Natürlich war auch dieses wieder ein Scheissjahr, ist ja schliesslich auch eine Scheisswelt, wie soll das sonst auch anders sein?!
Doch während in der Welt da draussen der Wahnsinn heuer besonders brodelnd kochte, ging es bei mir sogar mit ihm. Klar, vieles ist liegen geblieben – & ich auch viel zu oft. Trotzdem: Hätte man mir vor einem Jahr gesagt “Du wirst umziehen, du wirst dieses und jenes und eine Weiterbildung machen, du wirst neue Freunde finden, beste sogar, du wirst lachen, dir wird nach weinen zumute sein, dein Hund wird sterben, du wirst dich ganz viel unter Menschen begeben, mit ihnen arbeiten und Spass haben, du wirst wieder in ein Kollektiv gehen, es wird ein Familiendrama geben, und dann ist auch schon wieder Weihnachten!” – Nichts davon hätte ich geglaubt, fast nichts, denn der Hund war wirklich alt.
So war es mir am letzten Mittwoch auch scheissegal, ob das nun der Tag war, an dem Beate Zschäpe ihr Schweigen brechen würde oder der Tag, an dem Angela Merkel zur Person of the year gewählt wurde – für mich war es der Tag, an dem die Chaussee der Enthusiasten ihre letzte Vorstellung gab. Die grossartig war. Neben den ganzen Erinnerungen an die gute, alte Lesebühnenzeit um die Jahrtausendwende herum, als alles noch in Butter war in meiner kleinen Welt und in der grossen drumherum Deutschland kaum Krieg führte, wurde beim Aftershowbier in der Baiz (2 Fliegen mit 1 Klappe, die neue Lage zahlt sich aus) noch fachkundig über die Unterschiede zwischen Nieder- und Obersorbisch geplänkelt.
Keine neue Liebe zwar, aber ein neues Leben, das schon irgendwie. Allerdings noch nicht sicher, wie ich mich in dieser Rolle fühle, ob all die Kontakte, all die sozialen Bindungen wirklich richtig sind für mich. Wie soll ich denn mit anderen klarkommen, wenn ich immer noch nicht genau weiss, wie ich mit mir überhaupt klarkomme? In den dunklen Momenten lache ich mich selbst hämisch aus für diese alberne Flucht unter Leute, das Stürzen ins Getümmel. Und da die Realität einen zweifelhaften Humor hat, bietet sie mir am Ende des Jahres auch noch einigen Grund dazu.
Vor all dem und nach der Chaussee der Enthusiasten – wenn schon mal Kultur, dann richtig – besuchte ich noch die Beckmann-Ausstellung und stellte mal wieder fest, dass ich viel zu selten Kunst anschauen gehe. Schon mal ein lächerlicher Vorsatz mehr fürs nächste Jahr. Es folgten einige Zeiteinheiten, die mit Tagen nur unzureichend beschrieben wären, die ineinander übergingen, kurze Unterbrechungen und Ortswechsel beinhalteten, wiederkehrende Elemente und Momente ebenso, aber ansonsten bar jeglicher klassischer Zeiteinteilung waren. Und Drogen hatten da nicht viel, nicht mehr als sonst mit zu tun – ein brennendroter Sonnenaufgang über Kreuzberg berauschte mich um einiges mehr, beispielsweise.
I. Früher, vor über zwei Monaten
Der Krieg hängt schief, nur noch durch eine Reißzwecke mit der Wand verbunden, und flattert im Wind. Ich hatte ihn aus Hamburg mitgebracht, das Plakat zur Dix-Aussstellung, von allen für gruselig befunden, auch von der Garderobenfrau der Kunsthalle, die mir half, es graulegal einfach von der Wand zu nehmen; sie mochte es sowieso nicht.
Und jetzt, von den allabendlichen Stürmen, die vor den Gewittern kommen, wurde der Krieg zerzaust, hängt nur noch an einem Knopf an der Wand, als ob er wüsste, dass es hier zuende geht, er sowieso bald in der Umzugskiste verschwinden würde. Und ausserdem: Krieg ist ja eh gerade genug, gar so viel, dass er nurmehr zur Kenntnis genommen wird.
II. Derzeit
Irgendwie komplett aus der Bahn, passend zur Gesamtsituation. Schreiben versteckt sich noch, wartet in einer verstaubten Spinnenwebenecke darauf, abgeholt zu werden. Mit dem Lesen ist es auch nicht viel besser.
Obwohl: Die alten Titanic-Jahrgänge, geerbt & mitgenommen, nach und nach: Perfekte Klolektüre. Mit viel infantilem Müll, aber auch Perlen. Sogar etwas gelernt: Ich musste es ungläubig nachschlagen, aber es stimmt: Das Innenministerium in Ungarn heisst in der Landessprache Belügyminisztérium. Passend, irgendwie. Das ist alles so absurd.
Nicht mal geschafft, bei den zwei, drei Lieblingsblogs nach und nach wieder auf den neuesten Stand zu kommen. Spiegel online, mal kurz nachgeschaut, das war das Maximum in den letzten Wochen. Und die bringen gefühlt jeden Tag einen Artikel über Keith Richards – da läuft doch garantiert irgendein Deal mit dem Management dachte ich mir, wen zur Hölle interessiert denn noch Keith Richards? Täglich?
Ansonsten hatten sie noch eine Knallermeldung zur Drogenszene in Ulm: Es wurden acht Dealer mit insgesamt 250 Gramm Gras hops genommen. Woanders würde das unter Eigenbedarf verbucht werden, Einunddreissigeinviertelgramm pro Nase.
Am selben Tag, abends, oder am nächsten morgens, in der Realität, die mir viel zu viel Zeit stiehlt gerade (aber ich habe es mir ja selbst ausgesucht), eine Erinnerung aufgefrischt, die schon bald Jahrzehnte im Archiv lag: Menschen, die so betrunken sind, dass sie sich unbedingt prügeln wollen. Die sich dann auch nach langem Hin und Her ein paar einfangen. Und es hat mich nicht mal aufgeregt, Adrenalin hatte schon Feierabend, halb Fünf war’s.
Samstagnachmittag, die Stadt dampft noch; oder wieder – jedenfalls ein letztes Aufbäumen des Sommers, wenn man dem Wetterbericht vertraut. Politik war hier lange absent, beabsichtigt. Sprachlosigkeit allerorten angesichts der erschreckenden, überspitzten Parallelen, die sich zum Anfang der 90er Jahre auftun wie Abgründe. Statt alle paar Wochen brennt jetzt jeden Tag irgendwo eine Unterkunft von Asylsuchenden. Andererseits: Beständig, mindestens seit Anfang der 90er Jahre. Und schon viel länger, fürchterlich fruchtbarer Schoß, könnte man fast eine anthropologische Konstante dahinter vermuten.
Auf dem Weg zum 20jährigen Geburtstag des Schöneberger Jugendmuseums, dreissig Prozent Lust, siebzig Prozent Pflicht, sich langsam umkehrend im Laufe des Abends. Mit dem Rad durch Moabit, Tiergarten, Schöneberg – die Eisenacher vom Anfang bis zum Ende. Viel öfter jetzt durch den Tiergarten als früher, obwohl er da viel näher dran war. Die Else, auf dem Rückweg immer noch ungleich schöner, in der Abendsonne, die von Tag zu Tag besser wird. Herbstvorfreude.
Freigehalten, trotz der alles andere als lästigen Verpflichtungen, hatte ich mir den Film, der so gar nicht zu der Feierlaune passte. Und sich doch gut in den Abend einfügte – nicht ohne Grund wurde dieses Museum vor 20 Jahren genau so aufgezogen, mit diesem IntegrationsInklusionsWasauchimmer-Ansatz. Der sich durchaus bewährt hat, vieles wurde richtig gemacht, vieles gemacht überhaupt. Auf der anderen Seite (und einer anderen Baustelle) versucht ebenjener Bezirk gerade, das älteste selbstverwaltete Jugendzentrum der Stadt aus den angestammten Räumen zu drängen.
Deshalb also – und natürlich wegen der schockstarren Aktualität – passte „Solingen 93/13“ so gut in das Festprogramm, wenn auch mit hartem Schnitt. Der Film ist zwanzig Jahre nach Solingen entstanden, etwas über eine halbe Stunde lang und besteht hauptsächlich aus Interviews und Gedankenmonologen des Regisseurs Mirza Odabaşı. Der im Übrigen den Film fast komplett selbst gestemmt hat, bis zur Finanzierung. Die im Abspann so schön zu lesende Förderung durch den nordrhein-westfälischen Integrationsrat kam – wie er nach der Vorführung trocken bemerkte – erst im Nachhinein.
Es ist das Werk eines (wenn ich mich recht erinnere) Fünfundzwanzigjährigen – und dafür recht beachtlich, nicht zuletzt wegen der Gesprächspartner, die er gewinnen konnte. Eine gute Mischung, das Spektrum reicht von Afrob bis Michel Friedman, der so gar nicht auf Krawall gebürstet war und bedächtig-kluge Sachen sagte. Höhepunkt des Films ist fraglos das Interview mit Mevlüde Genç, der Frau, die durch den rassistsichen Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor, vor ihren Augen. Schon allein deshalb ist er sehenswert.
Sicherlich, Mirza Odabaşı hätte weiter gehen können. Vergiss nicht, Thilo Sarrazin ist kein Mitglied einer rechtsradikalen Partei. gibt er zu bedenken – dass Sarrazin immer noch SPD-Mitglied ist, hätte man durchaus erwähnen können, auch um die gesellschaftliche Verfasstheit dieses Landes richtig auszuleuchten.
Doch seine Interviewpartner übernehmen diesen Schritt teilweise für ihn, etwa wenn Cem Özdemir von Trauer zweiter Klasse spricht, oder Michel Friedman meint: Ich habe im Deutschunterricht das Wort untersensibel nie gelernt, also gibt es das Wort übersensibel auch nicht. Es gibt sensibel oder nicht sensibel.
Ich konnte nach dem Film nicht mehr lange still, nicht mehr lange sitzen bleiben, musste raus in die Spätsommerabendluft tauchen, noch ein Getränk und dann durch die Nacht nach Hause fahren. Dachte mir noch, dass der Film gut war, aber dass Glumms Solingen-Erinnerungen mich noch mehr gefesselt hatten. Dass man vielleicht beides zusammen bringen sollte, und noch viel mehr. Doch wann ist ein Bild komplett? Und dass immer noch – ich hab es schon öfters erwähnt, ich weiss – The Truth Lies in Rostock derjenige Film ist, der mir zum Thema am heftigsten den Stecker zieht. Subjektiv, natürlich, und begründet.
Und dass es schon schön ist, dass so viele Leute sich an so einem heissen Abend zusammendrängen in schlechter Luft und solche Filme ansehen, aber sie ja in der Zeit auch irgendwo konkret Hilfe leisten könnten. Doch kurz bevor ich unter der Schering-Werbung abbog, die schon lange vom Mutterkonzern geschluckt wurde, verwarf ich diesen Gedanken gleich wieder, weil ich in den letzten Wochen – neben den Abgründen – auch erstaunlich viel Hilfsbereitschaft und Empathie aus den überraschendsten und unterschiedlichsten Ecken mitbekommen habe, meist ganz still & wie selbstverständlich geleistet. Und wusste dann nicht genau, ob es an der Spätsommernacht lag, dass ich auf einmal fast in versöhnlicher Stimmung war. Oder ob es wirklich Hoffnung gibt. An der neuen Haustür klebte ein Zettel mit dem allgegenwärtigen Refugees welcome-Logo und einem Aufruf, Schulsachen zu spenden. Die Ferien sind vorbei.
Mirza Odabaşı: Solingen 93/13, vom Regisseur dankenswerterweise selbst auf Youtube zur Verfügung gestellt.
Prolog
Es war auf der ersten Südafrikareise, eine Art guilty pleasure, wofür ich immer noch keinen passenden deutschen Ausdruck gefunden habe. Dort lief mir „The Beach“ das erste Mal über den Weg. Einfach zu passend.
Südafrika war besonders. Wir waren nicht mehr frisch, aber wohl immer noch sehr verliebt. Kuba, im Jahr zuvor die erste große gemeinsame Reise, war gut & gut gegangen. Doch lange nicht so aufregend wie mein Trip von DC nach Michigan, direkt nach dem Abi. Südafrika jedoch, das war…
Eine Freundin zog dort hin, studierte und heiratete schliesslich. Irgendwann mittendrin hatten wir endlich genug Geld und Mut beisammen, um sie zu besuchen. Damals war das Land (nicht zuletzt dank deutscher Intrigen) weit entfernt von der Gastgeberrolle der Fifa-WM, dafür weit vorne in der Mord-pro-Kopf-Rate – und Mandela gerade zehn Jahre frei, die ersten freien Wahlen 6 Jahre her. Es war kompliziert und überwältigend auf so vielen Ebenen. Doch darum soll es hier ja gar nicht gehen.
