gerne darüber reden, aber:

Wer Troll ist, entscheide ich. Wie alles andere hier auch. Ein gepflegter und vor allem dem jeweiligen Thema angemessener Umgangston kann jedoch nicht schaden. Ich bin persönlich sowieso eher der höfliche (um nicht zu sagen: viel zu nette) Typ. Meistens.

Derzeit schalte ich Kommentare – wenn ich denn mag – samt und sonders per Hand frei, das kann also schon mal dauern. Genau wie eine Antwort von mir: Manchmal kann ich nicht antworten, manchmal will ich nicht, manchmal fällt mir einfach nur nichts Gescheites ein. Manchmal fällt mir allerdings leider auch was ganz und gar Ungescheites ein.

In jedem Netzwerk sitzt mindestens eine Spinne und wartet auf Beute

Mein Blog gibt es weder auf facebook, google+, twitter, ello oder wo auch immer – sondern nur hier. Das mag  total kontraproduktiv erscheinen, aber mit der Produktivität habe ich es eh nicht so. Dafür habe ich eine gesunde, ausgeprägte Abscheu vor Werbung. Ich kann Marktschreier nicht leiden, wieso sollte ich also einer in eigener Sache werden?

So spiele ich lieber Würfel mit der Göttin des Zufalls und schaue erstaunt dabei zu, wie die Wellen des Netzes immer wieder ein paar Schiffbrüchige an meine Blog-Gestade  spülen. Was nicht bedeutet, dass es mich nicht freut, wenn andere freundlich auf mich hinweisen, im Gegenteil. Auch ich bin oft so begeistert von fremden Texten, Bildern, Filmen, dass ich es gar nicht abwarten kann, sie zu verlinken.

to be continued…und immer noch gilt: Bei Fragen fragen!

Neues von der Blogroll

Zuerst wird eine neue Kategorie eingeführt: Der Ruhestand, in dem die nicht mehr aktiven oder existenten Blogs aus der Rolle landen – den Anfang macht Die Schrottpresse von pantoufle. Schon allein, um zu sehen, welche Abteilung über die Jahre mehr wächst.

Als nächstes zwei Neuzugänge, die ich so interessant finde, dass ich dort bei gesponserten Posts und manch anderem Werbemüll schon mal das eine oder andere Auge zudrücke (gerade in der Blogroll kann ein bisschen bunte Abwechslung nicht schaden, und ich kacke ja auch niemandem vor die Tür^^) : Die Blogrebellen und Sebastian Hartmanns StreetArtMag. Zur Kompensation für das immer noch vorhandene, machmal leicht nervende linke Gewissen kommt dafür das Lower Class Magazine in die Blogroll. Auch oft politisch, dabei erstaunlich vielfältig und längst überfällig  ist Tante Jays Grabbelkiste.

Für Berliner (natürlich wieder deutlich in der Überzahl) bzw. Hamburger und weltenbummlerisches Lokalkolorit sorgen ab jetzt Nante Berlin, Wirre Welt Berlin, ThorgeFaehrlich und der reisende Reporter Andreas Moser. Zu guter Letzt noch ein wenig ganz viel Indieliteratur und Pagophilas unbeschreiblich wunderbare Cool Pains, ein krönender Abschluss…

Systemkritisches Frisurenverhalten szenetypischer Großstadtrandgruppen

12.08.03

Aus politischer Überzeugung
störe ich seit zehn Jahren
meine Haare nicht mehr
beim Wachsen.

Doch jetzt erst fiel mir auf,
dass ich damit wirklich dem System schade.
Durch gesparte Friseur- und Kammkosten.

Für wie viele fehlenden Arbeitsplätze
ich wohl über die Jahre gesorgt habe?

Allerdings werde ich noch übertrumpft,
durch die guten alten Rude Boy Skins.
Kein Friseur, kein Kamm, kein Shampoo.
(Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland)

Aber: Die der Wirtschaft vorenthaltenen Gelder,
werden am anderen Ende wieder ausgegeben,
für Haarlack und Farbe,
von den Punks,
den Deppen.