Eine der unvergesslichen Erfahrungen war jedenfalls das Backpacking von Ort zu Ort, das sogar halbwegs gut ohne Mietwagen mit einem eigens dafür geschaffenen Kleinbusnetz funktionierte. In einem der Hostels (Backpacker sagte man dort) – und darauf wollte ich hinaus – gab uns eine englische Reisende ihr ausgelesenes Exemplar von „The Beach“ in die Hand; die Verfilmung davon war zu der Zeit gerade in den Kinos, aber keiner von uns hatte sie bisher gesehen. Der Dritte im Bunde nahm das Buch als Erster an sich und war sehr schnell damit fertig. Schon seine vagen Andeutungen liessen es mich kaum erwarten, es als Nächster zu lesen. Eben – das passte einfach alles & zu gut: Die Strände, die Berge, das Gras – und jeder war irgendwie auf der Suche nach den Orten, die von kaum jemanden gefunden wurden.
Schon allein deshalb, weil das Buch untrennbar mit diesen fantastischen Wochen verbunden war, wollte ich mir den Film eine ganze Weile nicht anschauen. Irgendwann war es dann aber doch so weit, es kann gut sein, dass es zusammen mit den Beiden war. Auf der Leinwand, mit dem Beamer, wie wir das so oft machten, zu viert. Ich weiss noch, dass ich von den Bildern begeistert, vom Film aber enttäuscht war. Und ich weiss, dass Sie diesen einen kitschigen Song mochte. guilty pleasure.
***
Wir lernten die Beiden kurz nach dieser Reise kennen, der Hund war gerade zehn Wochen alt. Bis dahin führten die meisten Ausflüge mit dem kleinen Tollpatsch in den Treptower Park. Dort, am Ufer eines kleinen Sees, trafen wir Sie zum ersten Mal. Und ihren zehn Wochen alten Labradorrüden.
Sie waren um die zehn Jahre älter als wir, und dies und das, doch das zählte alles nichts, eigentlich, weil: Die beiden kleinen Trottel verstanden sich einfach zu gut, als dass das nicht hätte klappen müssen.
Ein Glückstreffer, wie sich herausstellte. Sicher, diese Pärchen-Pärchen-Geschichte ist ein Klischee aus amerikanischen Fernsehserien, doch was nicht?
Ohne den Hund wäre es unwahrscheinlich – nicht unmöglich; nicht damals, nicht in Berlin – gewesen, dass wir uns gefunden hätten. Dafür waren wir doch zu unterschiedlich, in Welten unterwegs, die sich zu selten überschnitten (Er war einer der jüngsten Führungskräfte in seiner Branche, ausgestattet mit einer Senator-Karte der Lufthansa – wir wussten nicht einmal, dass es so etwas überhaupt gab). Da war Ihr Musikgeschmack noch das Geringste.
Der sorgte allerdings dafür, dass ich im Jahr darauf die (wieder fantastische, wenn auch ganz andere) Zeit in Südafrika mit dem Cafe-del-Mar-Remix von Bushs „Letting the cables sleep“ verbrachte, den Sie mir auf einer Mix-CD mitgegeben hatte. Und der passte zu einigen Sonnenuntergängen am Strand auf die selbe Art wie im Jahr zuvor „The Beach“. guilty pleasure.
Was schon mal an sich nicht schlecht ist, im Gegenteil. Doch habe ich den Beiden noch weitaus schönere Momente zu verdanken.
Ein – oder der – Wermutstropfen war, dass Sie sehr beschäftigt waren, noch viel mehr als wir. Jetzt mal ganz abgesehen von der Arbeit, die ein zehn Wochen alter Welpe macht. Das liess sich zum Glück ja verbinden – Sie waren es, die uns den Grunewaldsee und die Krumme Lanke zeigten. Trotz der rührendbesorgten Hundegrosseltern kannten wir den Grunewald noch nicht, waren aber immerhin schon mit der Welpenbande in deren siebenter Woche in einem Karren zum Wannsee gefahren, doch führten die ersten Ausflüge der Punkerhundewelpen meistens in den Görli, dahin war die Reise auch nicht so lang & anstrengend.
So sahen wir uns zwar oft einzeln mit den Hunden im Wald, aber richtig zusammen zu viert höchstens einmal im Monat. Das führte zu unvergesslichen gemeinsamen Spaziergängen, mal mit der größeren Gruppe, die sich im Grunewald gefunden hatte (&mindestens eine eigene Geschichte wert ist), mal nur zu zweit. Die Beiden hatten einen großartigen Humor, jeder von Ihnen konnte einen auf spezielle Art dazu bringen, Tränen zu lachen oder die Welt um uns herum für einen Moment zu vergessen.
Irgendwann zogen Sie in ein Dachgeschoss im tiefsten Charlottenburg, irgendwann wurden die Hunde älter und die Routinen andere. Das alles tat unserer Beziehung jedoch keinen Abbruch. Kurz nachdem Sie uns den Grunewald gezeigt hatten, machten Sie uns mit den Künsten von Mr.Hai bekannt, Olivaer Platz. Seitdem war wenigstens das gemeinsame Essengehen ein fester Termin, den wir uns alle freihielten. Oft genug kam was dazwischen, doch oft genug gab es dazwischen auch diverse Gelegenheiten, Partys, Ausflüge oder Filmabende.
Wir lernten durch Sie interessante neue Menschen kennen und umgekehrt. Nie werde ich vergessen, wie alle zusammen das Finale der WM 2002 im Kuchenkaiser begingen, zu Ehren der Brasilianer wurde ständig mit Caipirinha angestossen, mittags um eins. Für den Anfang, der Tag war ja noch lang. Nach dem Abpfiff zogen wir in die Dresdener, wo einer von unseren Freunden wohnte, und dort ein paar Bongs durch, die uns allen nicht gut taten. Danach ging es mit Seinem Firmenlexus Richtung City West, wo der Abend dann irgendwo im Nebel versank, mit Blick von ganz oben auf den Lietzensee & den klaren, schönen Sonnenuntergang. Einer der magischen Abende.
Als Madames Geburtstag mal wieder vor der Tür stand und der Berlinalestress vorbei war, schickte sie den Beiden eine Einladung zu Mr.Hai. Wir hatten Sie das letzte Mal Anfang Dezember gesehen und auch schon lange kein vernünftiges Sushi mehr gegessen: Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Eines morgens klingelte dann ihr Handy, wir räkelten uns gerade aufwachend in den Laken, bis sie sich schliesslich doch aufraffte und ins Wohnzimmer ging, wo ihr Telefon an der Steckdose hing. Und wo sie dann nach wenigen Sekunden in ein grausames Schluchzen ausbrach; auch das wird mir unvergesslich bleiben.
Er sagte das Essen ab, lud uns aber stattdessen zu sich nach Hause ein. Für ein ausführlicheres Gespräch, am Telefon nur so viel: Sie hatten sich spontan einen Urlaub gegönnt, ein alter Arbeitgeber von Ihm hatte gerade ein schönes neues Hotel eröffnet, nach dem Stress in der letzten Zeit genau das Richtige. Die Welle riss die Beiden bei ihrem ersten Strandspaziergang mit sich, eine Weile zusammen, dann glitt Sie Ihm aus der Hand.
Fassungslos erinnerte ich mich daran, dass ich Wochen zuvor bis ins Detail die Berichterstattung verfolgt hatte, wo wieder und wieder Bilder aus einem bestimmten Hotel gezeigt wurden, Interviews mit dessen deutsch-türkischem Manager: Genau dort waren Sie.
Immer noch fassungslos saßen wir dann eine Woche später mit Ihm zusammen in der Wohnung, vor den Kleiderschränken seiner toten Frau, und wussten nicht genau, was wir sagen oder tun sollten. Vollkommen zerstört berichtete Er uns alles, was Er erlebte, woran Er sich noch erinnerte. Er würde ganz woanders hingehen und etwas ganz anderes machen, so viel war klar. Dann war auch Er weg. Im Sande verlaufen & von den Wellen verschlungen. Aber nicht vergessen.
Schon früh um neun waren vereinzelte Dortmundfans unterwegs, selbst hier, oben an der Grenze Wedding/Prenzlauer Berg, immer noch irgendwie im Niemands- oder zumindest Hinterland; Wolken fegten über den Himmel. Frisch, aber ganz angenehm.
Die Stimmung ist ähnlich wechselhaft, aber deutlich im Aufwind. Keine Ahnung, weshalb. Noch vor einer Woche zog ich eine bittere Bilanz, dachte mir, über die letzten zehn Jahre betrachtet, wo soll denn da der Tiefpunkt sein, wenn nicht hier & jetzt; ist doch nichts mehr übrig. Doch eben: Genug davon.
Denn andererseits bekam ich in den letzten Tagen auch so viele schöne unentdeckte Ecken zu Gesicht, und auch einige Wohnungen, die Hoffnung machten. Unbegründet, aber trotzdem.
Mit etwas Glück passt zwischen die Besichtigungstermine immer etwas Freiraum für Erkundungstouren, heute sollte es das Kreuz sein. Die Wohnung davor war fast perfekt, unter den gegebenen Umständen. Und den Rest würde die sehr angenehme Umgebung wettmachen; dürfte nicht allzu schwer sein, hier heimisch zu werden. Wieder ein schöner Kanal um die Ecke, zum Beispiel. Und dort, wo ich schon so oft mit dem Rad langfuhr, suchte ich nun also nach dem Kreuz. Ich hätte vorher nochmal nachlesen sollen, wie Herrndorf die Stelle genau beschreibt.
Eigentlich dachte ich mir schon, dass ich sie nicht finden würde & war auch ganz froh darüber, denn was hätte ich denn dann tun sollen? So bleiben eine Handvoll spannende Vermutungen – und die flüchtige Bekanntschaft mit zwei Anglern, die sich derart häuslich eingerichtet hatten, dass einer von ihnen direkt vor Ort seinen Räucherofen betrieb.
Eigentlich ging es nur darum, die Erinnerungen wieder aufzufrischen, die Gegend einzuatmen, zu probieren, ob das gehen würde. Und ganz schnell zu merken, wie gut das gehen würde, selbst mit der anderen Wohnung, die ein bisschen weiter weg war. Und zu würdigen, dass in den letzten Tagen immerhin auch wieder ein paar hundert Wörter zusammengekommen sind, ein paar Entwürfe rumliegen. Das würde alles sehr gut passen. Wenn ich dran glauben würde, könnte ich so ein Zeichen jetzt gut gebrauchen.
Es begann alles mit einer fixen Idee, wie meistens, wenn es funktioniert. Kein bis ins Feinste ausziseliertes Weltbild. Irgendwann schlug jemand vor, doch mal was zu machen, wo überall lauter unzufriedene Leute rumsaßen. Er meinte, man solle zur Abwechslung vielleicht versuchen, das System mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, anstatt sich immer samstags um 13 Uhr zur Demonstration zu treffen und die Weltrevolution zu fordern.
„Nehmt irgendwas, sucht euch was aus!“ hat er gesagt. „Denn eigentlich gehört euch ja alles, keine Frage.“ Es wäre aber natürlich leichter, nicht gleich mit den Autofabriken oder den Stahlwerken zu beginnen. Und zum Glück wurden ja inzwischen so viele Sachen gehandelt, dass der Anfang geradezu ein Kinderspiel wäre. Man müsste einfach nur beweisen, dass es auch anders funktioniert, und wenn das genug Leute wollten, dann müsste es auch funktionieren. Und es stimmte: Niemand hinderte sie daran. So simpel hat das alles angefangen.
Schnell machte man sich daran, einen Gesellschaftervertrag auszuarbeiten, der allen gerecht wurde, den ersten Geldgebern wie auch den Beschäftigten, anfangs jeweils nur ein paar Handvoll und gleichermassen Besitzer der Firma. Wenn man das System schon ad absurdum führen wollte, dann richtig, dachten sie sich damals. Sie gaben grosszügig Anteilsscheine aus und zählten darauf, dass die Menschen, wenn sie sowieso etwas brauchten, dies dann auch gern von einem Unternehmen erwerben würden, das ihnen selbst gehört. „Das ist die einzige Frage, die ich euch stelle!“ sagte er. „Wieso denn nicht? Ist das so verrückt? Verrückter, als wenn wir es von irgendwelchen Riesenkonzernen kaufen und damit Kleinkriege und Großkorruption unterstützen und wer weiss was noch alles? Wir müssten uns alle einfach nur an unseren eigenen Ansprüchen messen und klein anfangen.“
Klar klang das nicht schlecht, aber es gab zu dieser Zeit viele mehr oder weniger vernünftige Manifeste und umstürzlerische Aufrufe. Inzwischen gibt es unzählige Theorien, die zu erklären versuchen, warum gerade dieser eine Vorschlag so erfolgreich werden sollte. Im Endeffekt hatte es wohl, wie so oft in der Weltgeschichte, mit dem Zufall und dem richtigen Timing zu tun. Wenn Widersprüche sich aufheben, dann resultieren in manch glücklichem Moment Situationen mit aussergewöhnlichen Möglichkeiten – so oder so ähnlich hat es einer der bedeutendsten Historiker mal formuliert.
Die Idee wurde binnen kürzester Zeit begeistert angenommen und, noch bevor das Unternehmen die Monopolstellung erreichte, auf andere Branchen ausgedehnt, so steht es weniger verschnörkelt seitdem in den Geschichtsbüchern. Relativ schnell wurden den Menschen die wirklich wichtigen Sachen wieder klar. Natürlich gab es Rückschläge und nicht alles funktionierte beim ersten Versuch. Doch wenigstens wollte sich erst einmal niemand mehr gegenseitig den Kopf einschlagen, das war schon mal ein guter Anfang.
Bis hier hin sind sie gekommen, und jetzt sitzen sie alle gespannt vor den Bildschirmen und verfolgen die Live-Übertragung, in der das erste Rendezvous gezeigt wird: Das Ergebnis von aberdutzend Jahren Forschung, die Belohnung für all die Anstrengungen und Entbehrungen, die einsamen und die tödlichen Flüge, der Höhepunkt einer Entwicklung, die konsequent auf Fortschritt und Wissensgewinn ausgerichtet war; nach ein paar so unrühmlichen Jahrhunderten durchaus ein Erfolg. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, dass es wirklich eine Explosion und keine Bildstörung war, die sie sahen, kurz bevor die Übertragung abbrach.
„Achso, nein, ich freu mich für dich, wirklich….“ sagst du.
„Ah ja, wieso das denn?“ fragt sie.
„Naja, was ist denn passiert? Du strahlst so!“ sagst du.
„Wie meinst du das?“ fragt sie.
„Keine Ahnung.“ sagst du. „Was ist denn nun mit T.?“ fragst du.
„Achso.“ sagt sie.
„Na dann…“ sagst du.
„Willst du das wirklich wissen?“ fragt sie.
„Klar!“ sagst du.
„Ich hab was Verrücktes gemacht: Ich bin mit ihm rausgegangen, B. kam uns hinterher, und als wir ihn endlich losgeworden sind, hab ich ihn geküsst.“ sagt sie.
„Und dann?“ fragst du.
„Dann hab ich gesagt, ich muss mal schnell rüber, und bin gegangen.“ sagt sie.
„Echt?!“ fragst du.
„Ja, wieso?“ fragt sie.
„Nur so…“ sagst du, deutest auf dein Handgelenk, wo sich noch nie eine Uhr befand, und sagst: „Wurde ja auch mal Zeit!“ Und denkst: Verdammt, jetzt hat sie ihn wirklich geküsst, wieso ist das damals bei uns nicht so weit gekommen? Wieso kam sie nie auf die Idee, mich zu küssen?
Und du lächelst freundlich, und du merkst, dass du dich trotz allem für sie freust. Und, dass aus diesem wohligen Schauer, den dir ihr das ganze Gesicht zum Strahlen, zum Glühen bringendes Lächeln immer über den Rücken jagte, ein kleiner, stechender Schmerz geworden ist. Weil das Glühen nicht mehr dir gilt.
Er freute sich wirklich sehr über das Geschenk. Ich dachte, wenn ich schon seinen Geburtstag vergessen hatte (wie es nun mal meine Art ist, er nahm mir das nicht krumm, er kannte mich recht gut inzwischen, wusste, mich zu nehmen), dann wenigstens ein Geschenk, das das wettmacht. Sein Anblick beim Auspacken, sein Erstaunen & seine Freude waren ein Geschenk für mich.
Wie angedacht saßen wir lange rum, redeten und tranken dabei die kleinen Flaschen isländischen Wodka, die er mitgebracht hatte. Die Gespräche drehten sich um nichts Konkretes und das große Ganze. Wie immer, wenn wir uns trafen & füreinander Zeit hatte. Wie immer schön.
Irgendwann später am Abend druckste er rum. „Ich habe morgen einen Termin mit B…“ sagte er schliesslich, „Ich hab ihn angerufen, er meinte, das Angebot gilt noch, nicht mehr und nicht weniger.“ So leise wie die Worte seinen Mund verliessen, schaute er mich auch an, erwartungsvoll zweifelnd und ängstlich.
„Klar“ sagte ich, „irgendwann musst du dich ja mal entscheiden, war doch so abgemacht: Ende des Monats, nach dem Urlaub.“ Zögerlich begann seine Miene sich aufzuhellen: „Ich werde wohl annehmen… Ich will einfach nur nicht, dass sich bei uns was verändert, dass du sauer auf mich bist…“ Es klang fast wie eine Frage. „Begeistert bin ich nicht, aber ich mach dir keinen Vorwurf, habe ich dir doch schon tausendmal gesagt. Ich finde es Mist, was hier passiert, im Großen wie im Kleinen. Dass sie jetzt um die Ecke wahnsinnigerweise ein Hotel bauen, oder dass du eben die Kohle nimmst und den Stress vermeidest. Aber das ist nichts Persönliches, das weisst du!“
Ein kurzes, unangenehmes Schweigen war trotzdem unvermeidlich. Doch wir fanden wieder zurück in die Spur, kamen vom Hundertsten ins Tausendste, von den Kriegen um uns rum, die unsere psychiatrischen Notaufnahmen mit traumatisierten Flüchtlingen fluten und überfordern, über die Systemfrage (natürlich!), bis zu der Erkenntnis, dass Maggie Thatcher mit ihrem Unwillen gegenüber der Deutschen Einheit recht behalten hatte: Kein Großdeutschland, nur ein wirklich vereintes Europa hätte die Großkotzigkeit, die wir jetzt wieder an den Tag legen, verhindern können.
Ganz viele Urlaubsgeschichten auch, da führte kein Weg dran vorbei – doch Böhmermanns Stinkefingergate konnten sie selbst auf dieser abgelegenen Vulkaninsel nicht entkommen. Und da fand ich heraus, dass er Olli Schulz nicht kannte. Ich konnte es nicht fassen. „Böhmermann, naja, diese Radiosendung mit Olli Schulz, die hab ich früher gern mal gehört.“ Sagte ich. „Was für ein Olli Schulz?“ fragte er. Keine Ahnung, gar nicht! Weder von dem alten „Hund Marie“-Olli Schulz noch von Charles Schulzkowski. Und das, wo er in Hamburg wohnt! Da kam ich nicht umhin, ihm „Koks & Nutten“ vorzuspielen. Danach saßen wir noch eine ganze Weile ergriffen rum.
Am nächsten Abend sah er ziemlich durch den Wind aus, als er nach Hause kam. „Ich habe unterschrieben.“ sagte er zerknirscht, „Der Typ hat mich voll an die Wand gequatscht.“ Vielleicht wurde es auch langsam Zeit: Zur Sonnenfinsternis in das Haus gezogen, zur Sonnenfinsternis die Entscheidung getroffen, wieder auszuziehen.
Der letzte Punkt in seinem Aufhebungsvertrag besteht aus einer Verschwiegenheitserklärung. „Die Bösen haben gewonnen“ dachte ich mir, „und man darf nicht mal darüber reden.“ Am nächsten Tag, einem Samstag, ging der Architekt durch das Haus und verteilte die Modernisierungsankündigungen. Für uns gab es keine mehr, für die anderen soll sich die Miete verdoppeln bis verdreifachen. Dafür habe ich jetzt andere Sorgen.
Ein altes DDR-Ferienlager, größtenteils im Originalzustand.
Die Gruppe schläft zusammen in einem Raum, Doppelstockbetten.
Ein Zwei-Stunden-Spaziergang durch den Wald, dann über den alten Truppenübungsplatz, die Hunde viel zu beschäftigt, um sich den Weg zu merken.
Verlassene Schiessstände, kleine Betonbaracken, zugetaggt.
In einem Größeren ein ausgeschlachteter Trabi.
Der Schnee schmilzt, doch noch ist genug von ihm da.
Das Holz, im Wald aus dem Schnee gefischt, gibt doch ein gutes, ein schönes, ein perfektes Lagerfeuer. Stundenlang.
Knisterndes Feuer, verpasste Gelegenheiten. Stundenlang. Dann Nebel.
Die Stadt weit genug weg: kein Lärm, kein Knallen, keine pünktlich terminierte Fröhlichkeit.
Und doch: Irgendwoher taucht die obligatorische Magnumsektflasche auf, die keiner trinken will & die dann doch irgendwann leer ist.
Aufgeweckt von der Sonne, die den Schnee verscheuchte. Auch in diesem Jahr hat jede Medaille also mindestens zwei Seiten und der Hof ist voller Pfützen.
Erste kleine Dramen, erste Beruhigungen.
Zum Bus, schon wieder im Dunkeln, schon wieder Frost. Glatteis statt Schnee auf den Wegen.
An der Haltestelle Knöpfe, die man drücken muss, will man mitgenommen werden. Was trotz unserer inkompetenten Bedienung funktioniert.
Die Stadt empfängt uns in ihren Vororten mit absurd blinkenden Vorgartenschmuck. Lichtvöllerei.
Tagelang noch das Gefühl, nicht angekommen zu sein, weder im Raum, noch in der Zeit.
„Sich nur mit einfachen Leuten zu umgeben, das ist ja auch ganz schön einfach.“ sagte ich, als der Mitbewohner sein Augenbrauenrunzeln wegen der Paranoia der Nachbarin über das gesamte Gesicht verteilte. Sie sah in jedem vor der Tür parkenden Auto einen Schnüffler der Hauseigentümer, abgehört werden wir auch, natürlich.
„Versteh ich nicht.“ Meinte der Mitbewohner. Ich erklärte ihm, dass die gute Frau zweifelsohne einen Knall hat, also beileibe nicht einfach sei, ganz im Gegenteil, aber doch trotzdem unsere Unterstützung verdient. Klar, ein paar Wahnvorstellungen, wortreich ausgeschmückt und gepaart mit dem naiven Rassismus der geborenen Kreuzbergerin mit italienischem Vater, das alles in einem Redefluss, der gerade tosend einen Felsabgrund herunterstürzt – das kann einen durchaus sprachlos machen, nicht nur, weil man eh nie zum Zuge kommt. Aber es kann auch eine Herausforderung sein: Den Rassismus bloßzustellen und zu dekonstruieren, auf eine Erkenntnis hoffend; ähnlich vergeblich wie die Verschwörungstheorien und Privatsendernews zu entkräften.
Hat man nur Leute um sich, die nicht den geringsten Widerspruch in einem auslösen, dann entgehen einem all die Möglichkeiten, andere und sich selbst zu hinterfragen. Erklärungen zu finden und zu liefern. Vor Augen geführt zu bekommen, was in manchen Köpfen so für Gedanken rumschwirren, bei denen man annahm, dass auf soetwas ja wohl wirklich niemand reinfallen könnte.
Sicher, die Geduld reicht nicht immer aus, und jeden Tag das Gleiche zum gleichen Thema erzählt zu bekommen, hat mich in letzter Zeit sowieso dünnhäutig und missmutig werden lassen. Vor allem, da ihr Konterpart aus dem Stock drüber ebenfalls täglich zum gleichen Thema vorspricht. Viel elaborierter, mit grundsolidem intellektuellen Fundament, etwas zu selbstgefällig vorgetragen und angestrengt schlau daherkommend, aber eben genau so ausführlich wie die Paranoia-Verdächtigungen.
Sie wissen, glaube ich, wie sie es zu nehmen haben, wenn ich mich wie kürzlich dem ewiggleichen Thema verweigerte, deutlich sagte, dass es mich anwidert, vor allem, da nichts passiert, da nur spekuliert wird. Sie nahm es auch nicht krumm, dass ich vor Monaten nur knapp meinte „Vergiss das ganz schnell, das ist Schwachsinn, wirklich. Glaub mir.“ Damals wurde noch über dies und das gesprochen, in besagtem Fall, so machte es den Eindruck, hatte sie gerade Galileo geschaut und ist dabei irgendwie auf den Chemtrail-Trichter gekommen. Immerhin erst vor ein paar Monaten.
Also: Sich immer nur mit einfachen Menschen zu umgeben, das wäre doch zu einfach, oder? Oder liegt es daran, dass sie bei ihren beinahe täglichen Besuchen die besten Grastüten weit und breit mitbringt?
Ich hab ihn letztens in der U-Bahn getroffen, als bei der U6 dieser blöde Pendelverkehr war und man vom Mehringdamm bis Tempelhof dreimal umsteigen musste und ne halbe Stunde gebraucht hat. Der sah ganz schön verpeilt aus und schien gar nicht klarzukommen. Meinte, er wäre schon zweimal in die falsche Richtung gefahren. Kifft wahrscheinlich immer noch zu viel. Hat erzählt, seine Frau hätte ihn sitzengelassen und er ist jetzt wieder in Berlin.
So ungefähr könnte C. es ihnen erzählen, es wäre ihm nicht zu verübeln. Ich war an diesem Tag wirklich schlecht drauf. Wieso also sollte ich das machen, in die alte Heimat fahren? Dort wohnt niemand mehr, der mir wichtig wäre. Oder andersrum. Eher. Und eben, C. meinte, O. würde jetzt wieder dort wohnen, im alten Haus der Eltern. Nur der Landschaft und des Meeres wegen zieht es mich nicht dort hin, da mag es noch so viel Sommer sein, das reicht nicht, das zieht nicht.