Zu viele Rhabbis in Hamburch

Ich war da, bei der Bloggerlesung in Hamburg. Und es war toll, keine Frage. Fragen habe ich allerdings noch so einige. Zum Beispiel, warum ich es nicht mehr geschafft habe, mit Glumm noch ein Bier zu trinken. Die Rhabbis waren wohl schuld, nachdem die Mexikaner für nicht so dolle befunden wurden. Also lieber Rharbarberschnaps. Die Jury bestand neben mir noch aus einem anderen fachkundigen Berliner Gaumen, der in Begleitung einer zukünftigen Erfolgsschriftstellerin angereist war. Irgendwann schleppte ich mich dann frühmorgens aus dem Jolly Rogers (keine Ahnung, wie wir dahin gekommen sind….) in meine Unterkunft.

Also: Danke an Candy, Sabine und Glumm, es hat viel Spass gemacht.Und nächstes Mal verlieren wir uns hoffentlich nicht so schnell aus den Augen – dass es ein nächstes Mal geben wird, geben muss, das ist eigentlich auch keine Frage. Doch jetzt geht es erst mal zurück nach Berlin, beladen mit schönen Erinnerungen und ein paar Büchern mehr – passenderweise war in der Flora nämlich auch noch die radical bookfair. Danke Hamburg und danke Candy, für die Idee und für die Umsetzung. Ein durch und durch gelungenes Wochenende.

Kraut und Rüben

Als Überbrückung – ich bin ja schon so gut wie in Hamburg, juhu – noch ein paar Links und Bilder für das lange Wochenende, teilweise sogar bewegte (und bewegende).  Zuerst: Hamburg hat sein Lächeln verloren, auch darauf bin ich irgendwie gespannt, wie es jetzt dort ist, kurz nachdem OZ seinem Berufsrisiko erlegen ist. Für wirklich tiefe Einblicke lohnt sich dieser Nachruf.

Um solch einen Verlust zu verkraften, braucht es natürlich mehr als ein wenig Auflockerung, aber das ist alles, was ich bieten kann: Zwei krude Interviews, eines mit Quincy Jones, das andere mit Robert Anton Wilson. Keine Ahnung, wer von beiden schräger drauf ist, vielleicht ja gar keiner. Um noch kurz beim Thema Drogen zu bleiben: Diese Geschichte zu den McDonalds-Teelöffeln kannte ich bisher noch gar nicht, wahrscheinlich war ich der einzige. Und eine letzte Kuriosität, ebenfalls vollkommen neu für mich: Die BRD hat eine Exklave in der Schweiz.

Doch zurück zum Ernst, dem hochkulturellen erst einmal – wie er sich beispielsweise bei einem Redaktionsbesuch in der FAS abspielt. Oder bei Suhrkamp, natürlich bei Suhrkamp, wo, wenn nicht bei Suhrkamp. Dort wird gerade der 90. Geburtstag Siegfried Unselds gefeiert, inklusive einem schönen Film mit Männern in blütenweißen Hemden, die sich über die Entstehung eines Unseld-Bild(und Text)bandes unterhalten:

Dazu, und um die wilde Mischung hier möglichst weit aufzufächern, ein paar Zitate von Fauser, hatte ich ja lange nicht. Mir war noch in einer dunklen Ecke des Hinterkopfes in Erinnerung, dass Suhrkamp für ihn ein Thema war. Dank des wunderbaren Registers im Strand der Städte konnte ich das schnell verifizieren, es gab sogar eine gewisse zeitliche Ballung, auf den ersten Blick. Hier die schönsten Auszüge (alle aus dem verlinkten Band, aus den verschiedensten Texten):

Natürlich war mein Weltschmerz damals schon nicht mehr ganz à la mode, er bezog seine Empfindungen – jedenfalls auf literarischem Niveau – aus Attitüden und dazugehörigen Texten, die von Suhrkamp nicht editiert wurden. (1981 – S.535)

„Sich mit Dingen bekannt machen“ – daß wir aus (guten) Kriminalromanen mehr Wirklichkeit erfahren als aus einigen Metern der Suhrkamp-Produktion, war uns schon immer eine liebe These. (1981, S.605)