Heimat? Ich habe den Verdacht, es geht eher darum, in überzuckerten Erinnerungen zu schwelgen und zu recht verflossenen Gelegenheiten noch eine Chance geben zu wollen. Zeitverschwendung. Um die andere Heimat kümmerst du dich ja auch nicht, sagt das Teufelchen auf der rechten Schulter, eigentlich kümmerst du dich doch um so etwas nie, für gewöhnlich. Und die ist schliesslich um die Ecke, die andere Heimat, da könnte man mit dem Rad hinfahren. Was du ja auch mal gemacht hast, als noch jemand dort wohnte, im Familienstammsitz. Mal ganz abgesehen davon, dass da auch einige Gräber schon jahrelang auf deinen Besuch warten. Aber eben keine Verflossenen, deswegen denkst du da auch nicht mal ansatzweise drüber nach.
Das unverhofft auftauchende Boateng-Wandbild (Ach hier war das!) unterbrach dann zum Glück diese Gedankenspiele und setzte neue in Gang. Die WM war gerade mal einen Monat vorbei, besoffen von dem Titel war längst keiner mehr. Mit einer so schnellen Ernüchterung hätte ich nicht gerechnet, dieser unspektakulär schnelle Übergang zum Tagesgeschäft überraschte mich. Sollte es wirklich noch fünf Monate Ruhe geben, bis die ganzen ‘Schland-Idioten in den Jahresrückblicken wieder ins Bild dürfen?
Über das Boateng-Mural freue ich mich immer wieder, nicht nur, weil ich nie genau weiss, wo es ist und daher jedes Mal aufs Neue überrascht bin. Sondern auch, weil ich dabei immer leise skeptisch denke, das sind wirklich unsere Jungs, die kennen das dreckige, das Guten Morgen Berlin, du kannst so schön hässlich sein-Berlin. Und dass wenigstens einer von ihnen Weltmeister geworden ist, freut mich wirklich. Ebenso wie der Gedanke daran, dass er in 30, 40 Jahren als älterer Herr, mit kleinem Bierbauch vielleicht, ganz selbstverständlich im Aktuellen Sportstudio aus dem Nähkästchen der Erinnerung plaudern wird. Mit viel Glück werden die Zuschauer dann ungläubig den Kopf schütteln und sich denken: Bananen auf das Spielfeld geworfen? Wirklich?! Wie dumm ist das denn?!
„So, jetzt bist du also zwei Jahre alt. Das ist ja für ein Hundeleben sozusagen volljährig. Wie fühlt man sich denn da so?“
„Ich hab Hunger.“
„Ach, du hast immer Hunger. Mach dir mal lieber ’nen Kopf um deine Zukunft. Kannst jetzt ja schließlich den Hundeführerschein machen. Und Alkohol trinken, Hundebier und so. Aber nicht zusammen. Nicht betrunken fahren, das ist doof!“
„Ich will gar nicht Auto fahren, ich habe Hunger. Außerdem kannst du mir ruhig weiter die Ohren kraulen.“
„So leicht geht das nicht. Und sowieso, du könntest ruhig mal für dein Futter selbst sorgen. Such dir doch einen Job! Als ich in deinem Alter war, da konnte ich mein Brot schon selbst bezahlen!“
„Mit zwei Jahren? Das glaube ich kaum. Ich habe übrigens immer noch Hunger, komm schon, wenigstens ein Leckerli!“
„Nein, mit zwanzig. Hör auf zu betteln, so etwas macht man nicht. Andere Hunde sind Filmstars und retten Leben, Bernhardiner zum Beispiel. Nimm dir mal an denen ein Beispiel!“
„Du willst also, dass ich tierisch haare und sabbere? Kannst du haben. Außerdem fressen Bernhardiner auch viel mehr. Und sie stinken!“
„Jetzt lenkst du vom Thema ab. Hier hast du eine Kaustange. Mal ehrlich, soll das die nächsten 10, 15 Jahre so weitergehen? Wozu waren wir denn bei der Hundeschule?!“
„Ich wollte da nicht hin! Mich hat ja keiner gefragt. Mich fragt ja sowieso nie jemand! Es heißt immer nur sitz, platz, pfui. Und ich finde es nett, dass du schon festlegst, wann ich zu sterben habe. Wieder werde ich nicht gefragt.“
„Nun sei nicht gleich wieder eingeschnappt. Ich weiss, dass du super gut beleidigt tun kannst. Geh doch zum Fernsehen!“
„Jetzt lenkst du aber vom Thema ab! Hast du dir denn auch schon Gedanken darüber gemacht, was du dir für einen Hund nach meinem Tod anschaffst, he? Einen Bernhardiner vielleicht?! Mit denen kannst du so was machen, die sind nicht nur fett, sondern auch blöd!“
„Entschuldige bitte vielmals, Sauertopfgesicht! Aber im Ernst, meinst du nicht das könnte dir Spaß machen? Da triffst du dann auch andere Hunde, mit denen du spielen kannst.“
„Ey weißt du wie mich das nervt?! Immer soll ich mit anderen Hunden spielen. Ich will meine Ruhe haben und den ganzen Tag pennen, verstehst du?! Und weißt du was, Hunde können gar nicht sprechen. Du solltest dir mal `nen Kopf machen, und zwar über deinen Drogenkonsum. Und jetzt lass mich in Ruhe!“
Der Hubschrauber sah gefährlich aus. Gefährlich, weil aus den beiden Seiten riesige Geschütze ragten, gefährlich, weil in den offenen Seitentüren jeweils zwei gepanzerte Soldaten saßen und gefährlich, weil er nur ungefähr 50 Meter über dem Boden schwebte und einen dumpfen Höllenlärm machte.
Die Bäume, die die Straße säumten, bogen ihre Kronen vom Wind weg, und die Fenster in der Einfamilienhaussiedlung vibrierten. Sie klirrten nicht und sie sprangen nicht, nie. Es gab immer nur ein mattes Vibrieren.
„Papa! PAPA!!“
„Ja mein Sohn, was ist?“
„Du sagst mir immer bloß, dass ich mich ans Fenster stellen soll und winken.“
„Genau das solltest du jetzt auch tun, mein Sohn.“
„Aber du sagst mir nie, warum!“
„Doch mein Sohn, ich habe es dir schon tausendmal gesagt: Du sollst winken, damit sie sehen, dass es dir gut geht. Die guten Soldaten passen auf, dass die Kinder alle wohlauf sind, sie beschützen euch.“
„Aber Papa, was ist, wenn der Hubschrauber einmal nicht mehr kommt? Wird es uns dann schlecht gehen?“
„Das wird nie passieren, mein Sohn. Oder hast du schon eine Nacht erlebt, in der sie nicht nachgeschaut haben, ob du in Ordnung bist?“
„Nein Papa.“
„Na also, und jetzt geh schlafen.“
Er wusste beim besten Willen nicht, wie er es seinem Sohn anders erklären sollte. Vor fünf Jahren, ein Jahr nach seiner Geburt, fing es an. Seitdem flog der Armeehubschrauber jeden einzelnen Abend Patrouille in dieser Strasse, immer zwischen zehn und elf Uhr.
Niemand, der hier wohnte, hatte das auch nur mal am Rande erwähnt. Keiner regte sich darüber auf, nicht ein Anwohner dieser Strasse beschwerte sich in irgendeiner Form über die allnächtliche Militärpräsenz. Es wurde als alltägliches Ereignis hingenommen, so wie die morgendliche Tour des Zeitungsjungen. Da wäre er der letzte, der seinem Sohn irgendwelche Flausen in den Kopf setzten würde. Kinder haben schließlich genug Probleme, mit denen sie fertig werden müssen, da sollten sie sich nicht zusätzlich dumme Gedanken um einen blöden Hubschrauber machen müssen, über den sowieso nicht gesprochen wird.
Wie immer, wenn der Lärm abgeklungen und das Kind zugedeckt war, öffnete er eine Flasche Wein. Wie immer, seitdem er alleine war, würde er für zwei trinken, mindestens. Und wie immer überlegte er, sich einen anderen Job zu suchen. Jeden Abend die gleichen Gedanken, jede Nacht der gleiche Absturz und jeden Morgen die gleiche Resignation, auf dem Weg vom Kindergarten ins Büro: Er würde hier nicht rauskommen. Sein Sohn vielleicht, aber er nicht.
Ich versuche, möglichst unbedarft auszusehen, als sie mich nach einem Geldschein fragt. Obwohl ich genau weiss, was kommt.
„Ich hab ’nen Fünfer oder ’nen Zwanziger“ sage ich.
„Nimm den Zwanziger, macht sich am Besten!“ empfiehlt der Chemiker und klopft an das Glasröhrchen. Ich gebe ihr den Schein, er gibt ihr das Röhrchen.
„Und du willst da echt nix für haben?“ fragt sie noch, bevor das weiße Pulver durch meinen Zwanziger in ihrer Nase verschwindet.
„Nicht doch, nie. Ist noch von letzter Woche übrig, diese Woche hab ich eh schon Neues gemacht, kein Thema.“ antwortet er.
„Ah ja“ mische ich mich wieder ein, „so Walter White-mäßig, was?“ Frage ich ihn, nicht ohne die Erklärung nachzuschieben, dass ich diese Serie noch nie gesehen hätte, aber dank des Internets die ganzen Memes dazu kenne.
„Genau!“ antwortet der Chemiker, „und das hast du echt noch nie gesehen? Musst du unbedingt machen, wirklich Klasse! Der Stoff ist natürlich die Hölle, da ist das hier Kindergarten gegen. Willst du auch?“ Die Frage ging an mich, ich lehne dankend ab.
„Hab ich mir gedacht“ sagt er lächelnd, und, and sie gerichtet: „Und?“
„Krass, man schmeckt wirklich kaum was.“
Ich stecke den Zwanziger wieder ein und den Joint wieder an. Sie gehen in die Panoramabar, ich werde nach Hause gehen. Oder doch zu N.? Ihre Einladung steht noch, daran erinnerte sie mich gerade vor einer halben Stunde wieder. In ihrem Tiefkühlfach liegt seit Jahren ein Stück getränktes Löschpapier, das ihr Robert Anton Wilson mal geschenkt hatte. Wäre auch eine Option.
Eigentlich bin ich gar nicht so schlecht im Kickern, ehrlich, das ist jetzt keine Prahlerei. Ich mache das schon eine ganze Weile. Klar, früher war ich viel besser. Da war ich noch jeden Dienstag im Bandito, bis spät in die Nacht. Oder früh in den Morgen.
Damals habe ich sogar an Kicker-Turnieren teilgenommen. Zwar nie gewonnen, aber immer im guten Mittelfeld gelandet, und das bei ziemlich harten Vorrundenspielen. Die, gegen die wir in den Gruppenspielen verloren hatten, kamen meist bis ins Finale.
Aber das ist schon eine ganze Zeit her. Jetzt kicker ich zwar auch noch ab und zu, und ich gehe dafür auch immer noch gerne ins Bandito, aber eben seltener. Man wird halt älter und gesetzter…
Vor kurzem entschieden zwei gute Freunde und Nachbarn von mir, dass sie spontan in den Urlaub fahren wollen. Und ob ich nicht einen Blick auf die Wohnung, den Briefkasten und die beiden Katzen haben könnte? Für die nächsten zwei Wochen?
Kein Problem, ist ja nur ein Stockwerk schräg über mir, und so schlimm sind die Katzen nicht. Und außerdem, das Beste an der Sache war, dass sich in ihrem Wohnzimmer ein ganz vernünftiger Turnier-Kicker-Tisch befand.
Mir wurde ausdrücklich erlaubt, diverse Bekannte einzuladen und den Kicker in Betrieb zu halten. Das hatte einige nette Kleinst-Partys zur Folge, also Veranstaltungen mit den sechs oder sieben Leuten, die es nach dem ganzen Grillzeug und Bier und Tüten noch vom Ufer des Landwehrkanals in die Wohnung geschafft haben. Dabei wurde immer auch ein wenig gekickert, aber hauptsächlich dumm in die Luft gestarrt, weitergekifft und gesagt: „Mann bin ich schon wieder dicht. Und warm ist das heute, oder?!“
Eines Tages ging ich, das Katzenklo musste sowieso sauber gemacht werden, alleine hoch. Ich dachte mir, dass ich ein wenig solo übe, demnächst sollte ein Open-Air-Kickerturnier auf dem Uni-Innenhof stattfinden. Und ich bekam langsam wieder Lust daran. Besonders, weil ich auch bei fortgeschrittener Sinnestrübung im Vergleich mit den anderen noch ganz gut spielte. Oder lag es daran, dass ich meinen Drogenkonsum mal bezüglich des Toleranz-Pegels ernsthaft überdenken müsste?
Egal, ich übte einige Schussvarianten, aus der Deckung, mit plötzlichen Abgaben und all diesen Kram. Als ich gerade dabei war, ausschließlich mit den hinteren beiden Reihen zu spielen, sprang eine der beiden Katzen auf den Tisch.
Ich bin kein grosser Katzenfreund, aber auch kein Katzenhasser. Also dachte ich: gut, die sind eh beide ziemlich allein, nimmst du mal die Herausforderung an. Die Regeln waren, dass ich wirklich nur die hinteren beiden Reihen bewegen durfte, es sei denn der Ball bleibt liegen und die Katze geht nach drei Sekunden nicht an den Ball. Aber keinesfalls einen direkten Torschuss mit der Sturmreihe! Gespielt wird bis sechs, Einwurf in der Mitte und wenn der Ball rausspringt gibt`s Ecke. Zwei Gewinnsätze sind nötig. Der Ball ist erst drin, wenn er nicht wieder rauskommt. Kurbeln ist verboten. Zwei Abstand. Wer zu null verliert, gibt entweder Einen aus oder kriecht unter dem Tisch durch.