Am Beispiel der abenteuerlichen Story eines Glücksritters, der – mit finanzieller Beteiligung des Filmstars Clint Eastwood – den Beweis erbringen wollte, daß in Laos und Vietnam noch amerikanische Kriegsgefangene einsitzen, sammelte ich einige Argumente gegen die offenbar nicht nur mich anödende deutsche Suhrkamp- und Schulfunkkultur. (1983, S.766)

Und es sind Filme wie der von Boisset, die mir bestätigen, daß ein von unserer Hochkultur nicht ganz ernst genommenes Genre wie der Spionagethriller präzisere Aufklärungsarbeit über die realen Verhältnisse leistet als ein ganzer Schuber Suhrkamp-Literatur und ihre Verfilmungen. (1983, S.784)

Es schält sich da langsam ein Muster heraus, es wird klar, worum es Fauser geht (und er hat ja auch immer noch Recht damit), aber es droht, redundant zu werden. Jedoch: au contraire, lustiger wirds; es folgt die Vorstellung des Nachwuchsautors Rainald Goetz…

Rainald Goetz ist ein quirliger Mensch von Ende 20, ein Akademiker mit grün oder blond gefärbter Haartolle, Medizin und Geschichte, der sich unlängst darin gefiel, vor den Kameras irgendeiner Kultursendung mit Selbstverstümmelung zu kokettieren und im Herbst (bei Suhrkamp, na klar doch) seinen ersten Roman vorlegen wird, der Irre heißt, na ja doch. (1983, S.786)

Und weiter, auch weiter ausholend, im selben Jahr:

Klar, wir werden den Kulturkampf bekommen, und zwar als Teil jenes großen Kulturkrampfs, wie ihn uns das Kultur-Establishment seit den Tagen der Re-education und der Gruppe 47 so lange um die Ohren gehauen hat, bis wir alle eines Tages geglaubt haben, die Waschzettel der Suhrkamp-Kultur und die Aspekte-Statements der Gremien-Filmer seien Wegzehrung genug für die Teilnahme am geistigen Leben dieser Republik. (1983, S798f)

Doch zum Schluss, nach einer längeren Feuerpause Richtung Suhrkamp, jedenfalls in seinen journalistischen Arbeiten, fast eine Würdigung des Verlages, an dem er sich zwar rieb, aber dem er auch etwas abgewinnen konnte. Vor allem, was Unselds Rolle betraf:

Ein gleichaltriger Lektor von Suhrkamp sagte: Da ist ein Autor, der hat auch mit einem anderen Verlag einen Vertrag über das gleiche Buch wie schon mit dem Suhrkamp-Verlag abgeschlossen. Das hat der Unseld erfahren und ist hingegangen und hat gesagt: Sie sind weg hier. Tough. Hart. Raus. Ich finde das richtig. Es muß Richtlinien geben. (Aus einen Interview mit Fauser, 1985, S.1532)

Soviel dazu. Was bleibt ist mal wieder die harte, traurige Realität:

Eine über und über mit Grafftitis übersäte Wand

 

Grafftiti an einer Häuserwand: Ein Affe, der grimmig den Mittelfinger zeigt, dazu der Schriftzug "Wohnen ist keine Ware"

 

Schriftzug an einer Häuserwand: Militant gegen Gentrifizierung

 

Street Art in einem Hauseingang: Bild eines liegenden Schafes, darunter der Grafftiti-Schriftzug "Die Yuppie Scum"

Die vor kurzem die ersten handfesteren Zahlen ins Haus spülte, nachdem mit anderen Zahlen immer mehr Leute aus dem Haus gespült werden: Derzeit liegen wir  noch etwas unter der Vergleichsmiete, nach der Modernisierung (bei der ein Fahrstuhl natürlich nicht fehlen darf, fürs ausgebaute Dachgeschoss…) soll es knapp doppelt so teuer wie die Vergleichsmiete werden. Offiziell wissen wir jedoch noch von nichts und üben uns auf anwaltlichen Rat im Teetrinken. Daran anknüpfend lässt sich hier mit den Goldenen Zitronen wunderbar der Kreis schliessen, vom bösen G-Wort zu Hamburg. Ich bin gespannt…