Die Katze war soweit einverstanden mit den Regeln.
Nach dem Spiel überlegte ich lange, ob ich wirklich bei dem Open-Air-Kickerturnier mitmachen sollte. Und ich dachte auch darüber nach, ob ich, wenn ich teilnehme, die Katze als Partner mitnehme, sie war im Sturm wirklich gut. Das Ergebnis war 6:3 und 6:4.
In der Alte-Texte-Schublade bin ich fast ganz unten angekommen, rein chronologisch gesehen. Über andere Bedeutungen von „ganz unten“ müssen sich andere Leute Gedanken machen. Jedenfalls: Lange ist es her, es gab noch keine Hipster, aber schon Club Mate. Und man erinnerte sich noch an den Neuen Markt (TM).
29.09.02
Wir waren Kilometer 20. Ich hätte es vorher wissen können. Doch erst als es dann frühmorgens um 7.45 Uhr soweit war, drang es wieder schmerzlich in mein Bewusstsein.
Am Abend zuvor waren wir zum wiederholten Male auf einer Lesebühnen-Poetry-Slam-Veranstaltung. Ich weiß, dass man da eine genaue Trennung vornehmen kann und muss. Aber dieses Mal eben nicht. Die Big Player der Berliner, ach was sag ich, der deutschen wenn nicht gar der europäischen Szene hatten sich versammelt. An einer wirklich hippen Örtlichkeit. Hip deswegen, weil die Location, wie man so sagt, unverbraucht ist. Jeder Veranstaltungsort, ist er noch so gut, wird irgendwann zur Gewohnheit.
Diesmal versammelte man sich in der Backfabrik.de. So stand es tatsächlich in der Zitty. Auf dem Grund und Boden befand sich früher ein DDR-Backkombinat. Der Charme der Geschichte, in Berlin bei der Auswahl des Auftrittsortes immer wichtig.
Die Ossi-Bäckerei wurde geschlossen, schließlich wollten ja auf einmal alle nur noch Fladenbrot essen. Und das muss laut Innungsvorschrift in Kreuzberg gebacken werden.
Kurz nachdem ein verrückter Künstler dann eine Kuh vom Kran in den Hof des ehemaligen Backkombinats geschmissen hat kam der Bagger. Kurz danach, nicht weil. Vorher residierte noch kurz das Casino auf irgendeinem der vielen Hinterhöfe. Und dann wie gesagt die Bagger. Davon sieht man in Berlin inzwischen ja auch viel mehr als Trabbis, zum Beispiel.
Als alle in den neuen Markt, der sich ja jetzt verabschiedet hat, investierten, dachte sich ein geschäftstüchtiger Mann, dass dieser Platz, denkt man sich die explodierten Rinderinnereien mal weg, prädestiniert zum Geld drucken ist. Aber auch das Geld wird ja schon in Kreuzberg gedruckt, in der Bundesdruckerei, also baut man eben die Backfabrik.de.
Nur mit diesem Namen brauchte man damals, als Leute ihr Geld in Firmen wie XYZmedia nur wegen des Wortes ´media´ steckten, zur Bank gehen, und man wurde unter einer Mille nicht rausgelassen. Also Keller erhalten, Gebäude entkernen, Rigipswände einziehen, wireless lan mit einer 800-Meter-Reichweite einrichten und einen hippen Namen mit Ostbezug.
Nun gibt es den Neuen Markt nicht mehr, und somit auch keine Neuer-Markt-Start-Ups, die ihr Head Office hier wirklich passabel hätten eröffnen können.
Doch der Keller war noch da, und gestern in dem selbigen diese famose Veranstaltung. Berlin ist nicht nur mit supertollen Schliemann-sei-Dank-Museen die heimliche Kulturhauptstadt Europas, sondern auch die Subkultur-Hauptstadt. Man kann jeden Tag zu mindestens zwei Lesebühnen gehen, die sich alle, zumindest gefühlt, im Prenzlauer Berg befinden. Und nun war also das Gipfeltreffen, sozusagen.
Nicht nur, dass sich all diese Bühnen einigten und ihre Star-Interpreten losschickten, es gab auch Unterstützung von ganz oben. Zitty, wie schon erwähnt, sponserte den Abend, aber auch Radio Fritz und lcb. Ich dachte mir, dass dies eine subversive Vereinigung dilettantischer Literaten wäre. Immerhin heißt der Szene-Einkaufsladen hier ja auch KGB, was für „Kohlen Gips Bier“ steht. Wovon es aber höchstens Bier dort gibt. Ökologisch gebraut. Und Fahrradanhänger zum Ausleihen. Und Club-Mate.
Aber lcb, was mich irgendwie gleich an ocb denken ließ, steht für literarisches colloquium berlin. alles kleingeschrieben. Aber etabliert. Und die fördern mit ihrem Geld solche Sachen. Wo Leute Ficken sagen. Mehrmals pro Satz. Oder nur als Satz allein. Wo Leute stockbesoffen auf der Bühne stehen, zittern, fast runterfallen, sich nicht mehr artikulieren können. Und das Publikum nimmt dies hin, will es hinnehmen, als Performance, nicht etwa als Realität der Auswirkungen des Giftes Alkohol. Lieber noch schnell einen lustigen Text über spanischen Absinth anhören.
Um zwei Uhr nachts, relativ früh eigentlich, waren wir dann zu Hause. Beim Einparken achteten wir penibel darauf, dass wir das Auto auf unserer Seite der Straße abstellten, die andere Seite war schon komplett gesperrt. Bis auf einen Opel-Astra-Bullenwagen mit innen Licht an total leergeräumt.
Ich musste dann noch mal mit dem Hund runter. Ging über die Straße und fragte die Freunde und Helfer, ob das okay ist, auf unserer Seite zu parken. Ohne ob meiner Alkohol-Fahne oder besser -Flagge stutzig zu werden, sagten sie mürrisch: „Ja, drüben schon.“ und nahmen die St.Pauli-Nachrichten wieder vor die nächtlich aufgesetzte Sonnenbrille. Deswegen also die Innenbeleuchtung. Ich fragte sie, ob sie jetzt hier die ganze Zeit stehen würden. „Na klar, Streckenüberwachung“.
Das war erste Mal, dass mir Vertreter dieses Berufszweigs fast leid taten. Wann es denn los gehe, fragte ich. „Naja, wir sind hier fast jenau Kilometer zwanzig, da wern die ersten wohl so jegen zehn kommen.“
Doch inzwischen, und das habe ich eben heute wieder schmerzlich erfahren müssen, laufen beim Berlin-Marathon nicht nur dank modernster Laufschuhtechnik leisetreterige Profisportler samten über den Asphalt. Vorneweg kommen circa 8.000 Rollerblader. Zu schwach auf der Brust um 42 Kilometer zu laufen. Aber laut genug, um mich mit einem Höllenlärm-Surren zu wecken. Um 7.45 Uhr.
„Und dann haben die mir erzählt, dass diese eine Reporterin da…“
„Katrin Müller-Hohenstein..“ Es gibt schliesslich gerade nur eine weibliche Reporterin da, soweit reicht mein Fussball-Sachverstand.
Mein Nachbar, der unamerikanischste Ami, den man sich vorstellen kann, war dankbar für das verbale Unter-die-Arme-greifen. Auf den Namen wäre er nie gekommen, meinte er, ausser wenn es um Loriot-Zitate gegangen wäre vielleicht.
„Genau, Müller-Hohenstein. Also, die haben mir erzählt, dass die mal…“
„Innerer Reichsparteitag“ sagte ich. Unterbreche ich meine Gesprächspartner eigentlich zu oft?
„GENAU!“ Mein Nachbar schien ehrlich empört. Zur Abwechslung probierte ich es mal mit Zurückhaltung und schwieg. „Wie kommt man denn auf sowas?! Und wieso arbeitet die noch da? Ich meine, die ist doch höchstens 45, wie kommt die auf SOWAS?“
Ich versuchte mich in Erklärungen. Erzählte irgendwas von männerbündnerischen Lokalblattsportredaktionen, in denen solche Floskeln bis in die 80er wohl zum Basisvokabular gehörten und wo Frauen es wahrscheinlich sowieso nicht leicht hatten, sich ihre ersten Sporen zu verdienen. Nebenbei streute ich die Schalke05-Anekdote ein und berichtete von Anne Wills Anfängen – aber: Eine Antwort konnte ich ihm nicht geben.
(Der Vollständigkeit halber; oder wie man Literatur beim Entstehen zuschauen kann: Als Otto Sperber noch keinen Namen hatte.)
Früher hingen hier in den Hinterhöfen Schilder wie „Betteln, Hausieren und Ballspielen verboten“. Früher gab es hier Großfamilien mit Berliner Schnauze und wenig Geld.
Heute würde kein Mensch daran denken, hier Ball zu spielen. Dafür gibt es Parks. Schließlich spielt ja auch kein Kind mehr im Rinnstein, jedenfalls wohl nicht mit Zustimmung der Eltern.
Aber es gibt trotzdem noch einiges zu sehen. Das vermitteln jedenfalls die beiden Frührentner im vierten Stock, die jeden Tag von 9 bis 13 Uhr und von 20 bis 21 Uhr ordnungsgemäß ihren Platz einnehmen. Der ist auf dem Fensterbrett, Vorderhaus, dort wo die Kissen liegen. Wäre der vierspurige Straßenlärm nicht so laut, dann würden Sie bestimmt ab und zu auch mal eine Zurechtweisung brüllen, so was wie „Mann, Steppke, wie alt bist du denn? Weeß deine Mutter eijentlich, dit du roochst, oder soll ick ehr mal Bescheid sahgn?“
Doch die beiden Alten haben Glück, dass der Verkehr so laut ist. Denn die Zeiten haben sich geändert, die Antwort auf diese Frage würde wohl der eilends herbeigeholte große Bruder des Steppkes geben, der innerhalb weniger Minuten dank eines 3er BMWs jedem seiner Familienmitglieder sehr schnell zur Seite stehen kann. Und die Antwort würde nicht sehr nett ausfallen und irgendwas mit „Willst du Ärger oder was?“ zu tun haben.
Also sitzen sie stumm am Fenster. Im Gegensatz zu anderen Bewohnern dieser Straße. Wenn man spät abends, wenn nur noch wenige Autos fahren, manchmal hier lang geht, dann hört man jemanden Kontrabass spielen, auf dem Balkon. Vielleicht übt er ja für seine Arbeit: Hier in der Gegend wohnen keine Sinfonieorchestermitglieder, eher einer der U-Bahnmusiker. Bald wird die BVG die kompletten Flohmarktbestände der Betteln-und-Hausieren-Schilder aufkaufen und an ihre Waggons pappen.
Ab und zu fallen ein paar Brocken Putz von der Fassade des Hauses. Fünf Stunden später wird dann der Bürgersteig gesperrt. Sicher ist sicher, vielleicht rutscht ja jemand auf den Putzstücken aus. Als Zeugen, so was wird polizeilich aufgenommen, stehen die beiden Frührentner gerne zur Verfügung. Andere Leute beschäftigen sich lieber mit ihren Balkonpflanzen, wenn auch mit interessiertem, auf der Autobahn geübten Schaulustigen-Seitenblick.
Wenn man schon immer im Biomarkt einkauft, bekommt man irgendwann das Bedürfnis, selbst was zu tun. Also kann man ja wenigstens ein bisschen Petersilie, Schnittlauch und – Achtung, darf auf keinen Balkon fehlen – Basilikum anbauen. Man tut was man kann, und irgendwie schmeckt der glückliche-Büffel-Büffelmilch-Mozzarella mit dem selbstgezogenen Basilikum auch viel besser als mit dem von Kaisers, der auch immer sofort nach dem ersten Blätterabzupfen eingeht. Vielleicht hat dieser besondere Geschmack ja aber auch was mit den schätzungsweise 30.000 Autos zu tun, die hier täglich langfahren.
Wer auf Basilikum mit Mozzarella abfährt, der ist gemeinhin auch Experte, was die Crema betrifft. Früher konnte ein stinknormaler deutscher Filterkaffeehersteller sein Produkt noch „Krönung“ nennen. Heute würde das als Scherz aufgefasst werden, im besten Falle. Heute gibt es ernsthafte Überlegungen, die Herstellung von Filtertüten ganz einzustellen, weil diese Art von Kaffeezubereitung hipnessmäßig nur noch in Bahnhofskneipen durchgeht.
Espresso, Lavazza, Macchiato, Latte, Capuccino. Wieso immer Italien? Weil Crema so geil klingt? Eine richtige Crema kann man übrigens nicht weg rühren. Da sind die wichtigsten Stoffe drin. Und ihre Konsistenz ist natürlich ganz von der Sorte der Bohne abhängig. Dieses Wissen wird vorzugsweise in Bordmagazinen verbreitet.
Die Frührentner finden Espresso zu bitter und Mozzarella labberig und nichtsschmeckend. Bei ihnen liegt eher ein Harzer Roller im Kühlschrank. Wenn sie mal über eine Crema diskutieren, dann geht es eher darum, dass er meint, es hätte heute morgen, als er pisste, ganz schön geschäumt.
Das hört sich hart an, ist aber die Wahrheit. Und wahr ist auch, dass es die Mozzarellafresser vor gar nicht allzu langer Zeit ziemlich trendy fanden, die Geheimnisse des Morgenurins auf eine ganz andere Art zu erkunden.
Früh am Morgen, eigentlich noch mitten in der Nacht, ist der junge Dichter mit dem blumigen Namen aufgestanden und hat sich einen Kaffee gekocht, der in Wirklichkeit ein Espresso war, aber für sich allein kocht man ja keinen Kaffee mit der Maschine. Und der Espressokocher machte praktischerweise nun mal nur eine Tasse. Dann ist er zum Bahnhof gegangen und mit dem Zug lange gen Süden gefahren.
Am Ziel setzte sich der junge Dichter auf den ihm zugewiesenen Stuhl und wartete. Er war als letztes an der Reihe an diesem Tag, aber der Anstand gebot es, auch allen anderen zuzuhören. Natürlich durchschaute er die Geschehnisse schnell: Es war das klassische guter Cop – böser Cop-Spiel. Wahrscheinlich würden sie nach der Mittagspause die Rollen tauschen. Zur Zeit oblag es jedoch noch der unansehnlichen Helvetierin, Äußerungen zu tätigen wie: „Das ist für mich keine Literatur, weil es zu sehr bemüht ist, Literatur zu sein.“
Seine Leidensgefährten wurden nach und nach abgefrühstückt, es wurde Bedeutungsschwangeres geredet und Bedeutenderes geschwiegen. Es fielen Sätze wie „Ich kapituliere vor dem Text, und damit bin ich noch schlechter dran als die anderen, die ihn nur nicht verstehen.“ Flugs erstellte man eine Hitliste der beliebtesten literarischen Stoffe der Gegenwart. An deren Spitze tummelten sich Fahrerflucht, Unterwäsche und mystische Tänze auf abgesperrten Kuhweiden.
Als der gute Cop mit den Worten „Wir müssen nun mal den Wahnsinn nehmen, der uns geboten wird, und können uns keinen zusammenspinnen“ beschützend seine Hände über einen Bewerber hielt, dämmerte der junge Dichter schon längst vor sich hin.
Er war sich seiner Sache keineswegs sicher – das war er nie gewesen, doch bisher brauchte er keine Sicherheit, weil ihm dieser ganze Kram nichts bedeutete. Doch langsam überkam ihn ein Gefühl der Unwürde. Dieser Text? Auf dieser Veranstaltung? Bei diesen Juroren?
Als Kind war der junge Dichter derjenige, der immer volle Kante in die Fresse bekam. Nicht von den Sportlern und denen, die schon mit 11 ½ anfingen, zu rauchen. Nein, die waren damit beschäftigt, die Streber zu verprügeln. Er aber wurde von den Mädchen verprügelt, oder von den Strebern, wenn ihnen mal Zeit gelassen wurde. Der junge Dichter war kein Streber, er war ein Sonderling.
Die Streber wandten sich von ihm ab, als er bei den regelmäßigen Nachwuchs-Klugscheissertreffen mit abwegigen Vorschlägen auf sich aufmerksam machte. Sie stellten seine Duldung ein, als er meinte, man könne doch mal eine Runde Scrabble spielen, aber nur mit Palindromen.
Das war das dunkle Geheimnis seiner Seele. Der junge Dichter war, seit er denken konnte, von Palindromen besessen. Nun hatte er seine Kindheit hinter sich gelassen, und er wurde auch nicht mehr so oft verprügelt, könnte also eigentlich zufrieden sein und weiterleben, bis er zur Bevölkerungsgruppe gehören würde, die selbst ein Palindrom ist. Doch diese Rückwärtslaufenden schlichen sich auch immer wieder heimlich in seine Texte ein.
In seinen Frühwerken wirkten sie noch offensichtlicher, da hießen die Hauptfiguren Anna Susanna und Der Freibierfred. Später schrieb er historische Biographien, in denen Fragen auftauchten wie „Du, erfror Freud?“. Ein Beamtenroman, den er verfasste, behandelte auf zehn langen Seiten den Dienstmannamtsneid, aufgrund dessen die Hauptfigur später strafversetzt wurde und nur noch das Lagertonnennotregal bewachen durfte.
Das Schaffen des jungen Dichters wurde durchaus geachtet, und kaum einer bemerkte die Obsession, von der er befallen war. Wenn jemand über die offensichtlichen Fallen, die er beispielsweise in seinem Indien-Reise-Roman mit dem Satz „Na, Fakir, Paprika-Fan?“ aufstellte, stolperte, dann ging das als liebenswerter Spleen durch.
Schließlich werden ja auch Werke wie das eben gerade von einem seiner Konkurrenten vorgelesene, das vom möglichst vielfältigen Gebrauch eines überdimensionierten Geschlechtsteils handelte, als liebenswerter Spleen gewertet.
Der junge Dichter hatte nie die Kontrolle über die Palindrome. Sie bemächtigten sich seiner und der Texte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Im Laufe der Zeit schlichen sie sich mehr und mehr als stilsichere Wendungen ein. Bei einem kolonialen Roman ist an der Frage „Risotto, Sir?“, gestellt von einem livrierten Diener, erst einmal nichts verdächtig. Bis auf dass sich der junge Dichter ein wenig zu sehr hingezogen fühlte zu der Welt mit den livrierten Dienern.
Sein Verhängnis war, dass ihm in der Korrektur alle Palindrome entgegensprangen und ihn auslachten, da sie ihn abermals ausgetrickst hatten. Er versuchte alles. Trotzdem spielten in seinem Roman, der mit den Worten „Der Paranoide hatte recht, er hatte sehr viele Feinde! Aber wer mochte auch schon mit einem wie ihn befreundet sein?“ begann, seinen Höhepunkt mit der Aussage „Du musst nicht paranoid sein, damit sie hinter dir her sind“ erreichte und mit dem Ausruf „Ich bin nicht paranoid, ich werde wirklich verfolgt!“ endete, auch diverse Neffen, nette Betten und eine erhabene Bahre eine tragende Rolle.
Doch diesmal, so war sich der junge Dichter sicher, hatte er es geschafft. Er war clean, der Text war clean. Sein Wettbewerbsbeitrag war palindromfrei, wenn auch nicht unbedingt leicht verständlich.
Der junge Dichter mit dem blumigen Namen wurde aus seinem Dämmerzustand herausgerufen und aufs Podium gebeten. Er nahm einen Schluck Wasser, faltete das Manuskript glatt, blickte ins Publikum und sprach: „Krawehl, Krawehl“.
Die meisten Journalisten verpassten diesen Moment, da sie gerade draußen beim Rauchen ein Kind interviewten, das ein Seil in der Hand hielt, an dessen anderem Ende ein mittelgroßer Schäferhund befestigt war.
„Meinst du nicht, dass der Hund zu stark für dich ist?“ fragte der Mann vom Kulturfernsehen, der auch in der Raucherpause nicht von seinem Job lassen konnte.
„Quatsch, ich bin doch schon fünf!“
Es regnete. Verdammt viel und schon verdammt lange. Dabei war das hier doch mal mein kleines, perfektes Paradies. Für eine Nacht. Und jetzt regnete es! Wir fuhren den sich durch die Berge schlängelnden Weg entlang. Mussten aufpassen, dass wir mit unserem Citi Golf hier draußen in der Wildnis nicht steckenblieben: der Begriff Straße ist bei dieser Witterung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es ging von einem Gebirgskamm runter in die Lagune, über das, was der Regen aus einer unbefestigten Sandpiste macht.
Zwischendurch hielten wir kurz an, einerseits weil uns ein Truck entgegenkam, und unmöglich zwei Fahrzeuge gleichzeitig die anderthalb schlammigen Spuren passieren konnten. Andererseits, weil man von dieser Ausweichbucht – das wusste ich noch von meinem letzten Besuch – einen unbeschreiblich schönen Blick auf die Lagune und den urwaldhaften Bewuchs des Tales hatte. Damals. Jetzt sah man nur graue Regenschleier, und direkt vor der Nase eine grüne Mauer aus Blättern und Ästen. Der Regen machte einen Riesenlärm auf dem Blattwerk, und von der Lagune sah man regennebelbedingt kein Stück.
Als wir unten ankamen, war nichts mehr da von dem puderzuckerartigem Sand, der indische Ozean war nicht wie gewohnt blauglänzend. Über dem Matsch, der mal Strand war, lag nicht wie sonst der leichte, salzige Dunst, der sich durch das lange Auslaufen der warmen Wellen bildete, sondern ein grauer Vorhang, genauso grau wie sich der Ozean heute gab. Die riesigen Schieferbrocken, die aus dem Wasser ragten, hoben sich jetzt nicht mehr mattschwarz hervor, sondern versanken im grauen Einheitsbrei.
Das fing ja schon mal scheisse an. Da konnte ich auch nicht mehr damit punkten, dass der Backpacker, in dem ich unsere Übernachtung geplant hatte, einen ziemlich netten Pool hatte. Dort angekommen, wieder über moddrige Wege, die dem Leihwagen alles abverlangten, merkte ich, dass Einsamkeit je nach Wetterlage bewertet werden kann: Strahlt die Sonne, ist eine abseits gelegene Unterkunft mit Pool und Affengebrüll aus dem benachbarten Wald zum Sonnenuntergang sehr schön. Wenn es allerdings wie jetzt regnet, dann ist nicht nur der Himmel grau, sondern auch die Gesichter der Backpacker-Angestellten. Es waren andere als im letzten Jahr. Wir bekamen für viel weniger Geld viel mehr Raum. Nicht ein Zimmer, sondern ein ganzes Häuschen, mit eigener Küche und Bad. Doch was bringt das, wenn das Wetter schlecht ist?
Wir waren fast die einzigen Gäste. Drei Bungalows weiter verbrachte eine einheimische Familie ihren Urlaub. Scheinbar schon länger, und scheinbar war das Wetter hier auch schon länger so. Denn ihre Laune liess sich sehr gut mit der eines Durchschnittsehepaares in der dritten Urlaubswoche an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste vergleichen – die Spiele sind alle durchgespielt, die Bücher zerfleddert und die Klamotten so durchnässt, das man beim besten Willen keine Fahrradtour mehr machen konnte. Und die Kinder brüllten.
Als uns dann auf Nachfrage mitgeteilt wurde, dass aus verständlichen, kapazitätstechnischen Gründen – mehr Kapazitäten da, als genutzt werden konnten – die Bar heute Abend nicht aufmachen würde, wurden wir ratlos. Es gelang uns, zwei Sixpacks aus dem Kühlschrank käuflich zu erwerben. Aber es war erst 3 Uhr nachmittags. Als um zehn nach vier von dem ersten Sixpack nur noch die Papphülle übrig war, die man in besseren Zeiten als Krone verwendet hätte, war uns klar, dass wir ein Problem bekommen würden. Schätzungsweise um zwanzig nach fünf.
Also setzten wir uns in den geschundenen Citi Golf und schlitterten die 20 Kilometer zurück zur Fernverkehrsstrasse. Jetzt machte sich die Abgelegenheit wieder schmerzlich bemerkbar. Wir dachten, dass wir an der Abzweigung einen Liquor-Store gesehen hätten. Als wir dort ankamen, sahen wir zwar auch ein Castle-Werbeschild, aber über dem verrammelten Laden hing eine Tafel mit der Aufschrift „Nursery“. Das konnten wir uns nun gar nicht zusammenreimen. Mit den uns eigenen Sprachkenntnissen kamen wir nur auf Krankenschwester. Eine Schwesternschule, finanziert durch Bierreklame? Die Laune stieg bei dieser Überlegung, auch weil wir auf der Suche nach einem Wörterbuch im Handschuhfach noch ein paar Batzen schon längst verloren geglaubtes Gras wiederfanden.
Beim Eintreffen auf dem Hof unserer Herberge hatte sich die Farbe des Autos von schmutzig weiss endgültig in gleichmäßig rotbraun verwandelt.Wir klopften die Angestellten aus ihren Schlechtwetter-Fernsehcouches und verlangten nach mehr Bier. Sie gaben uns noch zwei Sixpacks, meinten dann aber, dass dies das letzte für heute wäre, da sie nachher nicht mehr da wären. Kein Problem für uns!
Baumschule. Nursery heißt Baumschule. Das erklärte zwar immer noch nicht, warum drüber eine Bierreklame hing, war aber moralisch nicht mehr ganz so bedenklich. Wir wechselten uns mit dem Rollen ab. Es regnete immer noch, und es machte nicht den Anschein, als ob sich das mittelfristig ändern würde. Nach einiger Zeit, inzwischen verschwand das monotone Trommeln der Tropfen im Subtext der anderen kosmischen Geräusche, hatten wir alle Ecken unseres Bungalows gründlich untersucht. Es gab hier wirklich nichts, was dem kurzweiligen Zeitvertreib dienen könnte. Nicht mal ein Jenga-Spiel. Und das Bier wurde trotz bedächtig-sparsamen Verzehrs auch wieder knapp. Das Gras zum Glück nicht.
Wir saßen unter dem Vordach auf der Miniterasse und fingen an, uns zu langweilen. Dann fiel, wie in dieser geographischen Lage so üblich, die Sonne plötzlich vom Himmel. Wir diskutierten darüber, wie man korrekterweise das Wort Dämmerung in die lokalen Sprachen übersetzen würde, denn so etwas gibt’s hier ja nicht, und was es nicht gibt, dafür wird es ja auch logischerweise kein natives Wort geben.
Da wir im Dunkeln den Regen nicht sahen wurden wir mutiger und entschlossen uns, das Wagnis aufzunehmen und zum Kühlschrank in der offen zugänglichen Bar zu pilgern, um zu schauen ob dort nachts Selbstbedienung herrscht. Oder ob Mr. Leathermen uns den Weg zur Selbstbedienung öffnen könnte. Das letzte Sixpack hatte sich gerade verabschiedet, doch verhalf es uns immerhin noch zu guter Laune und Unternehmungslust. Schließlich waren wir jetzt so weit, dass wir mit Sixpack-Papp-Kronen durch den Regen liefen.
Die Bar, im Sonnenschein bestimmt schön anzuschauen und aus Wurzelholz selbstgeschnitzt – als ich das letzte mal hier weilte, war sie gerade halbfertig – war wie erwartet offen, der Kühlschrank wie erwartet verschlossen. Und vollkommen unerwartet hatten wir Mr. Leatherman an diesem Scheißstrand bei dem Scheißwetter scheinbar verloren. Mist! Ohne ihn konnten wir das Thema Bier für heute Abend vergessen. Zusammen mit unserer Laune knickten auch die Bierkronen dank des Regens ein.
Wieder zurück in dem Bungalow, vorbei an dem immer noch keifenden Ehepaar, die in ihrer Wohneinheit stritten während die Kinder draußen im Regen mit ihren Koffern vor dem Auto warteten, erkannten wir mit Schrecken, dass uns als einziges Getränk parmalat-Milch zu Verfügung stand.
Nach zwei intensiven Stunden des abwechselnden Genusses von Milch und Gras stieg unsere Stimmung wieder. Wir hatten die Langeweile beim Kragen gepackt und aus dem Haus geschmissen, indem wir mit der dürftigen Bungalow-Ausstattung ein Spiel entwickelten. Die Küche war ziemlich komplett ausgerüstet. Und es gab im Wohnbereich zwei sehr bequeme Ledersessel. Jeder nahm sich eine Gabel, einen Löffel und eine Pfanne. Dann kramten wir je sieben Münzen aus dem Portemonnaie. In den Sesseln versunken, die Utensilien auf den sehr breiten Armlehnen abgelegt, konnte das Spiel beginnen.
Wir stellten in drei Metern Entfernung nahe der Außenwand einen flachen Teller auf den Boden. Dort mussten möglichst alle sieben Geldstücke landen, und zwar pro Durchgang jeweils zweimal mit jedem Wurfgerät – Gabel, Löffel, Pfanne – befördert. Der letzte Versuch konnte mit dem Gerät der Wahl durchgeführt werden. Auf alle Fälle aber musste man im Sessel sitzen bleiben. Das allerdings war für den Zustand, in dem wir waren, keine wirkliche Herausforderung.
Nachdem wir innerhalb von 90 Minuten unser Zielvermögen optimiert hatten und auch genau wussten, wie das Geldstück des Gegners wieder aus dem Teller herausgeschossen werden konnte, verfeinerten wir die Regeln dahingehend, dass das Geldstück, bevor es im Teller landet, die angrenzende Wand berühren musste. Das brachte uns noch mal zwei Stunden äußerste Kurzweiligkeit. Und als wir dann schließlich auch jeden Trick bei jedem Wurfgerät beherrschten, war es spät genug, um ohne Bedenken und Rechtfertigungen ins Bett zu fallen.
Am nächsten Morgen, als wir schon kurz nach dem Frühstück in allerwärmster Umschmeichelung der Sonne am herrlichen menschenleeren Strand der Lagune lagen, schworen wir uns, nie jemandem von diesem peinlichen, wenn auch sehr amüsanten Spiel zu erzählen. Manchmal, wenn ich alleine zu Hause bin und der Regen an die Fenster schlägt, dann trainiere ich heimlich. Zur Motivation habe ich mir die Punkteliste über den Schreibtisch gepinnt.
Anfangs dachte der junge Dichter, er hätte Glück gehabt. Er wurde vom Arbeitsamt offiziell als beschäftigungsloser Schriftsteller anerkannt. Das verschaffte ihm zwar weder Geld noch Ruhm, aber immerhin: ihm stand eine Muse zu.
Und die tat nun auch schon seit gut drei Jahren ihre Dienste. Gut – es war eine vom Arbeitsamt gestellte Muse, die brachte jetzt nicht von heute auf morgen den Literatur-Verdienstorden, aber sie sorgte für einen kontinuierlichen Schaffensprozess, was ja für das schriftstellerische Selbstwertgefühl auch nicht unwesentlich ist.
Doch mit der Zeit begann der junge Dichter, sich in eine Richtung zu entwickeln, die der Muse nicht gefiel. Sie war, wenn man ehrlich ist, ein wenig herrisch und selbstgerecht. Am liebsten wäre sie eigentlich Literaturkritikerin geworden, doch das Arbeitsamt hatte nun mal bloß eine Stelle als Muse frei. Und diese lyrischen Verirrungen, die ihr Schützling da in letzter Zeit beging, die passten ihr gar nicht.
Das ließ sie den jungen Dichter auch deutlich spüren. Nachdem er ihr sein jüngstes Werk vorgetragen hatte, setzte er zur Erklärung an: „Weißt du, die Idee dazu entstand, als ich an diesem Laden vorbeiging, dessen Name so lustig war…“ – „Ach halt doch die Klappe“ blaffte sie, „das war eindeutig Schrott! Wenn du anfängst, ein Gedicht erklären zu müssen, ist es Schrott.“
Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Der eigentliche Plan des jungen Dichters war, in Kürze ein Lyrikband herauszugeben. Er hatte auch schon alles Nötige in die Wege geleitet, größtenteils. Ihm fehlte nur noch ein Verlag. Er hatte die Schnauze voll von dem ewigen Prosa-Geschreibe. Diese Gattung kam ihm inzwischen so banal vor. Jedenfalls, wenn man wie er ständig übers Ficken schrieb. Das wirkte bei Lyrik irgendwie angenehmer. Er konnte es jetzt gar nicht haben, dass ihm die Muse da in die Quere kam und sein Schaffen misskreditierte.
Sie musste weg.
Am nächsten Morgen ging der junge Dichter in eine Drogerie, die ihm aus dunklen Kanälen heraus empfohlen wurde. Dort bekam er unter dem Ladentisch die Pillen, die er brauchte. Er nahm ein paar von den bunten Dingern, und für 48 Stunden war er jeglicher Kreativität beraubt.
Der junge Dichter wusste, dass die Muse diese lange Versorgungsunterbrechung nicht überstehen würde. Und wirklich, als er danach das erste mal wieder einen kreativen Gedanken fasste, hörte er keine Stimme mehr, die ihm dazwischen redete. So konnte er in den nächsten Wochen unbesorgt seinen lyrischen Trieben freien Lauf lassen. Er schaffte es sogar, von dem Lektorat eines mächtigen Verlags vorgeladen zu werden.
Nachdem er ein paar Kostproben vor dem Gremium rezitiert hatte, baten ihn die Herren, noch einen Bewerbungsbogen auszufüllen. Gefragt waren Standards a lá „Geburtsort“ oder „Datum der ersten Inspiration“. Der junge Dichter machte alle verlangten Kreuzchen und Angaben und bedankte sich bei den Selektoren.
Zu seiner großen Überraschung kam bereits nach fünf Tagen ein Schreiben: „Sehr geehrter junger Dichter, wir freuen uns sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass wir beabsichtigen, Sie in unser Programm aufzunehmen. Wir sind der Meinung, dass damit nicht nur Ihnen, sondern unserem gesamten Gemeinwesen gedient ist. Um den Vertragsabschluss komplett zu machen, müssen Sie lediglich an den angekreuzten Stellen unterschreiben und den letzten Quartalsbericht ihrer Muse anheften. Mit freundlichen Grüssen!“
Da war sie wieder. Der junge Dichter hatte sie längst erfolgreich verdrängt, er wusste schon gar nicht mehr, dass er mal eine Muse hatte. Jetzt aber holte sie ihn wieder ein. Gleich am nächsten Morgen ging er pflichtbewusst zum Arbeitsamt, um einerseits eine Muse als vermisst zu melden, und anderseits den nahezu perfekten Vertragsabschluss anzuzeigen. Dort würden sie ihm bestimmt auch einen Musen-Ausfallsschein ausstellen können.
„Junger Mann, so geht das aber nicht!“ begann die Dame hinter dem großen Schreibtisch ihre Predigt, „Sie hätten den Verlust ihrer Muse schon vor zwei Monaten anzeigen müssen! Wir stellen ihnen ja hier nicht die Mittel zur Verfügung, damit sie sie nach Belieben verschleudern. Dafür opfert sich das Gemeinwesen nicht auf, damit die Künstler dann so leichtsinnig mit ihrer Aufgabe umgehen! Den Vertragsabschluss können sie vergessen, dafür gebe ich ihnen keine Ausrede-Dokumente.“
Nach dieser Standpauke drückte die Verwaltungsbeamtin einen Knopf und der junge Dichter mit dem blumigen Namen wurde abgeführt und dem zuständigen Steinbruch übergeben.
Ich war fast siebzehn, es war Freitag und ein Mädchen aus der Parallelklasse hatte sturmfrei und lud alle dazu ein. Einem weiteren legendären Wochenende in der ewig scheinenden Jugend schien also nichts im Wege zu stehen – auch, weil an diesem Abend die Anderen von der Skifahrt zurückkommen sollten.
Die sturmfreie Bude war eigentlich eine alte Kapitänsvilla mit Blick auf den Sund, das Mädchen dazu eine hübsche, leicht ausgeflippte Arzttochter mit wirklich kastanienfarbenem Haar und wir waren das, was solch eine Stadt an Punks, Hippies und sonstigen Alternativen – oder wie man hier mehrheitlich zu uns sagte: Zecken – zu bieten hatte.
Am späten Nachmittag begannen wir mit ein paar Haschkrümeln und Bieren den Abend einzuläuten und machten uns langsam auf den Weg zur Party. Viel war noch nicht los, nur die Mädelsclique der Gastgeberin war schon da, um alles schön vorzubereiten und zu dekorieren, was später – wie auf Teenagerpartys üblich – vollgekotzt, umgeworfen oder mit klebrigen alkoholischen Getränken überschüttet werden sollte.
Wir machten es uns im Raucherzimmer des Vaters bequem, dort gab es eine gut sortierte Hausbar, interessante Bücher und einen kleinen 37er Fernseher. Die Stimmung brauchte gar nicht lange, um in Gang zu kommen, auch weil der Oberkiffer mit seiner doppelt gekühlten Bong kurz darauf eintraf. Wir wussten, dass er die nur mitnahm, wenn er auch genügend Gras dabei hatte. Das sollte übrigens seine letzte Party für eine lange Zeit werden: während wir unser Abi schrieben, verbrachte er als erstes Drogenopfer unserer Stufe die Tage in der Geschlossenen, mit Meerblick immerhin. Das Scheisssynthetikzeug war schuld.
Es versprach also, ein großartiger Abend zu werden. „Hamburg lässt grüßen!“ sagte der Oberkiffer, wedelte dabei freudestrahlend mit dem prall gefüllten Grasbeutel und begann, den ersten Kopf zu stopfen. In den nächsten Stunden bewegten wir uns nicht aus dem Raum, es sei denn, um Getränke zu holen oder wegzuschaffen. Wir quatschten Blödsinn, der natürlich unglaublich tiefsinnig, philosophisch und weltverändernd war. Manchmal lasen wir dazu ein paar passende Sätze aus den klugen, in Leder gebundenen Klassikern, aber eigentlich lachten wir die meiste Zeit: über die Comics im Fernsehen oder über uns. Wie solche Partys halt in diesem Alter so sind.
Die Gastgeberin und viele, viele andere Besucher schauten ab und zu mal bei uns vorbei, einige für länger und ein, zwei Köpfe, andere nur zum Kopfschütteln. Schließlich meinte die Hausherrin: das ist hier eine Party, also bitte auch Musik!
Nun war das Raucherzimmer zwar umfangreich ausgestattet, aber eine HiFi-Anlage gab es darin komischerweise nicht, nur ein Kofferradio für die Bundesligakonferenz. Doch das war kein Problem, wir schalteten einfach einen der Musiksender im Fernsehen an, wo damals wirklich noch Musik lief, und zwar gar keine schlechte, für unsere Zwecke jedenfalls. Mal lief es nebenbei zur Untermalung, mal drehten wir voll auf, wozu dann dem Rausch- und Lärmpegel entsprechend getanzt wurde. Wir amüsierten uns allesamt prächtig, es waren noch ungefähr zwei Stunden hin, bis der Bus aus Harrachov ankommen sollte.
Doch mit dem Amüsement war es ganz schnell vorbei, als die Musik jäh unterbrochen wurde: Sie hätten Kurt neben einer Schrotflinte gefunden, sagte der englische Musiknachrichtensprecher. Eine Ewigkeit von fünf Minuten schalteten wir alle Musik- und Nachrichtensender, die das Kabelnetz hergab, durch – bis wir es irgendwann schliesslich glauben mussten. Zwei oder drei Leute begannen zu schluchzen, andere stierten vor sich hin. Ich rannte brüllend aus dem Haus, in den Garten, wollte im Rasen versinken. Es war doch grad mal zwei, drei Jahre her, dass ich entdeckte, wie grossartig und exakt dieser Mensch meine Befindlichkeiten ausdrücken konnte, das konnte doch jetzt nicht einfach so vorbei sein!
Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht alle Partygäste in den verschiedenen Räumen, Etagen und dunklen Ecken erreicht hatte – auch, weil wir Hiobs etwas brauchten, um ansprechbar und artikulationsfähig zu sein. Auf einmal wich die aufgelöste Stimmung einer bedrückenden Ruhe, selbst bei denen, die nie viel mit dieser Art Musik anzufangen wussten.
Einige wenige begannen dann, leise und vorsichtig weiter zu feiern, wir zogen uns erstmal wieder ins Raucherzimmer zurück, um die Live-Berichterstattung weiter zu verfolgen. Wir waren jetzt ausserordentlich dankbar für das gute Hamburger Gras, drehten jedes verdammte Musikvideo bis zum Anschlag auf und schrien verzweifelt die Texte mit. Ein würdiger Abschied, wie wir fanden, aber irgendwann fiel uns die Decke auf den Kopf und wir mussten raus, brauchten frische Luft.
Da passte es gut, dass die geplante Ankunftszeit des Skifahrt-Busses fast erreicht war. Wir gingen langsam unten an der Promenade entlang zur Schule, still, bis auf ein gelegentliches „“Verdammte Scheisse, das kann doch nicht wahr sein!“ verließ kein Wort unsere Lippen, nur ein paar Rauchschwaden der vorgedrehten Dreiblattjoints. In sicherer Entfernung zum Schultor hielten wir an und schlugen unser temporäres Lager auf, der Bus musste jeden Augenblick kommen. Ein paar Eltern standen an der Strasse, aber bei weitem nicht alle, wir waren schliesslich schon in der Oberstufe. Sich von ihnen in ein Gespräch verwickeln zu lassen war trotzdem das letzte, was wir jetzt brauchten, die üblichen Interesse heuchelnden Allerweltsfragen konnten uns gestohlen bleiben.
Uns genügten die Wellen, die leise plätschernd an die Kaimauern schlugen.
Der Bus kam mit einer kleinen Verspätung um die Ecke bei der Feuerwehr gebogen und wir konnten die uns wichtigen Leute abpassen. Sie hatten natürlich noch keine Ahnung, auf der Fahrt liefen die ganze Zeit Mike Krüger- oder Fips Asmussen-Kassetten. Nach ein paar ungläubig-entsetzten Nachfragen glaubten sie es schliesslich – und doch konnten wir es alle zusammen noch längst nicht fassen. Still und wütend saßen wir auf der Mole, liessen die Füße baumeln und schmissen Kiesel und Kronkorken ins nachtdunkle Wasser.
Bis einer von uns aufsprang, den letzten Schluck aus der Stroh-Rum-Flasche (das übliche Mitbringsel von Skifahrten) trank, sie an die Brüstung warf und „Da müssen wir doch was machen!“ schrie. Darin waren wir uns alle einig, nur wussten wir nicht, was. Weil uns nichts Besseres einfiel, griffen wir uns die Farbdosen, die zum Handgepäck der gerade zurückgekehrten Sprayer gehörten. Wir wollten schon lange den Kampf ausfechten, jetzt starteten wir ihn: Der komplette Container, der seit Jahren für die Oberstufe als Provisorium auf dem Schulhof stand, wurde mit Parolen besprüht. In dieser Nacht gab es keinen Morgen mehr.
Als es dann wieder einen gab, wurden die Beweise gesichert und die Verweise ausgesprochen.
Kurt war damals zehn Jahre älter als ich. Jetzt bin ich zehn Jahre älter als er je geworden ist. Niemand konnte die Lücke füllen: Er fehlt. Immer noch. Eigentlich mehr denn je.
Was auch passiert, das (und so viel mehr) wird bleiben:
[Update: Tja, von wegen, jedenfalls was Youtube-Videos betrifft. Aber ich hatte noch dunkel im Kopf, dass ich das gemeinte Konzert früher schon verlinkt habe. Und dieser Link funktioniert noch. Ich pack es noch mal unten rein, mal sehen…]
Schon allein wegen „Bärlauch, Bärlauch, eins, zwei, drei, vier“, „Schau mal da oben, Biofeuerwerk!“ und „Ho-Ho-Holzspielzeug“ gefällt mir das. Aber eigentlich wollte ich nur auf diesen schönen Text von Anne Wizorek hinweisen, die dort den mir bisher unbekannten Reinald-Grebe-Song verlinkte. Da das aber für einen ganzen Blogpost auch irgendwie zu wenig ist, fische ich mal einen halbwegs passenden alten Text aus dem Archiv. Und weil ich mich erst mal wieder verkrümel und es mit der Sonne vorbei sein soll, gibt es sogar noch ein Bild (von 1997 schätzungsweise, ein altes Papierfoto, bestimmt bei einem Schlecker entwickelt; gibts beides nicht mehr) als Bonus: Meine Prenzlauer-Berg-Wohnung, relativ frisch nach dem Einzug. Von wegen:
„Das weiß doch keiner mehr, wie das hier noch vor 20 Jahren
Ausgesehen hat, ausgesehen hat, ausgesehen haaat!“
Schönhauser Allee
01.03.03
Am Aktionstag der BVG zu ihrem 100. Geburtstag entschloss ich mich, mal in die Schönhauser Allee zu fahren. So ganz bewusst. Denn genau wie viele andere touristische Sehenswürdigkeiten Berlins hatte ich die Schönhauser Allee unter diesem Gesichtspunkt noch nie bewusst erlebt. Sicher, ich war schon öfter da, mein Zahnarzt liegt ganz in der Nähe, aber wenn Wladimir Kaminer erfolgreich ein Buch über diese Strasse schreibt, muss da doch mehr dran sein, oder?!
Der Geburtstag der BVG wurde in Form von vermeintlicher Kunst sichtbar. Zu ihrem Ehrentag, den sie ein ganzes Jahr lang feierte, wurde die Innenbeleuchtung der U-Bahnen den jeweiligen Farben ihrer Linien auf dem Fahrplan angepasst. Praktisch bedeutete dies, dass die Waggons der U 2 in einem halbseidenen Rot erleuchtet waren. Als ich im Dunkel des Alexanderplatzes einstieg, dachte ich erst, die BVG erfüllte zu ihrem Geburtstag die Wünsche ihrer BZ-lesenden Passagiere und es gibt jetzt neben der Party-Tram und dem Stammtisch-Bus auch die Puff-U-Bahn.
Aber zum Glück fuhr die Bahn ja größtenteils oberirdisch, so dass die Beleuchtungs-Belästigung nicht allzu schlimm war. Und ausserdem: Schließlich hätten die Berliner Stadteisenbahner diese kunstvolle Idee (ausgedacht übrigens von einem Weißsee-Absolventen, wie eine Infotafel in den Abteilen informierte) auch in der U 1 umsetzen können, was zu einer giftgrünen Innenbeleuchtung geführt und garantiert unangenehme Körperreaktionen hervorgerufen hätte.
Ich stieg direkt am Bahnhof Schönhauser Allee aus. Sicher, die Station Eberswalder Strasse hatte auch einiges zu bieten, den ständig laut Bob Marley hörenden und egal bei welchem Wetter mitsingenden Gemüseundkramhändler zum Beispiel. Aber ich wollte mir ja den ganzen Straßenzug anschauen, und der fing nun mal schon weiter oben an, interessant zu werden. Wegen der Arkaden zum Beispiel. Das schreibt ja schon Kaminer. Die Arkaden sind direkt gegenüber des Bahnhofs, aus dem ich gerade raus kam.
Und ich merkte, wie verdammt kalt es doch war, da hatte ich mir eigentlich einen blöden Tag für mein Experiment ausgedacht. Sonne zwar, aber bitterkalt. Es war so kalt, dass sogar die hier ansässigen Bahnhofspunks ihre Haare in warmen Tönen gefärbt hatten.
Und als verweichlichter Kreuzberger setzte ich mich zurück in die Bahn und fuhr nach Hause, irgendwie fand ich es sowieso blöd hier. Deshalb habe ich nie die Dostoprimeschatelnosti-Qualitäten der Schönhauser Allee kennen gelernt, und nie werde ich erfahren, dass es in der Schönhauser Allee so dermassen brummt, dass die einzigen Geschäfte, die hier ihren Laden dicht machen müssen, die Bestattungsinstitute sind.
Genaugenommen war das Berliner Nachtleben schuld. Wäre ich gestern nicht so versackt, dann hätte ich heute mit dem Hund rausfahren können und wäre gar nicht am Kanal lang gegangen. Obwohl mir dann einiges entgangen wäre.
Zuerst einmal war das Wetter natürlich wunderbar: Der Herbst wird sowieso viel zu wenig gewürdigt, das war in früheren Zeiten durchaus schon mal anders. Wenn die Sonne noch mild scheint und die Blätter aber schon rostigbunt in Haufen am Boden liegen, dann ist das mindestens genauso toll wie wenn im Frühling die ersten Blumen blühen und es überall spriesst und grünt. Nur, dass sich der Hund mit seiner Fellfärbung in den Laubhaufen viel besser tarnen kann, von dem Spass des kopfüber in sie Hineinspringens ganz zu schweigen. Und auch der Radfahrer wäre mir entgangen.
Ich kreuzte gerade die Prinzenstrasse, stand oben auf der Brücke und genoss den Ausblick: In der Ferne war die Heilig-Kreuz-Kirche in ein atemberaubendes Abendrot getauft, dass es nur zu dieser Jahreszeit und mit viel Glück gibt, und unter ihr schimmerte der Kanal. Der Winter lag bereits in der Luft, ich war vor nicht mal einer Stunde aufgebrochen und jetzt dämmerte es schon.
Als ich meine Schritte Richtung Uferweg lenkte, den Abhang hinab, sah ich ihn von weitem das erste mal: Ein grossgewachsener, hagerer, knochiger alter Mann, der kerzengrade auf seinem schlichten alten Herrenrad sass, ab und an seinen Hut festhielt, damit dieser nicht wegflog, ansonsten aber gemächlich und zufrieden in die Pedalen trat. Auch ich war relativ langsam unterwegs, da der Hund jeden einzelnen Laubhaufen genauestens inspizieren musste.
Je näher wir uns jedoch kamen, desto schneller wurde der Radfahrer. Und desto kleiner und wilder.
Ungefähr bei der Mitte der Steigung kreuzten sich unsere Wege, inzwischen schien der Radfahrer weit jünger als ich, er wirkte frisch und aufgedreht und sass auf einmal auf einem BMX-Rad. Sein Hut war längst verschwunden und ihm klebten ein paar verschwitzte Strähnen des langen vollen Haares in der Stirn. Er trat kräftig in die Pedalen und würdigte mich keines Blickes, seine Aufmerksamkeit lag vollkommen auf der Bewältigung des Anstiegs. Ich blieb stehen, um nach dem Hund zu schauen, wobei ich dank der Tarnfarbe einige Mühe hatte, ihn zu finden.
Sobald der Hund wieder halbwegs an meiner Seite war, liess ich meine Augen dann wieder nach dem wundersamen Radfahrer schweifen. Er war schon fast oben an der Brücke angekommen, inzwischen im Vorschulalter und auf einem Puky-Rad mit Stützrädern fahrend. Dabei umkreiste er lachend eine Gruppe finster dreinblickender Nachwuchsgangster und rief: „Auch ihr werdet es irgendwann verstehen: Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen!“ Dabei läutete er wie wild mit seiner Tigerentenklingel und fuhr nach zwei weiteren Schleifen um die Gruppe wieder in wilder Fahrt bergab. Als er an mir vorbeirauschte, sah er auf seinem Rennrad fast ein wenig wie der junge Jan Ullrich aus.
Natürlich setzte ich meinen Weg unbeirrt fort, in Kreuzberg siehst du so was jeden Tag. Ausserdem hatte ich der alten Pennerin, die weiter vorne wie jedes Jahr ihr Winterlager mit Einkaufswagen und Zeltplanen aufgestellt hatte, versprochen, auf dem Rückweg ein Sterni und einen Kurzen mitzubringen. Und ich halte meine Versprechen. Als wir mit kalten Fingerknöcheln dann das Feierabendbier zusammen tranken und der Hund mit einem Dönerrest aus dem blattlosen Gebüsch kam, erzählte sie mir, dass der Radfahrer dieses Spektakel jeden Abend veranstaltet: „Ick weeß bloss nich, wat der mit diese Sissy Voss hat, der Spinner. Is aber och ejal. Punkt zwölf wird der eh von die Ratten uffjefressen, kannste die Uhr nach stellen.“